INTERVIEW

«Alle meine Filme sind emotional.»

Es ist nur eine Momentaufnahme auf drei Generationen bürgerlicher Existenz, in der uns Michael Haneke in seinem neuen Film Happy End gewahr werden lässt, welche Gewissheiten am Entgleiten, welche Werte am Untergehen sein könnten. Selbst über die Flüchtigkeit jugendlicher Chat-Medien vermag der Filmemacher ein nachhaltiges Unbehagen über und in uns selbst zu generieren. Ein Gespräch mit Michael Haneke.



HAPPY END ist der Film nach Amour, jenem Film, mit dem Sie Ihre allergrößten Erfolge gefeiert haben. Erfolg und Anerkennung bedeuten auch Zustimmung. Man hat Amour auch als „emotionaleren“ Film als die bisherigen bezeichnet. Nun kennt man Sie als einen Filmemacher, der seine Zuschauer gerne in einen schmerzhaften Zustand der Wachsamkeit versetzt und deren Sehgewohnheiten irritiert. War es Ihnen im Buch nach Amour auch ein Anliegen, Ihren scharfen, oft unbarmherzigen Blick auf die Menschen sei es im Familienverband, sei es in der Gesellschaft auf die Leinwand zu bringen?

MICHAEL HANEKE: Es wäre dumm und heuchlerisch zu behaupten, dass mir Zustimmung nicht recht ist. Natürlich freue ich mich darüber. Ich mache Filme ja für ein Publikum. Wenn ich einen neuen Film schreibe, verfolge ich keine Strategie, sondern warte einmal, was mir als nächstes einfällt. Nach Amour schrieb ich zunächst einen anderen Film, der dann aus verschiedensten Gründen nicht realisierbar war. Also musste ich noch einmal neu anfangen und da fiel mir diese Geschichte ein, die ich in HAPPY END erzähle. Amour ist ja auch nicht deshalb das geworden, was es ist, weil ich mir vorgenommen hatte, einen „netteren“ Film zu machen. Alle meine Filme sind emotional. Man sucht für jedes Thema eine adäquate Form. Darin liegt ja die eigentliche künstlerische Arbeit: Geschichten so zu erzählen, dass sie beim Rezipienten auch funktionieren. Diese Form ändert sich je nach Thema. Natürlich mache ich in gewisser Weise immer den gleichen Film, welcher Autor tut das nicht? Dennoch hoffe ich, dass ich mich im Laufe meines Lebens zumindest in kleinen Schritten weiterentwickle. Jedenfalls ist es nicht so, dass ich sage, jetzt habe ich einen „netten“ Film gemacht, jetzt muss ich einen „bösen“ machen. Man weiß ja im Moment, wo man mit dem Schreiben beginnt, gar nicht, in welche Richtung es gehen wird. Vieles ergibt sich auf der Strecke.

 
Caché eröffnet mit einer langen, mit einer Videokamera aufgenommenen Beobachtungssequenz, HAPPY END mit einer mit der Handykamera gefilmten Einstellung, wo ebenfalls jemand aus der Distanz beobachtet wird. Was hat sich in diesen letzten Jahren seit Caché in der Mediennutzung und im Umgang mit dem Bild verändert, das Sie thematisieren wollten?

MICHAEL HANEKE: Die Medien beschäftigen mich seit Bennys Video. Wenn man sich selber in einem Medium bewegt, tut Selbstreflexion not. Seit meinem ersten Kinofilm, was ja gar nicht so lange her ist, ist die Medientechnologie explodiert. Die Welt hat sich in diesen fast dreißig Jahren enorm verändert, die Medien mit ihr, vor allem aber haben die Medien die Welt verändert. Man kann heute kein so genanntes „normales“ Leben erzählen, ohne dass die Medien darin eine Rolle spielen. Das heißt aber nicht, dass ich einen Film über Medien machen wollte. Auch mein ursprünglich geplantes Projekt hatte mit dem Funktionieren von Medien zu tun, einfach deshalb, weil das heute so ist.

 
Dass Sie Ihren neuen Film mit Bildern einer Handykamera eröffnen, mag dennoch eine fundamentale Entscheidung gewesen sein?

MICHAEL HANEKE: Das ist eine formale Entscheidung. Mein oberstes Erzählprinzip ist die Knappheit. Ich will die Geduld des Zuschauers nicht strapazieren, ihn aber durch meine Erzählweise zur Aufmerksamkeit provozieren. Je knapper ich erzähle, desto mehr muss er selber seine Fantasie nützen. Und es interessiert mich, auf einer formalen Ebene auszureizen, was ich alles weglassen und aussparen kann, sodass der Zuschauer maximal aktiviert wird.

 
Man ist mit der Einstiegssequenz von HAPPY END als Zuschauer ganz schon überrumpelt: Noch ist man mit dem Überraschungsmoment des kleinen Bildes beschäftigt, als man schon die Textebene des Chatmodus mitverfolgen sollte und ist sich nicht sofort bewusst, dass man es sogleich mit einer Schlüsselszene zu tun hat.

