INTERVIEW

Jakob M. Erwa über HEILE WELT

 

«Jeder hat seine eigene Sicht auf dieselbe Zeit und dieselbe Wirklichkeit. Es gibt nicht eine Wirklichkeit. Jede der vier Episoden hat seine eigene Sicht auf diese zwei Tage und für jeden ist sein eigenes Problem ist das größte.» Jakob M. Erwa über Heile Welt


Der Langversion von heile welt ging zunächst eine kurze Version voran, die schon 2006 in Graz zu sehen war. Wie kam es dann zum Entschluss, einen langen Spielfilm daraus zu machen?

JAKOB M. ERWA: Es gab zunächst eine 30-minütige Version, die vielmehr als Studie gedacht war. Ich war einem 15-jährigen im Zug begegnet, der mir sein Leben erzählt hat. Daraus habe ich etwas sehr Fragmentarisches mit einigen Dialogideen geschrieben. Ich wollte versuchen, mal ganz anders zu arbeiten als bisher, eben nicht mit klar vorgegebenen Dialogen, sondern den Film erst mit den Darstellern erarbeiten. So entstand der Kurzfilm, der letztes Jahr auf der Diagonale 2006 lief, die Uraufführung war in Saarbrücken 2006 und zu jenem Zeitpunkt stand bereits fest, dass wir eine lange Version machen würden.


Welchen Beitrag hat dieser Junge aus dem Zug für Heile Welt geliefert?

JAKOB M. ERWA:  Der war ganz klar der Auslöser. Ich war damals am Recherchieren für ein HipHop-Projekt, und versuchte möglichst mit Leuten aus diesem Milieu zu reden, auf einer meiner Reisen zwischen Graz und München saß ein 15-Jähriger, – vom Outfit her ganz offensichtlich ein HipHopper – da, ich bin auf ihn zu und fragte ihn, über seine Musik. Im Laufe dieses Gesprächs sind wir über die Musik, auf sein Leben – Familie, Drogenanfänge, Freunde. Er war aufgrund der Drogenprobleme ins Internat gesteckt worden und jetzt schien alles kaputt, er wollte nicht mehr nach Hause und er hatte das Gefühl, dass ihn seine Mutter nicht mehr lieb hat. Es hat mich unglaublich berührt, was er erzählt hat. Auf der einen Seite war er so cool, spuckt im Zug auf den Boden, raucht eine nach der anderen und dann ist er plötzlich wie ein kleines Kind und sagt, ich glaube, meine Mama mag mich nicht mehr. Das war für mich der Ausdruck dieser Lebensperiode – Zeit des Jugendlich-Sein, Erwachsen-Werden, Nicht-mehr-Kind-Sein. Diese Unsicherheit – Was bin ich eigentlich? die kam für mich in diesem Gespräch so klar heraus. Genau das ist das Gefühl, mit dem man kämpft und wenn man da alleine ist und es passieren Sachen wie dass die, an denen man sich festhält – die Eltern z.B. – nicht da sind oder enttäuscht sind, dann ist es unglaublich schwierig. Ich bin nach München gekommen und es hat in meinem Kopf gearbeitet. Ich habe mich hingesetzt, hab die ganze Nacht durchgeschrieben, natürlich dramaturgisch aufbereitet, in der Absicht, es vielleicht irgendwann mal brauchen zu können. Ich hab’ es dann einer Freundin geschickt und sie hat mich total ermutigt, das zu drehen. Es war sehr fragmentarisch und hat eine unglaubliche Stärke und Dynamik. Ich war aber an diesem HipHop-Film dran, wollte keinen Kurzfilm mehr machen und dann haben mich aber mehrere Leute ermuntert und bestärkt. Ich ließ mich überreden, aber wollte es nur ganz klein machen.


Wie haben Sie die Dialoge erarbeitet?

