INTERVIEW

«Eine feine Filmgeschichte»

Auch wenn sich Sigmund Freud im Wien von Robert Seethalers Roman Der Trafikant seine Zigarren noch beim Händler um die Ecke holen geht, ist das barbarische Regime der Nazis nicht mehr aufzuhalten. Nur für kurze Zeit ist eine Tabaktrafik für den 17-jährigen Franz vom Attersee ein Tor zur Welt und eine Schule des Widerstands. Nikolaus Leytner hat den Bestseller über das schnelle Erwachen eines jungen Träumers mit Simon Morzé in der Hauptrolle fürs Kino adaptiert.



Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Lektüre von Der Trafikant?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Ich hatte eine Rezension im Radio gehört und habe am ersten Tag des Erscheinens das Buch gekauft und es gleich gelesen. Ich hatte sofort das Gefühl, es mit einer feinen Filmgeschichte zu tun zu haben;  mein damaliger Produzent optierte leider nicht dafür. Umso mehr hat es mich gefreut, als die epo-film mit der Anfrage auf mich zukam, ob ich den Stoff verfilmen wollte.
 
 
Was machte den Roman spontan zu einer „feinen Filmgeschichte“?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Eine Zeit, über die man schon sehr viel im Kino gesehen hat, wird hier ganz anders erzählt – nämlich aus der Perspektive eines jungen Burschen, der zwar neugierig aber völlig naiv vom Land ins Vorkriegs-Wien kommt und diese Zeit ganz subjektiv erlebt. Die politischen Verwerfungen liegen zu Beginn noch eher im Hintergrund, weil sie noch nicht in seinem Blickfeld sind. Das geschieht erst dadurch, dass sein engstes Umfeld unmittelbar betroffen ist. Dazu kam Robert Seethalers Königsidee, eine historisch nicht belegte, aber durchaus denkbare Freundschaft zum weltberühmten Sigmund Freud zu erfinden. Es war der andere Blick auf eine Epoche, die man aus Film und Literatur sehr gut kennt, die mich so angesprochen hat.
 
 
Ist Robert Seethalers sparsamer und gleichzeitig kleinen Details gegenüber sehr wachsamer Erzählstil, einer der einer Adaptierung eher entgegenkommt. Wie filmisch erzählt aus Ihrer Sicht Robert Seethaler?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Im letzten Drittel des Romans passiert das meiste nur noch im Kopf von Franz. Da mussten wir dramaturgisch etwas umbauen. Wie sehr ein vielleicht unbewusster filmischer Blick das Schreiben geleitet hat, kann ich nicht sagen. Tatsache ist, dass die Arbeit an einem Drehbuch, das auch verfilmt und letztlich auch zu einem Roman wurde, Robert Seethaler zum Schreiben gebracht hat und  zum Auslöser für sein fiktionales Schreiben wurde.
 
 
Robert Seethaler, der auch Schauspieler ist, tritt in DER TRAFIKANT als einer der Nazi-Schergen auf, die Otto Trsnjek abführen. Wie sehr bestand auch während des Schreibprozesses ein Austausch zwischen Ihnen und ihm?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Er hat den Stoff grundsätzlich in meine Hände gelegt, hat sich auch nie mit dem Gedanken getragen, selbst das Drehbuch zu schreiben. Mir war aber sein Feedback wichtig und ich habe ihn nach jeder Drehbuchversion miteinbezogen. Wir waren in einem sehr regen Austausch. Es war eine sehr gute, von Respekt getragene Zusammenarbeit.
 
 
Grundsätzlich bleibt die filmische Erzählung sehr nahe am Inhalt. Sie haben auch schon Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame adaptiert. Gehört es zu Ihren Grundsätzen, bei der Adaptierung literarischer Texte sehr nahe am Werk zu bleiben?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Da kommt es darauf an, was man unter Werktreue versteht. Mir geht es darum, das Wesentliche eines Romans oder Theaterstücks in den Film hinüberzubringen. Was den Ablauf der Geschichte betrifft, haben wir uns sehr nahe an der Vorlage orientiert. Ich habe aber auch einige Dinge dazu erfunden, wie z.B. die Tagträumereien von Franz oder auch die Visualisierung mancher seiner Träume. Ich hielt das für filmische Elemente, die es mir erleichterten, aus Franz’ Perspektive zu erzählen und näher an ihm dran zu bleiben. Es ist immer ein Weglassen und Hinzufügen. Mit einem muss man bei einer Literaturverfilmung leben: Man tritt an, um ein Remake von in diesem Fall 100.000en Kopffilmen, die die LeserInnen in ihrer Phantasie gedreht haben. Da muss man seiner eigenen Vision gut vertrauen.
 