MICHAEL HANEKE: Es stimmt. Aufmerksamkeit ist angebracht, sonst verschläft man viel. Aber die jüngeren unter uns sind das gewohnt, sie schreiben ihre Nachrichten in atemberaubendem Tempo und sie lesen diese Botschaften schneller, als die Generationen, die nicht damit aufgewachsen sind. Ein dreizehnjähriges Mädchen wie Eve, das sich offensichtlich viel im Internet bewegt, tut das in einem gewissen Tempo, dem man gerecht werden muss. Ich versuche bloß auf der Höhe der Zeit und ihrer Sehgewohnheiten zu erzählen. Man muss sich, hoffe ich, bei diesem Film konzentrieren. Die Eröffnungsszene schafft eine Irritation, was genau geschieht, bleibt letztlich ja offen. Die Sequenz ist übrigens in Snapchat aufgenommen, also in einem Messaging-Dienst, der nur im Augenblick des Schreibens erscheint und auch schon wieder für alle Zeit verschwindet. Man kann ohne Konsequenzen alles Mögliche mitteilen, das fand ich faszinierend, auch, dass Sie jemanden umgebracht haben; weder Sie selbst noch die Ermittler werden dieses Geständnis zu einem späteren Zeitpunkt auffinden. So etwas hat Konsequenzen für die Realität der User.

 
Die Geschichte spielt in Calais, im äußersten Norden Frankreichs, wo sich mit dem Jungle das größte und umstrittenste Flüchtlingslager Frankreichs befunden hat. Was hat Sie veranlasst, an diesen Ort des Nordens, der Extreme, der Grenzen der EU und auch ihrer Werte zu gehen?

MICHAEL HANEKE: Calais ist zum Stichwort geworden für unser aller Ignoranz über das, was in der Welt passiert. Die Handlung von HAPPY END könnte überall in Europa spielen, Calais sticht nur als Extremfall ins Augen. Ich wollte keinesfalls einen Film über Calais oder über Migration machen. Die Verhältnisse in Calais und der Umgang damit sind bloß das Inbild des allgemeinen Autismus. Wir beschäftigen uns mit unserem eigenen Nabel, was um uns herum passiert, interessiert uns nur peripher.

 
Was hat Sie gereizt, nach AMOUR erneut mit Jean-Louis Trintignant zusammenzuarbeiten?

MICHAEL HANEKE:. Ich liebe ihn. Er ist ein ganz großer Schauspieler und er transportiert eine Komplexität in seinem Spiel, die ich von kaum einem anderen Schauspieler kenne. Für mich ist das größte Vergnügen am Filmemachen die Arbeit mit den Schauspielern und dieses Vergnügen wächst natürlich mit der Qualität der Schauspieler.
 
 
In HAPPY END gibt es immer wieder Szenen des manchmal zögerlichen, manchmal unerwünschten Eindringens in Räume/Überschreitens von Schwellen: Rashid in Annes Büro, Ève in den Computer des Vaters, Ève ins Zimmer des Großvaters, Anne in die Wohnung ihres Sohnes Pierre, die Flüchtlinge in die Festgesellschaft. Kann man die Frage, welche Ordnungen wohl erhalten bleiben, welche über den Haufen geworfen werden als die zentrale Fragestellung in diesem Film sehen?

MICHAEL HANEKE: Transgression kommt in jedem Leben ununterbrochen vor. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies in diesem Film unüblich häufiger vorkäme als in anderen meiner Arbeiten. Jede Art von Konflikt, ergibt sich aus einer Form von Überschreitung, das ist ein integraler Bestandteil jedes Dramas. Auch Liebe ist eine Transgression. Ich versuche nur genau hinzuschauen. Indem Pierre die Flüchtlinge auf das Fest mitbringt, provoziert er einen Skandal, der seine Familie das Gesicht verlieren lässt und nötigt, die Situation zu retten. Und zwar durch einen sehr heuchlerischen Akt scheinbarer Gastfreundschaft. Heuchelei ist etwas, was in vielen meiner Filme thematisiert wird. Das heißt aber jetzt nicht gleich, dass HAPPY END ein Film über die Heuchelei einer bestimmten Gesellschaftsschicht ist. Wir alle heucheln und lügen ununterbrochen. Wir sind alle egozentrisch und verlogen und gleichzeitig verletzt und traurig und einsam. HAPPY END ist ein Film, der wie alle anderen Filme von mir darüber reflektiert, wie wir miteinander umgehen, nämlich ebenso acht- und rücksichtslos wie hungrig nach Liebe und bedürftig der Zuwendung. Das Spannende im Drama ist, all diese Widersprüche  sichtbar zu machen, ohne sie zu erklären. Ich denke, Ambivalenz ist dabei wichtig. Jeder von uns hat tausend Gesichter. Wir heucheln ja auch vor uns selbst. Es ist keine Film über Calais. Es ist ein Film über uns.


Interview: Karin Schiefer
Mai 2017
«Die Verhältnisse in Calais und der Umgang damit sind bloß das Inbild des allgemeinen Autismus. »