JAKOB M. ERWA:   Ich habe sehr frei, sehr viel über Improvisationen gearbeitet, sowohl mit den Jugendlichen als auch mit den Erwachsenen, die im Kurzfilm nur kleine Rollen hatten. Es gab ein szenisches Treatment mit Dialogideen und wir haben sehr frei gearbeitet. Wir machten natürlich ein sehr umfangreiches Casting und haben für die drei Jugendlichen Versuche gemacht. Wir hatten fünf Jolly-, fünf Ellis-, fünf Bolz-Figuren in verschiedenen Kombinationen zusammengestellt, um zu sehen, wo die Chemie gut zusammenpasst. Erst als die Besetzung feststand, haben wir das Buch durchgelesen, das hatten sie bis dahin nicht gehabt. Ich nahm es ihnen dann auch wieder weg und hab’ viel gefragt: wie seht ihr eure Rollen, wo kommen die her, was ist der familiäre Hintergrund, was haben sie für Beziehungen untereinander, was ist ihre gemeinsame Vergangenheit. Aus den Geschichten, die die Darsteller mir erzählt haben, habe ich dann die Improvisationen geschrieben. Das war auch sehr aufschlussreich für mich, weil mir Dinge klar wurden, die ich mir so nicht gedacht hätte.
Ich habe z.B. bei den Improvisationen einen Jugendlichen und seine Mutter mit verschiedenen Informationen versorgt und sie dann miteinander spielen lassen.  Die konnten dann plötzlich nicht mehr miteinander und verstanden sich nicht mehr. So müssen die Missverständnisse, Enttäuschungen, Probleme in den Familien entstehen, weil jeder den anderen nicht so sehen kann, wie er selbst sich sieht. Jeder hat seine eigene Sicht auf dieselbe Zeit und dieselbe Wirklichkeit. Es gibt nicht eine Wirklichkeit. Jede der vier Episoden hat seine eigene Sicht auf diese zwei Tage und für jeden ist sein eigenes Problem ist das größte.


Das Paar – der Blinde und die Prostituierte – bilden so etwas wie einen Fremdkörper im Ensemble der Geschichte. Wofür stehen sie?

JAKOB M. ERWA:  Ich hatte allen Episoden Farben zugeordnet, die im Film auch ein bisschen eingefärbt sind: die Kids waren die grüne Episode, die Mutter von Jolly-Episode ist die rote Episode, die Mutter von Bolz-Episode ist die blaue und die mit den beiden habe ich die goldene Episode genannt. Das ist eine Episode, die vordergründig gar nichts mit dem Rest zu tun hat, außer dass sie beide Opfer der Kids sind. Am Schluss schließt sich der Kreis. Für mich sind sie Randfiguren der Gesellschaft wie im Film und die beiden schaffen es, wenn es auch übertrieben und kitschig ist. Sie fahren raus, auf den Berg, sie will ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, er, der blind ist, will ihr die schönste Aussicht zeigen. Sie symbolisieren den Ausbruch aus der Alltagstristesse. Da erlaube ich mir auch Musik und Sonnenreflexe, die beiden finden für mich das Glück. Es gibt den schönen alten Satz eines Wienerliedes „Das Glück ist ein Vogerl.“ Nach dem Unfall fragt er „Was war das?“ und sie antwortet – „ich glaube ein Vogerl.“ Letztendlich überfahren sie das Glück. Ob sie es dennoch schaffen, etwas gemeinsam zu machen, bleibt offen. Ein Gefühl ist da, aber ich wollte nicht den Deckel drauflegen.


Warum gibt es diese Verschiebung der Zeit- und Erzählebenen?

JAKOB M. ERWA:  Ich mag die episodische Struktur gerne und ich möchte Filme für ein Publikum machen, das mitarbeitet. Die Zuschauer sollen den Film mit zusammenbauen, er wird erst durchs Rezipieren fertig. Während man im Film sitzt, muss man die Zusammenhänge erkennen und die Geschichte in ihrer zeitlichen Chronologie zusammenstellen.


Fehlt es im österreichischen Kino an Filmen, die Jugendliche thematisch ins Zentrum rücken?

