INTERVIEW

«Wie kann man sich selbst so hellsichtig beobachten und kompromisslos beschreiben?»

Wenige Jahre vor Die Wand schrieb Marlen Haushofer die Novelle Wir töten Stella, in der sie die Umstände rund um den Unfalltod eines jungen Mädchens Revue passieren lässt. Das gutbürgerliche Familienkonstrukt, in dem die 19-jährige Stella für ein Studienjahr Aufnahme gefunden hat, entpuppt sich als gnadenlose Falle, in der jedes Familienmitglied auf seine Weise Verrat an der jungen Frau begeht. Hinter der makellosen Hausfassade ist Martina Gedeck als einsame Mutter und Ehefrau bereits von einer Isolation erfasst, die sie in Die Wand vollkommen von der Umwelt abschotten wird.  Ein Gespräch mit Julian Pölsler über Wir töten Stella, den zweiten Teil seiner Haushofer-Trilogie.
 
 
 
Sie haben 2011 Marlen Haushofers Hauptwerk Die Wand verfilmt. Nun haben Sie mit WIR TÖTEN STELLA eine Erzählung für die Leinwand adaptiert, die rund fünf Jahre früher entstanden ist. Was hat Sie an Marlen Haushofers Texten nicht losgelassen und zu einer erneuten filmischen Auseinandersetzung geführt?
 
JULIAN PÖLSLER: Im Zuge meiner intensiven Beschäftigung mit Marlen Haushofer habe ich entdeckt, dass es drei Texte gibt, die sie in der ersten Person verfasst hat. Die Wand ist der bekannteste, Wir töten Stella ist der kürzeste, kaum bekannter Text, Die Mansarde ist ein später, ebenfalls wenig bekannter Roman. Ich fand es reizvoll, mich dieser Trilogie aus einer filmischen Perspektive zu stellen. Die Kinoleinwand scheint mir persönlich die ideale Plattform, auf der die großartige Sprache Marlen Haushofers angemessen zur Geltung kommen kann. Wir töten Stella war somit der nächste Schritt für mich. Ich hatte im Drehbuchprozess zu Die Wand auch einmal eine Fassung ohne Ich-Erzählerin geschrieben, um dem Vorwurf, zu nahe am Text zu sein, zu entgehen. Das Ergebnis war nicht uninteressant, aber es blieb eine beliebige Geschichte. Tiefe bekommen Haushofers Texte aus ihrer Perspektive und durch ihre wunderbare Sprache.
 
 
Die Wand ist ein Roman, während es sich bei Wir töten Stella um eine Novelle von ca. fünfzig Seiten handelt. Sind Sie in der dramaturgischen Bearbeitung vor einer völlig anderen Aufgabe gestanden?
 
JULIAN PÖLSLER: Ja, absolut. Ich habe zunächst darüber gestaunt, dass die Rechte für beide Texte gleich teuer waren. Wir töten Stella ist zwar 1958 entstanden, ich lese darin sehr Vieles, das nach wie vor seine Gültigkeit hat. Ich habe im Zuge meiner Recherchen unzählige Gespräche geführt und viele Beziehungssituationen entdeckt, wo mir Frauen unabhängig vom Bildungsgrad erzählten, dass sie die Rücksicht auf die Kinder, aber auch die Angst ein soziales Standing zu verlieren, die Angst allein zu sein, daran gehindert haben, aus- und durchzubrechen. Das war für mich überraschend, aber auch das Spannende. Ich musste ja im Vorfeld viele Menschen davon überzeugen, dass die Geschichte auch heute ihre Gültigkeit hat. Ich glaube, dass die Emanzipation als viel weiter fortgeschritten eingeschätzt wird, als sie es tatsächlich ist. Da ist vielmehr der Wunsch Vater des Gedankens. Solange es für gleiche Tätigkeiten unterschiedliche Bezahlungen gibt, ist die Emanzipation nicht angekommen. Marlen Haushofer hat die Passivität, dieses Nicht-Handeln-Können im bürgerlichen Korsett und das Warten schon in den fünfziger Jahren sehr toll beschrieben. 
 
