INTERVIEW

Marcus J. Carney über THE END OF THE NEUBACHER PROJECT

 
«Die offizielle Neubacher Geschichte war immer eine Grandiosität nach der anderen, man kann aber die Geschichte der Neubachers auch als Geschichte der Unfälle lesen.» Marcus J. Carney über seinen Film The End of the Neubacher Project, der beim IDFA in Amsterdam seine internationale Premiere feiert.



Der Film hieß lange nur Das Neubacher Projekt, bevor es The End of the Neubacher Project hieß. Ein rätselhafter Titel, was steckt dahinter?

MARCUS J. CARNEY: Am Anfang war es ein Arbeitstitel, mit der Zeit ist es aber eine Überschrift für die Form des Filmprojekts geworden. Das Projektartige hat den Film nie verlassen. Es stellte sich auch die Frage, ob es jemals aus dem Projektstatus herauskommt. Schließlich ist genau das eben die Form geworden. Der Schauplatz "meine Familie" ist ja ein lebenslanges Projekt.


The End of the Neubacher Project ist demnach ein formaler Titel?

MARCUS J. CARNEY: Wenn man so will. Ich hab eine Weile überlegt, ob es einen poetischeren Titel geben könnte. Mir ist aber keiner eingefallen. Er fängt jetzt gut ein, was geworden ist, vom Gefühl auch bilingual, was mir wichtig ist. Der Film wird auch in der deutschen Version The End of the Neubacher Project heißen. Es gibt kein Ende ohne Anfang. Bis zu einem gewissen Grad ist der Titel eine Behauptung. Die Frage stellt sich auch, ist es wirklich das Ende?


Wie sah die Ausgangssituation aus, als Sie sich auf dieses Projekt eingelassen haben?

MARCUS J. CARNEY: Depression. Der Prozess des Ganzen begann 1997. Ich machte damals einen Filmworkshop in Amsterdam mit Lehrern aus Skandinavien und Amerika, wo es eine Tradition gibt, sehr persönliche Dokumentarfilme zu machen. Das war die wesentliche Botschaft, dass wir unsere Filme persönlich machen sollen. Ich habe das vielleicht etwas sehr ernst genommen.
1997 war das einfach eine Notwendigkeit. Ich spürte etwas, das nicht näher festzumachen war. Unsere Familiengeschichte war bekannt, aber nur in ihrer Legendenhaftigkeit. Innerhalb der Familie hieß Hermann Neubacher nur "der Onkel Hermann" und es gab nur die sich ewig wiederholenden Legenden um ihn, die sich erst im Laufe der Zeit als solche herausgestellt haben, dafür ständig wiedergekäut. Irgendwann begann ich zu recherchieren. Es bot sich an, über ihn was zu machen. Schnell war klar, dass das nicht wirklich ausreicht und es ging auch darum, seine Wichtigkeit richtig einzuordnen. Wenn ich einen Film über meinen Großonkel mache, der Bürgermeister von Wien war, so ist das außer für Spezialisten nicht so wahnsinnig interessant. Die Frage war, was gibt es darüber hinaus zu erzählen, was ist filmisch? Die Antwort darauf hat sich mit der Zeit verändert. Der Film hat zunächst als Studentenprojekt begonnen. Hätte ich es damals als reine Übung betrachtet, dann gäbe es jetzt ein mehr oder weniger interessantes historisches Projekt, im Sinne einer TV-Dokumentation. Würde ich mir vielleicht anschauen, aber: nicht persönlich genug. 1999 rückte die Überlegung in den Vordergrund, wie meine Familie mit diesem Vermächtnis umgeht. Damit begannen auch die Widerstände. Meine Mutter z.B. wollte sich nicht filmen lassen, also habe ich zuhause zunächst nur scheinbar Belangloses gefilmt. Als Filmemacher und Erzähler und auch als Sohn habe ich mich immer auf mehreren Ebenen bewegt. Ich musste mich auch noch mit der Frage der Anerkennung auseinandersetzen. Meine Mutter, die Ärztin war, hat nie verstanden, was ich da mache. Meine Großmutter wollte immer Tänzerin werden und ich glaube, dass das performative Element, das von mir im Film drinnen ist, kein Zufall ist. Vielleicht ist das durch mich wieder aufgetaucht. Ich selbst habe als Schauspieler begonnen.


Es ist aber auch ein medizinisches Moment vorhanden, indem Sie gewissermaßen diagnostisch herangehen und von einem Morbus austriacus sprechen. Es geht um eine familiäre Geschichte und gleichzeitig um ein kollektives Phänomen.