JAKOB M. ERWA:  Ich mache Filme nicht, weil es an irgendetwas fehlt, sondern ich setze mein eigenes Bedürfnis um. Ich möchte Filme machen, die nahe an mir dran sind, ob ich sie nun selbst erlebt habe oder nicht, ich muss sie spüren. Das ist hier der Fall. Die Zeit zwischen Kind-Sein und Erwachsen-Sein halte ich für unglaublich spannend, es ist die erste Lebenskrise, die man durchmacht. Dieser innere Konflikt, wo gehöre ich hin, ich will erwachsen sein und kann es noch nicht. Ich vergleiche das mit einem reißenden Strom, wo man nicht weiß, wo man sich festhalten könnte, weil nichts zum Festhalten gibtt. Es ist eine Lebensphase, von der ich gerne erzähle und ich finde auch die Arbeit mit den Jugendlichen faszinierend.


Eine Assoziation zu Kids ist naheliegend. Was hat Sie bei den Arbeiten Larry Clarks fasziniert?

JAKOB M. ERWA:   Seine Schonunglosigkeit, seine durchaus realistische Arbeit mit den Jugendlichen, der ungeschönte Blick auf die Wirklichkeit, auf Alltag, Langeweile und Tristesse, seine Themen, das Fragmentarische seiner Erzählweise. Er fällt einem ein, weil er diesen unglaublich tollen Film Kids gemacht hat. Der Vergleich kommt immer wieder, er liegt wegen des Themas einfach nahe, aber er hat es nicht für sich gepachtet. Ich versuche keineswegs einen Larry Clark nachzuahmen.


Was lässt sich zur Musik sagen?

JAKOB M. ERWA: Diese Frage freut mich sehr. Es war mir bei heile welt wichtig, einen Film mit vielen Freunden zu machen, weil ich ihn klein halten wollte und in einem einfachen Umfeld und ohne die großen Profis arbeiten wollte, die wissen, wie es geht. Bei der Musik war es auch rechtetechnisch einfacher. Ich komme selber aus der Musik und habe Freunde gefragt, ob ich von ihnen Songs haben kann. Wir machten eine Ausschreibung, damit österreichische und v.a. steirische Bands Demos schicken, das hat sehr gut funktioniert und jetzt hoffen wir, dass es auch noch für einen Soundtrack klappen wird.
 

Worin besteht Ihr eigener musikalischer Hintergrund?

JAKOB M. ERWA:  Ich war, seit ich zwölf bin, immer in Bands, wollte auch Jazzgesang studieren und habe mich dafür auch vorbereitet. Ich besuchte in Graz eine Schule mit künstlerischem Schwerpunkt und zur Matura hin wurde mir immer klarer, dass ich darstellende und bildende Kunst nicht trennen wollte. So hielt ich nach etwas Ausschau, wo ich beides verbinden kann. Und es stellte sich relativ schnell heraus, dass der Film diese Möglichkeit bietet, wo ich a) die Bilder habe, wo ich b) mit Musik und Ton arbeiten kann und c) das machen kann, was ich immer gerne gemacht habe – Geschichten erzählen.


Sie haben für den Film Buch, Regie und auch Kamera gemacht. Welcher Aspekt reizt Sie für die Zukunft am meisten?

JAKOB M. ERWA:  Absolut die Regie. Dass ich Kamera gemacht habe, war Zufall. Ich wollte klein und dokumentarisch arbeiten, ein kleines flexibles Team haben und als wir beschlossen, auch eine lange Version zu machen, wollte ich das weiter durchziehen ohne jemanden dazuzunehmen, der das Handwerk beherrscht und Bilder komponiert. Ich wollte weiter an einer rauen Arbeitsweise festhalten und auch Fehler machen dürfen. Es war eine ziemlich heftige Doppelbelastung, den ersten Kinofilm stemmen und auch noch die Kamera führen. Schreiben und Autorenfilm halte ich für wichtig, es geht aber nicht immer alles gleichzeitig. Wir arbeiten mit einem deutschen Produzenten und der Novotny Film an der Romanverfilmung Caretta, Caretta von Paulus Hochgatterer. Ich beschäftige mich schon seit über zwei Jahren damit und bin noch zu keiner Lösung gekommen und wir haben jetzt gesagt, wir müssen einen Autor finden, ich schaffe das auch zeitlich nicht. Ich werde immer am Schreiben dabei sein, nicht um unbedingt mitzugestalten, sondern weil ich glaube, dass der Blick des Autors wichtig ist.


