INTERVIEW

«Für JOY war es ein optimaler Multiplikator.»

Hat ein Arthouse-Film das Interesse von Netflix erweckt, so kann ein Deal den Verzicht auf die weltweite Festivaltournee bedeuten. Für JOY gab’s beides: Nach einer eindrucksvollen Serie von Festivals und Preisen, die in Venedig ihren Ausgang nahm, ist Sudabeh Mortezais zweiter Spielfilm seit Ende Mai auf Netflix verfügbar und erreicht sein Publikum fern der Kinosäle. Ein kurzer Erfahrungsaustausch mit der Regisseurin.
 

JOY feierte seine Weltpremiere vor bald einem Jahr beim Festival von Venedig in der Reihe Giornate degli Autori. Wie bald nach der Weltpremiere kam der Verkauf an Netflix ins Gespräch?
 
SUDABEH MORTEZAI: Wir hatten das Glück, dass nach der Weltpremiere in Venedig zunächst die Festivalkarriere von JOY anlaufen konnte, ehe Netflix sein Interesse bekundet hat. Unser Weltvertrieb Films Boutique hat sich um Verkäufe in einzelne Territorien und in Zusammenarbeit mit der AFC um die Festivaleinsätze bemüht. Ich denke, dass der Hauptpreis beim London Film Festival und die sehr positiven Reaktionen dort, letztendlich ausschlaggebend waren.
 
 
Welche Gefühle und Gedanken hat die Option, der Film könnte auf einer Streaming-Plattform und damit nur über einen kleinen Bildschirm verfügbar sein, in Ihnen ausgelöst? Eher Zustimmung oder eher Skepsis?
 
SUDABEH MORTEZAI: Die erste Reaktion war absolut positiv und erfreulicherweise haben sich genau meine Hoffnungen bewahrheitet. Es war mir sehr daran gelegen, dass der Film auch eine gute Festivalkarriere hinlegt. Und ich bin auch sehr stolz auf sie. Immerhin hat der Film gleich in Venedig zwei Preise gewonnen und dann auch die Hauptpreise in Chicago, London und Marrakesch. Es bleibt unumstritten, dass JOY zunächst einmal ein Kinofilm und damit für die Leinwand entstanden ist. Es muss einem aber auch klar sein, dass ein Arthouse-Film zu einem so spezifischen Thema – weltweit betrachtet – in vielen Territorien nie zu sehen sein. Viele Leute, für die der Film von Bedeutung sein könnte, haben weder ein Arthouse-Kino noch ein entsprechendes Festival in ihrer Nähe. Sie würden den Film nie zu sehen bekommen. Meine erste Reaktion war nicht deshalb so positiv, weil Netflix so cool klingt, sondern weil es für jene Menschen eine Gelegenheit bieten würde, den Film zu sehen, die man ohnehin nur vereinzelt und abseits der Kinosäle erreichen kann. Eine klassische Verleihsituation setzt ja voraus, dass in einer bestimmten Region genügend interessierte Leute gebündelt werden können. Auch der Grund, weshalb sich in bestimmten Gebieten oder Ländern oft gar kein Verleiher findet. Mit einer Plattform wie Netflix kann man die Leute auch fragmentiert erreichen. Nach der ersten Euphorie kamen natürlich auch Bedenken, was es für die sonstige Verwertung des Films heißen mag. Österreich war vom Netflix-Deal ausgenommen; das wäre ja gar nicht anders gegangen, da die Förderstruktur einen Kinostart vorsieht und dieser uns auch sehr wichtig war. JOY war also erst nach Ablauf einer Sperrfrist auf Netflix verfügbar gewesen.
 
 
Waren Sie in die Entscheidung mit eingebunden?
 
SUDABEH MORTEZAI: Wir haben zwischen Weltvertrieb und Produktion sehr offen kommuniziert, als Regisseurin hatte ich die ganze Zeit ein Mitspracherecht. Es gab einen sehr konstruktiven Austausch, wo wir vieles abgewogen haben. JOY war eindeutig als Kinofilm konzipiert, es war aber nicht so, dass ich von Seiten der Produktion oder des Weltvertriebs unter Druck gebracht worden wäre. Ich hielt es für eine gute Idee, auch wenn es natürlich auch eine Kehrseite gibt und Festivals ab dem Zeitpunkt der Übernahme den Film nicht mehr spielen können. Macondo hat im Vergleich dazu noch einen sehr langen Lauf auf vielen kleinen Festivals gehabt. Bei JOY gibt es da eine spürbare Veränderung. Meine letzten Festivalteilnahmen New Directors New Films in New York oder zuletzt in Istanbul waren dort bereits als Netflix-Release ausgewiesen.
 
 
Wie sieht nun knappe sechs Wochen nach dem Start auf Netflix eine erste Bilanz aus?
 