 
Der Titel hat eine sehr befremdliche Zeitperspektive, nämlich das Präsens: „Wir töten Stella“, obwohl Text wie Film in einer Rahmenhandlung als Rekonstruktion angelegt sind. Wie lesen Sie diesen Satz? Als gemeinsamen Beschluss der Familie gegen den Eindringling, als Dokumentation eines Mordes der wissentlich nicht verhindert wird, als Schuldeingeständnis?
 
JULIAN PÖLSLER: Ich habe mir zunächst die Frage gestellt, warum es nicht „Ich töte Stella“ heißt. Man merkt sehr schnell, dass es hier nicht um ein simples „Whodunnit“? geht. Es ist natürlich sehr vielschichtig und tief. Letztendlich haben alle Schuld, nicht nur Anna. Einzig der kleinen Tochter Anette gesteht Anna im Text zu, dass sie schuldlos ist, obwohl sie ihr gar nicht so nahe steht. Das ist meiner Ansicht nach Annas Wink, dass alle – ihr Mann sowieso, aber auch ihr Sohn, den sie so sehr liebt, Mitschuld tragen. Ich hatte von einem Fall gehört, wo ein Jugendlicher seine ganze Familie in der Wohnung inklusive Toilette mit Überwachungskameras ausspioniert hat. Das hat mich inspiriert. Wenn Wolfgang seine Mutter am Ende bittet, dem Vater beizubringen, dass er in ein Internat gehen möchte, dann empfinde ich das als Eingeständnis, dass etwas geschehen ist, das so nicht hätte passieren dürfen.
 
 
Die Form der Rekonstruktion trägt es schon in sich, dass man sich auf ein dramatisches Ereignis zubewegt. Ich hatte den Eindruck, dass  Sie mit Kameraführung und Sounddesign da in den dramaturgischen Mitteln des Thrillers etwas nachgelegt haben? Warum haben Sie sich für diesen Genreansatz entschieden?
 
JULIAN PÖLSLER: Ich habe mir sehr lange den Kopf zerbrochen, wie ich diese Frage lösen soll. Es fiel mir irgendwann ein Satz von Charles Bukowski ein, der sagte: „Wenn du ein Gedicht schreibst, musst du hinter deiner Schreibmaschine sitzen wie hinter einem Maschinengewehr“. Und die Texte Haushofers stellten mich vor die Frage: „Wie schafft es diese Frau, so klar und hart gegen sich selbst zu sein. Wie kann man sich selbst so hellsichtig beobachten und kompromisslos beschreiben? Nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Mann. Wer Haushofers Biografie kennt, weiß, dass Anna sehr viele autobiografische Züge trägt. Natürlich habe ich auch versucht, stilistisch meinem ersten Haushofer-Film, Die Wand, nahe zu bleiben. Daher blitzen nur ganz zart gewisse Motive auf, um meine Bildsprache von Die Wand weiterzuführen.
 
 
Die filmische Handlung, die bei WIR TÖTEN STELLA im urbanen Raum liegt, ist im Gegensatz zum literarischen Entstehungsjahr eindeutig in der ganz aktuellen Zeit angelegt. Warum?
 
JULIAN PÖLSLER: Ich stand bereits bei Die Wand vor der Frage, in welcher Zeit ich meine filmische Adaptierung situiere. Ich entschied schließlich für die Jetzt-Zeit, erlaube mir aber immer wieder so leichte Anklänge an die fünfziger Jahre: z.B. der Mercedes und vor allem die Schreibmaschine. Man bekommt im Film die Original-Schreibmaschine zu sehen, auf der Marlen Haushofer Wir töten Stella geschrieben hat. Die wurde mir von der Nachlassverwalterin Sibylle Haushofer zur Verfügung gestellt. Ich wollte aber, dass Anna nicht nur auf dieser Maschine schreibt, sondern einen Bogen in die Jetztzeit spannen. Deshalb beginnen sich nach und nach die Buchstaben der Schreibmaschine zu verheddern, bis Anna zum iPad greift und darauf weiterarbeitet. Ich bin aus vorher besprochenen Gründen davon überzeugt, dass die Geschichte auch in der Jetztzeit problemlos funktioniert. Die neuen Medien habe ich bewusst eingesetzt, um vor Augen zu führen, dass sie nur eine Zeiterscheinung sind. Die Problematik bleibt.
 