 
Mit der Verbildlichung der Träume haben sie einen deutlich kinematografischen Akzent gesetzt, es handelt sich dabei um Träume, die es inhaltlich auch zu erfinden galt. Wie entstanden diese Träume und auch ihre optische Umsetzung?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Die Träume als visuelles Element einzubauen, lag auf der Hand, da eines der drei Rezepte, die Sigmund Freud Franz gegen seinen Liebeskummer verschreibt, darin besteht, seine Träume aufzuschreiben. Natürlich habe ich mich auch mit Freuds Traumdeutung auseinander gesetzt, wenn es mich auch eher skeptisch zurückgelassen hat. Ich habe mich auch von diesem Wissen in der Erfindung der Träume nicht leiten lassen. Ich bin ganz locker assoziativ herangegangen, ohne den Anspruch, den Freud’schen Deutungsansätzen Genüge leisten zu müssen. Es ging schlicht um eine cineastische Überhöhung. Dafür habe ich Elemente aus Franz’ Erleben hergenommen und sie in neue Zusammenhänge gesetzt. Ich denke z.B. an die Arbeiten von Marc Chagall, in denen lauter reale Dinge vorkommen und in irreale Zusammenhänge gesetzt sind. Für die Zuschauer ist es vielleicht eine Anregung, über die Bedeutung nachzudenken. Franz sagt ja selbst, dass er sich nicht erklären kann, wie solche Dinge in seinem Kopf wachsen können.
 
 
Der Trafikant ist ein Roman über das Erwachsen-Werden, über die Monate, in denen die Nazis in Österreich die Macht übernommen haben und es ist ein Film über Sigmund Freud. Wie haben Sie zwischen diesen drei Erzählflächen versucht, Prioritäten zu setzen und auch ein Gleichgewicht zu halten.
 
NIKOLAUS LEYTNER: Es gibt im Film ja mehrere Beziehungsachsen. Otto Trsnjek wird eine Art Ersatzvater für den vaterlos aufgewachsenen Franz. Ich habe im Film auch der Beziehung zur Mutter über die Postkarten-Korrespondenz hinaus mehr Platz eingeräumt und kehre auch optisch immer wieder in die Gegend zurück, aus der Franz kommt, um einen Kontrapunkt zum überkochenden Wien zu setzen. Mit Anezka erlebt er die erste Liebe, die möglicherweise, wie Freud richtig diagnostiziert, mehr mit seiner Libido als mit seinem Herzen zu tun hat und dazu kommt noch die seltsame Freundschaft zu diesem alten Mann. Diese Beziehungsstränge haben immer wieder miteinander zu tun. Eine große Herausforderung lag in der Arbeit von und mit Simon Morzé, dass sich in ihm unter dem Druck der politischen Situation in sehr kurzer Zeit die Wandlung vom Kind zum Mann vollziehen musste und er reif dafür ist – gemäß Freuds Worten – ein Zeichen zu setzen.
 
 
Mit Franz, Sigmund Freud und Otto Trsnjek gibt es drei Figuren, die den Film tragen. Worin lag in den beiden anderen Figuren der Kern, den es herauszuarbeiten galt?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Es handelt sich immer um Beziehungen, die auf einem gegenseitigen Austausch beruhen: Otto Trsnjek ist zum einen der Lehrherr, der Franz das Geschäft des Trafikanten erklärt, zum anderen ist er auch sein väterlicher Freund, der ihn u.a. ermuntert, etwas hartnäckiger an Anezka dranzubleiben, da schimmert auch seine Liebschaft mit Franz’ Mutter durch. Franz lernt auch in menschlicher Hinsicht sehr viel von Trsnjek. Die Freundschaft mit Sigmund Freud ist eine Behauptung, aus meiner Sicht eine sehr gut vorstellbare. Ich habe mich mit dieser Lebensphase von Sigmund Freud näher beschäftigt, auch wenn wir uns in keinem Moment einem Biopic annähern wollten. Ich wollte wissen, was für ein Mensch er in dieser Altersphase war. Er stand selbst Anfang 80 noch immer mitten in seinem Arbeitsleben, gleichzeitig litt er sehr stark an seinem fortschreitenden Gaumenkrebs. Ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der von aller Welt hofiert wird, auf einen so offenen und unverstellten Menschen so reagiert und es auch genießt, mit jemandem auf diese Weise kommunizieren zu können und einmal nicht der weltberühmte „Erfinder der Psychoanalyse“ sein zu müssen. Freud steht natürlich auch für eine alte Welt, die im Verschwinden begriffen ist. Er selbst wollte so lange wie möglich nicht weg. Erst nachdem seine Tochter Anna für mehrere Stunden von der Gestapo verhört worden war, ließ er sich um seiner Kinder willen zur Ausreise bewegen, die dann nur noch möglich war, weil die Pariser Psychoanalytikerin Marie Bonaparte alle Hebel in Bewegung gesetzt hat.
 