MARCUS J. CARNEY: Deshalb ist der Pitch aus dem Jahr 2000 im Film, damals dachte ich, genug verstanden zu haben um den Film an dem historisch-ironischen Begriff Morbus Austriacus zu entwickeln. Ich hatte Friedrich Heer gelesen, von ihm stammt der Terminus. Es war nichts Neues, eher was Wiederentdecktes, und informiertere Leute haben sich ein Leben lang damit auseinander gesetzt. Es ist natürlich eine Behauptung, die gut am Anfang des Films stehen kann. Eines der wichtigsten Phänomene bei der Arbeit ist für mich das Prozesshafte - wann fängt etwas an? wann hört es auf? wann steigt man in eine Geschichte ein? Das sind die fundamentalen Fragen, die man sich als Erzähler stellt. Weiters auch - wie sehr bereitet man etwas vor, wie sehr improvisiert man? Da ist auch viel Gespür dabei. Recherche ist wichtig, aber am Ende steht der Wunsch, das Publikum emotional zu berühren, dann ist es für mich Kino.


Kann man sagen diese lange filmische Reise hat an den Widerständen ihren Ausgang genommen?

MARCUS J. CARNEY: Es war sicherlich auch der Wunsch nach Anerkennung, also erkannt zu werden. Die unausgesprochenen Spannungen zwischen mir und meiner Mutter spielten hinein. Sie hat mich oft mit meinem Vater verwechselt. Der Film ist natürlich auch aus einem großen Wunsch nach Verständnis zwischen den Generationen entstanden. Väterlicherseits war bei mir wenig da und bewusst kann ich mich nur an ein extrem neurotisiertes Verhältnis mit meiner Mutter erinnern. Ich könnte den Film als meinen Mutterfilm bezeichnen. Natürlich war die Frage, wer die Hauptfigur ist. Das teile ich mir nun mit meiner Mutter. Der Onkel und die Großmutter sind in einem klassischen, dokumentarischen Sinn die Repräsentanten. Deshalb funktioniert der erste Teil des Films klassisch reflektiv, wo ich noch versucht habe, etwas herauszufinden um es zu kommentieren. Je weiter man in den Film gerät, desto emotionaler beginnt er zu wirken und gleichzeitig umso historischer wirkt das was wir zuvor erst herausgefunden haben. Wir werden von der Vergangenheit immer weiter in die Gegenwart getragen.


Es gibt dieses Hauptsujet, mit einem Jagdhund, der einen Hasen gerissen hat. Wie erklärt sich der Zusammenhang zum Film?

MARCUS J. CARNEY:  Es ist das offensivste Täter-/Opfer-Sujet, das wir haben. In diesem Moment steckt die ganze Neubacher-Geschichte drinnen. Hunde haben immer eine wichtige Rolle gespielt. Das einzige Mal, an das sich meine Mutter erinnern konnte, dass mein Großvater weinte, war, als sein Hund irrtümlich erschossen wurde. Die Jagdhunde waren scheinbar ideale Kinder - gehorchten aufs Wort. Es ist natürlich beschämend für eine Jagd, wenn so etwas, wie in dieser Szene passiert. Zu den Neubachers muss man allerdings sagen, dass sie keine Sonntagsjäger sind, die Tradition wird ernst genommen und das Weidmännische ist bei ihnen äußerst authentisch. Ich glaube, es ist nicht typisch, dass ein Hund einen Hasen reißt, das heißt auch, dass schlecht geschossen wurde. Die offizielle Neubacher Geschichte war immer eine Grandiosität nach der anderen, man kann aber die Geschichte der Neubachers auch als Geschichte der Unfälle lesen.


Sie sind sehr schnell persönlich sehr tief in diese Geschichte geraten. Hat Sie das nicht selber überrollt?

MARCUS J. CARNEY: Ja, mehrmals. Ohne Vertraute, vor allem in den letzten Jahren, wäre das Projekt nicht fertig geworden. Der ausdauerndste Halt kam von Rolf Orthel. Er war mein Mentor und hat mich im Laufe des Workshops 1997, der über ein Jahr ging, bestärkt, das Thema anzugehen. Er ist selbst ein sehr erfahrener Filmemacher, der sich intensiv mit dem Holocaust beschäftigt hat. Auch ein hervorragender und beliebter Lehrer. Es sind sechs Jahre zwischen erster und letzter Kameraeinstellung vergangen. Bereits 2000 kam Lukas Stepanik mit der Extrafilm dazu, ab da ist es vom Studentenfilm zur Filmproduktion gewachsen und in der Fertigstellung war Georg Tschurtschenthaler mein "buddy in combat". Wir haben den Film gemeinsam geschnitten. Ohne meine Freundin Sigrid Hauser wäre er aber auch nicht fertig geworden.