 
Der Film enthält mehrere Verweise auf ihre Verfilmung von Die Wand: Anna starrt ständig durchs Fenster, hat einen Alptraum, wo sie vor einer gläsernen Wand steht. Das innere Verbunden- und gleichzeitig Getrennt-Sein mit der Welt ist offensichtlich nicht erst seit Die Wand ein Thema bei Haushofer.
 
JULIAN PÖLSLER: Wir töten Stella ist ja das Prequel zu Die Wand. Haushofer spricht es im Text bereits an, wenn sie sagt: „In diesen Nächten ist mir das Böse so nahe gekommen, dass ich seinen Gestank und Atem riechen konnte. Und Angst hatte, dass es durch die Wand kommt“. Im Film habe ich an dieser Stelle, wo sie wörtlich von einer Wand spricht, bewusst keine gläserne Wand gesetzt. Es ist eine ganz normale Ehesituation, wo Anna im Bett liegt und sie sich ohne Glaswand von ihrem Mann abgetrennt fühlt. 
 
 
Marlen Haushofer operiert in ihrer Erzählung sehr viel mit Farben. Für eine filmische Umsetzung ein wohl hochrelevantes Stilmittel. Wie sehr versuchten Sie, diesen Einsatz von Farbe auch in den Film zu übertragen? Unterscheidet sich Wir töten Stella in dieser Hinsicht von Die Wand?
 
JULIAN PÖLSLER: Farbe kam auch in Die Wand schon große Bedeutung zu. Ich denke an den hirschroten Hund Lux, den wir damals sehr lange gesucht haben. In Wir töten Stella kommen sehr viele Farbbeschreibungen vor, denen ich sehr treu geblieben bin, bis zum gelben LKW, der, wie Haushofer schreibt, „wie die Sonne auf sie zustürzt und sie ins Verderben reißt“. Oder auch das Blau als Annas Kleiderfarbe, das die Kühle dieser Frau zum Ausdruck bringt, die in sich selbst gefangen ist.
 
 
War es schwieriger, Wir töten Stella zu adaptieren als Die Wand?
 
JULIAN PÖLSLER: Ja. Unerwarteter Weise. Nach dem überraschenden Erfolg von Die Wand, dachte ich, dass es die Kombination Haushofer – Gedeck – Pölsler leichter haben würde, dem war aber nicht so. Es war schwieriger als Die Wand, die Finanzierung durchzubringen, daher war ich auch bereit, so manchen Kompromiss einzugehen, von dem ich nicht weiß, ob es klug war, diese einzugehen. Es war unumgänglich.
 
 
Anna beginnt auf einer Schreibmaschine zu schreiben und wechselt langsam zum iPad. Die Schreibmaschine ist das dominante Geräusch im Vorspann des Films. Wie sehr drängt sich die Autorin Marlen Haushofer/das Schreiben per se immer auch in die Adaptierung des Erzählung?
 
JULIAN PÖLSLER:  Mit welchem Medium schreibt Anna?, war eine der grundlegenden Fragen, die ich mir zu Beginn gestellt habe. Es wird einen letzten Teil der Trilogie geben, damit möchte ich aber eine Weile warten, auch wenn ich das eine oder andere „Andock-Element“ gedreht habe, das für Die Mansarde eine wichtige Rolle spielen wird. Ich möchte aber zunächst an Projekten zu Christine Lavant und zu Robert Seethaler arbeiten. Die Mansarde muss noch etwas unter dem Dach ausharren. Ich glaube, dass auch Marlen Haushofer in diesen drei Texten eine Verbindung gesehen hat und ich habe auch eine Dissertation in Ghent gefunden, die auf die drei Ich-Erzähler-Texte im Besonderen eingegangen ist. Die Off-Texte im Film – alles Originalzitate aus der literarischen Vorlage – , für die ich nicht nur Zustimmung eingeheimst habe, sind ein unumgängliches Element  im Film für mich. Ich stehe dazu. Wenn es mir gelingt, durch meine Filme, ein paar Leute für Haushofers Texte zu gewinnen, dann ist mir etwas Wesentliches gelungen. Es war immer das Los von Marlen Haushofer, im Schatten von Ingeborg Bachmann gestanden zu sein.
 