 
Über die weiblichen Figuren und ihre Randposition schwingen besonders prekäre Lebensverhältnisse mit, die auch heutige Verhältnisse anklingen lassen. Wie sehen Sie die weiblichen Figuren? Was erzählen sie mit?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Es gab im Prozess der Finanzierung auch einmal eine Absage mit dem Hinweis auf das Frauenbild, das in dieser Geschichte gezeichnet wurde. Franz’ Mutter, die ihren Sohn alleine großgezogen hat, ist für den monatlichen Scheck eines lokalen Magnaten zu sexuellen Gegenleistungen bereit, bei Anezka besteht kein Zweifel, dass sie sich dorthin schlägt, wo sie materiell und später auch politisch ihr Überleben gesichert sieht. Sie hatten beide keine Wahl. Ich halte Franz’ Mutter für eine starke Frau, die sich Gedanken macht, was für ihren Sohn das Beste ist, die ihn nicht zwingt, wie die anderen Burschen seines Alters hart zu arbeiten, sondern ihn (was ihr sicherlich nicht leicht gefallen ist) in die Stadt schickt und so eine bessere Zukunft für ihn erhofft. Ich finde, dass hier mit nur wenigen Strichen am Rande sehr interessante Figuren gezeichnet werden. Anezka macht, was sie tun muss. Ich habe ihre Figur etwas umgedeutet und da auch länger mit dem Autor diskutiert. Ich betrachte die Begegnung zwischen den beiden als weniger pragmatisch; meiner Meinung nach geht Anezka die Begegnung mit  Franz sehr nahe, sie weiß nur, dass diese Liebe angesichts der Lebensumstände keine realen Chancen hat. Sie hat sich vielleicht eher in ihn verliebt als er in sie. Das versuche ich zumindest anzudeuten. Solange es ein wirtschaftliches Gefälle gibt, wird es zu Figuren wie Anezka immer Parallelen zum Heute geben, was aber meine große Hoffnung ist, dass so eine Entwicklung in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht heute nicht annähernd mehr möglich ist.
 
 
Sehr viel Handlung passiert im Inneren der Trafik. Die Trafik, die für alle – von den Schulkindern über den Kommunisten bis zum Professor – etwas zu bieten hat, ist eine von Robert Seethalers kleinen Welten, die er zu erschaffen versteht, um von den großen Dingen zu erzählen. Wie hat diese Welt ihre Form angenommen?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Die Trafik ist in der Tat ein Mikrokosmos, in dem Robert Seethaler alle seine Figuren Spuren ziehen lässt. Ursprünglich hatten wir schon Vieles für das Wien der dreißiger Jahre in Bukarest gefunden. Wenn dann aber eine Finanzierung steht, dann muss das Geld auch in den Regionen der Fördergeber ausgegeben werden. Die Trafik und die Stadt rundherum bauten wir also in den Bavaria-Studios in München, den Attersee haben wir an zwei Südtiroler Bergseen gelegt. Die Trafik musste natürlich durch die drehtechnischen Anforderungen viel größer sein, als es aussieht. Die Recherche dafür war sehr interessant, sie hat uns zur Austria Tabak geführt. Bis in die sechziger Jahre hinein wurden Trafiken an Kriegsversehrte wie Otto Trsnjek einer war, vergeben, um ihnen eine Existenzgrundlage zu schaffen. Durch die Monopolstellung der Austria Tabak und das Tabakmuseum (das leider nicht mehr öffentlich zugänglich ist, weil es verkauft worden ist) hatten wir sehr viel Dokumentationsmaterial zur Verfügung, von den Trafiken mit der schönsten Auslagengestaltung bis zur Auflistung der damals gängigen Zigarettenmarken oder Zeitungstitel. Damals gab es unheimlich viel mehr Presseorgane als heute. Es war reizvoll, eine ganz eigene Welt aufzubauen, im Film stellt sie natürlich auch eine kleine Widerstandszelle innerhalb einer Welt dar, die sich sehr stark verändert und die mit ihren Protagonisten auch zugrunde geht.
 