Sie haben das Studium an der HFF München nun abgeschlossen. In welche Richtung von Kino, welche Art von Geschichten möchten Sie in Zukunft gehen?

JAKOB M. ERWA:  Ich konnte heile welt im nachhinein als Abschlussfilm einreichen und habe damit das Studium jetzt abgeschlossen. Caretta Caretta ist wieder eine Jugendgeschichte, die eine sehr ungewöhnlicher Dreier-Konstellation erzählt:  ein 15-/16-jähriger Stricher, ein Mädchen, das ein ungreifbares, feenähnliches Wesen ist und ein alter Freier des Jungen. Sie brechen auf, um ihn auf seine letzte Reise zu begleiten. Eine zweite Geschichte entwickle ich mit einer Münchener Produktion, Roxy Film – das ist eine Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung und einer gemeinsamen Liebe. Und dann arbeite ich an einer Mini-Jugendserie für den ORF, sechs Folgen zu 25 Minuten mit dem Titel Tschuschenpower, das produziert auch die Novotny Film. Es bedurfte einer Zeit des Überzeugens, weil ich zunächst nicht an einer Serie arbeiten wollte, weil ich Kinoprojekte habe. Ich möchte nichts erzählen, was ich nicht künstlerisch voll vertreten kann. Und ich bekam das Angebot, ein Thema auszuwählen. Das Thema ist jugendliche Migranten der zweiten und dritten Generation in Wien, damit möchte ich eine Randgruppe, die nie im Zentrum des Geschehens ist, einmal ins Zentrum zu rücken.


Franz Novotny hat in den letzten Jahren immer wieder erste Filme produziert. Wie waren sind Ihre Erfahrungen in dieser Zusammenarbeit?

JAKOB M. ERWA:  Wir fanden übers Internet zueinander. Ich lernte Mirja Antelmann über ein Internetportal für Filmemacher kennen. Sie schlug mir vor, etwas zu schicken, ich kam nach Wien und habe Franz Novotny den Kurzfilm gezeigt und von Caretta Caretta erzählt, eine Geschichte, die nicht sehr fein geschliffen, sondern eher kantig und eckig ist. So kam es zur Zusammenarbeit mit dem deutschen Produzenten und auch mit heile welt war ganz schnell klar, dass wir das zum Langfilm machen. Es ist eine sehr angenehme Arbeit mit Franz Novotny. Er lässt einem unglaublich viel Freiraum, ich habe das Gefühl, er erkennt Talent und eine Kraft und das wichtigste bei ihm ist, glaube ich, dieses Feuer zu haben. Feuer ist für ihn das Wort, auf das er einsteigt. Er ist jemand, der möglich machen möchte und er nie am Set da stand und sich einmischte.


Was bedeutet der Große Diagonale-Preis in so einem Moment?

JAKOB M. ERWA: Es ist zwei Wochen her, in dieser Zeit ist schon wieder so viel passiert. Komplett angekommen ist es noch nicht, aber ich weiß, dass es wahr ist. Es ist mein erster langer Film und der größte österreichische Filmpreis, es scheint so irreal. Es bedeutet für mich einen schönen Zwischenschritt, wo ich sagen kann, ich habe unter Selbstaufopferung durchgearbeitet und das bringt ein bisschen Geld und eine Bestätigung. Ich sehe es vor allem als Mutmacher und verstehe es als Botschaft „Gut gemacht, es war der richtige Weg und jetzt geht es weiter.“


Interview: Karin Schiefer
2007