Die Kamera haben Sie auch in erster Linie selbst geführt? Gab es geplante Drehtage oder ist die Kamera zum ständigen Begleiter geworden?

MARCUS J. CARNEY:  Ich hab sehr viel selber gefilmt, die Interviewsituationen hab ich mit Ludwig Löckinger gedreht. Man wird erfinderisch, ich hab auch schon alleine mit zwei Kameras gedreht. Die Kamera ist zum ständigen Begleiter geworden. Es ist vielleicht nicht leicht vorstellbar, aber ich habe über dreieinhalb Jahre jedes Telefongespräch mitgedreht. Das Telefon hat geläutet und ich hab die Kamera eingeschaltet. Ich war eigentlich immer in der Sache drinnen, weil ja alles an Bedeutung gewinnt, wenn man so genau hinschaut. Es gab nur ein gutes halbes Jahr Pause, als ich den Kurzfilm Air Square gedreht habe. Lange Zeit dachte ich, dass ich den Film erst dann fertig machen kann, wenn die Großmutter gestorben ist. Sie ist am Weihnachtsabend 2001 gestorben. Ich machte dann erst im Herbst 2002 weiter. Im Herbst 2003 erhielt meine Mutter die Krebs-Diagnose, ihre Krankheit dauerte ein knappes Jahr. Insgesamt hatte ich 260 Stunden Material.


Sie gehen sehr weit darin, wie Sie sich selbst exponieren, wie Sie Ihre Mutter exponieren, hier werden eindeutig Tabus gebrochen.

MARCUS J. CARNEY: Das alles geht nur, weil es meine Mutter ist und weil meine Geschichte so ist, die ich auch nur so herausfinden konnte. Es ist die konsequenteste Nach- und Weiterverfolgung meiner eigenen Geschichte. Das geht nur aus diesem Zusammenhang heraus, dazu gehört auch die lange Zeit, ich erzähle nichts leichtfertig. Weiters wäre das Ganze mit der Mutter von jemand anderem die größte Frechheit aller Zeiten. Weil aber alles so ineinander verstrickt ist, weil meine eigene Existenz unmittelbar auf diese ungelöste Trauersituation zurückzuführen ist, muss ich so weit gehen. Es ist nicht angenehm, das führt zu einer beträchtlichen Schizoidität beim Drehen, denn natürlich bewirkt die Kamera, die gegen einen selbst - das heißt auch die Mutter - gerichtet ist, einen Grad von Selbstverletzung, die aber weit weniger ins Gewicht fällt, als die originalen Verletzungen. Die Kamera bekommt etwas Waffenartiges, und ich wiederum etwas Neubacherisches. Allerdings steht am Ende nicht nur der Tod, sondern auch emotionale Erkenntnis, die geteilt werden kann.
Je extremer die Situation wurde desto nebensächlicher wurde der Umstand des Auch-noch-Drehens. Die Barrieren sind zunehmend gefallen, es hat sich eine Art von Freiheit eingestellt.
Wir sind beide zuvor schon an einen Punkt gelangt, wo ich etwas zurückgeben konnte von meiner Aufarbeitung, ich konnte etwas von ihrer Unwissenheit beseitigen, denn sie wusste ja immer so wenig, wollte das scheinbar so. Da hat sich schon einiges getan und es war später faszinierend, herauszufinden, wie sehr Entwicklungen einander bedingen. Es war ein ziemlicher Tanz, wenn man so will, ein langsamer, zwischen meiner Mutter und mir. Natürlich hat der Film etwas ausgelöst. Es taucht der Gedanke auf, wie stark hat der Film ihren eigenen Prozess bis hin zur Krankheit mit beeinflusst. Das hat etwas mit einem unterbewussten körperlich-seelischen Erkenntnisprozess zu tun, wann so eine komplexe Krankheit voll ausbricht. Deshalb musste es immer mehr eine Geschichte zwischen ihr und mir werden.


Inwiefern hat sich die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter im Laufe des Projektes verändert?