 
Sie haben für Ihre drei Protagonisten mit Simon Morzé, Johannes Krisch, Bruno Ganz auch drei starke Schauspielerpersönlichkeiten gefunden. Wie fanden Sie zu dieser Besetzung?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Wir haben uns zunächst mit dem Gedanken getragen, ein „neues Gesicht“ zu entdecken und begannen sehr großflächig über Schulen mit einem Casting von 300 Bewerbern. Erst in den letzten Runden haben wir auch Schauspieler einbezogen, die schon Erfahrung vor der Kamera hatten und eine Casting-Entscheidung ist letztlich immer eine Sache des Gespürs. Ich hatte einfach das Gefühl, es musste Simon Morzé sein. Die schöne Verbindung daran war, dass Simon mit neun seine allererste Rolle in Die Entscheidung, einem Fernsehfilm von mir, gespielt hat. Er ist ein besonderer junger Schauspieler, der sehr genau und fein spielt und dem diese schwierige Wandlung zum Mann sehr gut gelungen ist. Es war für ihn gewiss eine neue Erfahrung, einen Film zu tragen und jeden Tag am Set zu sein. Auch für die Rolle des Otto Trsnjek gab es mehrere Überlegungen, Johannes Krischs Zugang auf die Figur war einfach beeindruckend. Es war gewiss sehr anstrengend, da er einen Kriegsversehrten spielt, der ein Bein verloren hat und wir haben dafür eine Konstruktion erfunden, um das Bein hochzuschnallen, da wir ohne Retouchierungen arbeiten wollten. Das hat er auch nicht abgenommen, wenn es Einstellungen gab, wo das Bein nicht sichtbar war. Er ist ein Schauspieler, der sich mit vollem Engagement in eine Rolle stürzt und dem man den rebellischen Geist des Otto Trsnjek zu 100% abnimmt. Bruno Ganz zählt zu den ganz großen Namen im deutschsprachigen Raum, es galt, jemanden zu finden, dessen Ausstrahlung eine große Persönlichkeit wie Freud trägt. Da musste eine besondere Präsenz mitschwingen. Es war mit den Schauspielern eine sehr herausfordernde und schöne Arbeit am Set.
 
 
Der Roman ist in seiner deutschsprachigen Fassung über 500 000 mal verkauft worden. Ist das Wissen, dass man es mit einem Beststeller zu tun hat, eine Last oder ein Reiz, wenn man sich an die filmische Adaptierung macht?
 
NIKOLAUS LEYTNER: Es ist eine Herausforderung, die belastend und reizvoll zugleich ist. Wie schon erwähnt, tritt man gegen die Bilder im Kopf von vielen LeserInnen an. Von diesen Erwartungen muss man sich befreien, das würde einen lähmen. Den ersten Schritt, die Handlung des Buches für den Film zu filtern, das hat Klaus Richter erledigt. Er hat die ersten Drehbuchfassungen geschrieben. Leider ist er verstorben. Seine Versionen habe ich dann in zwei Phasen noch einmal stark bearbeitet. Ich hatte den Roman ein erstes Mal unbelastet als ganz normaler Leser gelesen und hatte nur ein Gefühl für diese Geschichte. Erst viel später, als ich wusste, dass ich alleine noch eine Fassung erstellen musste, habe ich ihn noch einmal gelesen, um zu schauen, was noch an Wichtigem da war, das mir aus der ersten Lektüre nicht mehr erinnerlich war. Ich habe mich aber bewusst auf diese zwei Lektüren beschränkt, weil ich mir selbst diesen ersten Leseeindruck erhalten wollte.
Natürlich gibt es auch für einen selbst immer Dinge, die man gerne umgesetzt hätte, die aber im budgetären Rahmen nicht möglich waren. Ich versuche in allen Phasen der Entstehung eines Films, das Optimum herauszuholen. Die Herausforderung liegt darin, wie ich die Wärmebilder in meinem Kopf in der Realität wiederfinde. Wie komme ich dem möglichst nahe. Ich schreibe für viele meiner Filme die Drehbücher selber und habe von den Figuren nie so exakte Vorstellungen. Das sind wie gesagt, eher Wärmebilder und erst in der Besetzung versuche ich Darsteller zu finden, die ein Gefühl von mir mitbringen und dann im besten Fall auch etwas Eigenes dazubringen. Die treffendste Bezeichnung für den Beruf, den ich ausübe, sehe ich im Französischen mit dem Begriff des „réalisateur“. Dinge aus dem Kopf, aus meiner eigenen Leseerfahrung mit Elementen der Wirklichkeit in die Realität bringen.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Oktober 2018