SUDABEH MORTEZEI: Meine große Hoffnung war die, dass der Film über Netflix in Nigeria und in den weltweit verstreuten nigerianischen Communities ankommt. Ich wusste allerdings nicht, ob ich das jemals mitkriegen würde, da ich keine Zahlen bekomme. Umso interessanter war es, dass es auf Twitter über mehrere Wochen hinweg einen regelrechten Buzz gegeben hat dem wir verdanken, dass wir das Feedback ein wenig mitbekommen haben. Gleich nach seinem Release wurde der Film vor allem in der nigerianischen Community sehr leidenschaftlich und mit wenigen Ausnahmen sehr positiv rezipiert. Es gab begeisterte Stimmen wie: „Wie gibt es das, dass ausgerechnet eine Nicht-Nigerianerin die authentischsten Nigerianer auf die Leinwand gebracht hat?“ Darüber hinaus haben sich auch renommierte Regisseure und ProduzentInnen aus Nollywood zu Wort gemeldet und den Film diskutiert. Auch aus Deutschland haben mir viele Leute geschrieben, dass sie den Film nun endlich sehen konnten. Die zwei positiven Aspekte waren die, dass der Film bei den Nigerianern angekommen ist und in politischer Hinsicht starke Diskussionen ausgelöst hat. Damit hat sich für mich bestätigt, dass der Film einen Teil seiner Bestimmung gefunden hat. Außerdem ist er auch auf einer künstlerischen Ebene wahrgenommen worden. Es gab auch einen Austausch zwischen Nollywood-Regisseuren, die sagten: „Hey, so kann man einen Film auch machen. Man muss nicht immer Hollywood kopieren. Man schaut auch ohne Action und Special Effects gerne zu.“
 
 
Gab es auch Rückmeldungen, die direkt die Darstellerinnen oder Mitwirkenden am Projekt betroffen haben?
 
SUDABEH MORTEZAI: Joy Alphonsus und Precious Sanusi haben sehr viele Rückmeldungen über die Social Media-Kanäle, auf denen sie aktiv sind, direkt aus der nigerianischen Community bekommen und dabei sehr viel Zuspruch zum Projekt und auch zu ihrer Arbeit erhalten. Es gab auch tolles Feedback, zur Kameraarbeit und zur Besetzung. Jedenfalls können wir die Rückmeldungen ja nur über Social Media wahrnehmen. Wie sehr das die Zahlen auf Netflix reflektiert, dazu habe ich keinen Einblick. Viele Menschen sehen den Film ja, ohne danach etwas zu posten. Wirklich stark war der globale Effekt – es kamen Rückmeldungen aus Brasilien, Mexiko, Korea, Indien, Frankreich ... Die nigerianische Community lebt vor allem in Europa, viele davon in UK, USA, Kanada.
So ein weltweites Ausstrahlen kann nur über so einen Streaming-Dienst funktionieren.
 
 
Hat die weltweite Präsenz auf einer der wichtigsten SVOD-Plattformen einen Preis? Besonders für einen Autorenfilm wie JOY?
 
SUDABEH MORTEZAI: Man muss so eine Entscheidung gewiss spezifisch abwägen. Es wird auch Filme geben, für die eine Verwertung über Netflix nicht passt. Für JOY war es ein optimaler Multiplikator, denn, wenn man ehrlich ist, hätte JOY es schwer gehabt, sich international im Kino durchzusetzen und hätte in vielen Ländern keinen Vertrieb gefunden. Insofern wurde ein zusätzliches Publikum gefunden und ich habe nicht den Eindruck, dass wir etwas verloren haben. Festivals bleiben weiterhin total wichtig, das eine negiert ja das andere nicht. Wenn man Netflix in Erwägung zieht und in der Position ist, gewisse Dinge auszuverhandeln, dann sollte man sich gute Festivaleinsätze sichern. Festivals bieten die Möglichkeit, den Film erstens auf der Kinoleinwand und zweitens sehr konzentriert zu schauen. Über die Sichtbarkeit des Films auf Netflix entscheidet der Algorithmus, d.h., wenn die Nachfrage nachlässt, bleibt der Film zwar auf der Plattform, aber wer erfährt, dass es den Film gibt? Irgendwann ist er weg vom Fenster. Wir haben mit dieser Verwertung Neuland betreten, auch um für ein nächstes Mal zu lernen und darauf zu achten, ob es einen Verbesserungsbedarf gibt. Aus meiner Sicht war JOY auf Netflix eine tolle Erfahrung.
 
 
Ist es schwer für Sie, JOY nun nach einem knappen Jahr der Verwertung wieder loszulassen?
 
SUDABEH MORTEZAI: Das ist nach jedem Film so eine Sache. Durch meine Arbeitsweise bin ich in ein Thema und eine Welt sehr intensiv involviert. Das geht dann durch die vielen  Publikumsgespräche weiter. Irgendwann kommt der schwierige, aber notwendige Punkt des Loslassens. Ich habe ein gutes Beispiel: eine nigerianische Anwältin, die eine NGO gegen human trafficking in Nigeria betreibt, hat mich aufgrund des Films, den sie auf Netflix gesehen hatte, kontaktiert. Im Herbst gibt es immer eine Konferenz zum Thema Menschenhandel in Wien, für die es auch ein Rahmenprogramm gibt und wo auch JOY zu sehen sein wird. Sie habe ich nun mit den OrganisatorInnen der Konferenz direkt in Verbindung gesetzt. Wenn solche Akteure beginnen, den Film als Tool einzusetzen, dann ist das optimal und ich muss den Film nicht mehr weiter begleiten. Ich hab meine künstlerische Arbeit zu einem gesellschaftspolitischen Thema geleistet, der Film kann nun weiter verwendet und diskutiert werden. Ich bin nicht die Expertin, die weiterhin auf Podien zum Thema sprechen kann und soll. Das Thema bestimmt weder mein Leben noch meine Zukunft. Irgendwann ist der Film abgeschlossen und ich kann mich mit etwas anderem beschäftigen.


Interview: Karin Schiefer
Juli 2019
«Es gab begeisterte Stimmen wie: „Wie gibt es das, dass ausgerechnet eine Nicht-Nigerianerin die authentischsten Nigerianer auf die Leinwand gebracht hat?“»