MARCUS J. CARNEY:  Es hat sich alles verändert. Wir haben letztendlich – das ist das Unerträgliche – eine enthysterisierte Mutter-Kind-Liebe nur durch die Gewissheit ihres Sterbens wahrnehmen können. Aber immerhin ist es passiert, wenn auch subtil, da wir über das Sterben nicht offen reden konnten. Über den Sterbeprozess habe ich einiges gelernt. Meine Mutter war die zweite Frau, die ich an Krebs habe sterben sehen, die jüngste Schwester meines Vaters ist im Jahr zuvor auch an Krebs gestorben. Die konnte darüber reden, weil sie sterben wollte und den Mut hatte das zuzugeben. Bei meiner Mutter war es so, dass meine Schwester und ich mit ihr nicht offen über das Sterben reden konnten. Der Umgang hat sich verkindlicht.


Es gibt einerseits Ihr eigenes Erleben, andererseits kommt auch der Aspekt des Publikums dazu. Haben Sie sich auch gefragt, ob es dem Publikum zumutbar ist?

MARCUS J. CARNEY: Dem Publikum ist alles zuzumuten, sofern man sich als Filmemacher nicht aus der Verantwortung stiehlt und in den Leben seiner Charaktere zum Selbstzweck herummarodiert. Das gilt gleichermaßen für dokumentarische wie fiktionale Arbeit. Damit meine ich übrigens auch die Unterforderung von Charakteren, klassische Ursache für Langeweile, was zu doppelter Entwürdigung von Charakter und Betrachterin führt. Die Grenzen des Gewohnten zu verschieben tut weh, das sollte möglichst jede Geschichte mit sich bringen, wobei einem auch der Bauch vor Lachen wehtun kann. Neubacher ist eine Coming of age-Geschichte, nicht nur meine, sondern letztlich auch die meiner Mutter. Dazu gehören growing pains, die entsetzlich sein können, die versuche ich erzählerisch zu teilen. Grundsätzlich war es ein erzählerischer Balanceakt, durch den Film zu kommen. Dazu kommt, dass ich gewisse Dinge ohne Kamera nicht erfahren hätte. Die Neubachers haben das Agieren nach außen so intus, dass gewisse Dinge erst rausgekommen sind, als die Kamera auf sie gerichtet war und der Rechtfertigungs-Sog eingesetzt hat. Die Neubachers sind diesbezüglich auswechselbar. Das Publikum, das den Film bisher gesehen hat, reagiert meist tief bewegt, danach polarisiert. Von erleichtert, weil sie eine Lösungsgeschichte gesehen haben, bis betroffen, weil latent gehaltene Fragen plötzlich Antworten fordern. Manch professioneller Betrachter reagiert beleidigt, vielleicht weil sich der Film voreiliger Zerebralisierung entzieht. Sogenannte erwachsene Männer reagieren mitunter aggressiv. Als Erzähler reiße ich gewisse Dinge nur an, es gibt Auslassungen, und die Verführung der teilweise naiven Form. Irgendwie gehört dann alles zusammen, wie genau, erklärt sich aber nicht sofort.


Der Film also als therapeutischer Prozess sowohl in der Erstellung als auch fürs Publikum?

MARCUS J. CARNEY: Ich würde das gar nicht so therapeutisch sehen. Ich würde das viel klassischer als kathartisch sehen wollen. Therapeutisch bis zu einem gewissen Grad. Aber die Therapie ist nicht vorbei. Der Film endet da, wo er endet. Das spezielle Neubacher Grab ist voll, aber es ist nicht das Ende der Neubachers und auch nicht mein Ende. Es ist auch nicht der letzte Film, den das Publikum wird gesehen haben. Die Geschichte/n gehen weiter.


Hat sich Ihre Sicht auf die eigene Familie verändert? Es scheint am Beginn eine unbändige Wut der Motor Ihres Tuns zu sein, die sich aber im Laufe der Zeit verflüchtigt.

MARCUS J. CARNEY:  Ein Teil der Wut konnte sich verwandeln. Mein Blick auf die Familie hat sich normalisiert. Es ist ja wirklich auch nur eine durchschnittliche Familie, in ihrer Reaktionsfähigkeit aufeinander. Natürlich bin ich jetzt in gewissen Dingen übersensibilisiert und sehe überall langzeitwirkende, bedrohliche Zusammenhänge. Da steht mir noch einiges an persönlicher Entspannungsarbeit bevor.


Interview: Karin Schiefer
2006