 
Wie wählen Sie die Textstellen aus?
 
JULIAN PÖLSLER: Ich habe da meine Technik. Zu allererst schreibe ich den gesamten Text mit dem Computer ab. Dann frage ich mich, warum es mich zu manchen Stellen für den Off-Text hinzieht. Dann schaue ich, wo die Erzählung noch Informationen zum inhaltlichen Verständnis braucht. Das war jetzt bei Wir töten Stella viel wichtiger als bei Die Wand. Manche Passagen verwerfe ich, andere greife ich wieder auf. In einem langen Aussiebprozess nähere ich mich der endgültigen Auswahl. Der Text ist dann ein Stein, den man ins Wasser der Gefühle wirft und der dort dann geschliffen wird. Es gibt immer wieder Stellen, wo die Off-Stimme erzählt, was gerade auf der Leinwand zu sehen ist. Ich mag das, weil es mir ein Anliegen ist, dass die Menschen nicht bildlich, sondern emotional dasselbe sehen. Haushofers Sprache ist da ein Trichter, der den Zuschauer in eine bestimmte Richtung lenkt.
 
 
Sie brauchten für die Verfilmung drei Kinder bzw. Jugendliche, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Wie fielen die Entscheidungen? Besonders auf Mala Emde für die Rolle der Stella?
 
JULIAN PÖLSLER: Ich habe sehr lange mit der exzellenten Eva Roth gecastet. Julius Hagg war ein Glücksfall, der mir von Fanny Altenburger, die ich besetzt hatte, empfohlen wurde. Ich suchte nach einem zerbrechlichen Jungen, der auch eine zerstörerische Energie in sich trägt. Für Anette wollte ich ein Mädchen, das auch dem Darsteller des Vaters, Matthias Brandt ähnlich schaut. So wie Julius Martina Gedeck ein bisschen ähnlich sieht. Diese Ähnlichkeiten zum jeweiligen Elternteil war mir sehr wichtig. Den Ehemann wollte ich aalglatt, aber sympathisch. Für Stella wollte ich unbedingt eine Österreicherin, dann aber tauchte Mala Emde auf und hat mich überzeugt. Für ihre Rolle hatte ich nach einer jungen Frau gesucht, die auch zerbrechlich und stark zugleich ist und ebenfalls eine Ähnlichkeit mit Martina Gedeck aufweist. Mit den jungen Darstellern habe sehr viel vorbereitet, mit Matthias Brandt habe ich mich in Berlin getroffen und lange Gespräche geführt.
 
 
Sie arbeiten zum zweiten Mal mit Martina Gedeck. WIR TÖTEN STELLA erzählt auf eine andere Weise vom Innenleben der Autorin. Martina Gedeck hat auch in diesem Film, obwohl er in einer Familie spielt, eine eher stille Rolle. Mit sehr vielen Nahaufnahmen. Worin unterschied sich die Arbeit mit Martina Gedeck bei diesem Dreh?
 
JULIAN PÖLSLER: Martina Gedeck und ich, wir verstehen uns blind. Auch wenn es in Wir töten Stella Dialoge gibt, so bleibt es eine sehr wortkarge Rolle.
Wir töten Stella ist heftiger als Die Wand. In Die Wand hat man immer noch die Möglichkeit, sich in die Natur, in den  Wald, den Himmel, in die Berge, in die Sonne zu verflüchtigen. In Wir töten Stella ist es sehr eng.
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
September 2017
«Der Text ist dann ein Stein, den man ins Wasser der Gefühle wirft und der dort dann geschliffen wird.»