INTERVIEW

Sudabeh Mortezai über IM BAZAR DER GESCHLECHTER

 

Eine Gesellschaft, die die Frauen diskriminiert oder einschränkt, macht mit den Männern dasselbe, nur über den Umweg der Frauen, nur weniger bewusst. Sudabeh im Gespräch über Im Bazar der Geschlechter


Im Film heißt es mehrmals, die Zeitehe ist ein Tabu. Gleichzeitig löst sie ein gesellschaftliches wie ein legales Problem. In welcher Hinsicht ist die Zeitehe ein Tabu?
Sudabeh Mortezai: Es geht einerseits darum, dass in der iranischen Gesellschaft Gesetz und Kultur auseinanderklaffen. Es ist ein typischer Fall. Die islamische Republik unterstützt die Zeitehe und ginge es nach ihr, sollten so viele Zeitehen wie möglich eingegangen werden. In der Kultur ist es hingegen tabuisiert. Das hat mit zwei Dingen zu tun: zum einen, dass sie von der ursprünglichen Idee her dazu da war, die Prostitution zu legalisieren, was bis zu einem gewissen Maß noch immer der Fall ist. In der bürgerlichen Sexualmoral will niemand etwas damit zu tun haben. Der andere Aspekt geht viel tiefer: Zeitehe ermöglicht eigentlich  freie Sexualität für Frauen. Männer dürfen ohnehin fast alles, auch wenn es das Gesetz genau genommen nicht erlaubt, so können sie sich in einem System, das Männer privilegiert, die Rechte meist nehmen. Frauen müssen geschieden oder verwitwet sein, sie haben demnach bereits eine sexuelle Vergangenheit hinter sich und können da erstmals frei über ihren Körper und ihre Sexualität verfügen. Weder Vater noch Ehemann kontrollieren sie, der Zeit-Ehemann hat Recht auf Sex, hat aber keinerlei Recht, ihnen Vorschriften zu machen. Das gibt den Frauen eine gewisse Autonomie und ist damit ein Grund für die Tabuisierung. Es macht öffentlich, dass eine Frau außerhalb einer regulären bürgerlichen Ehe Sex hat, deshalb ist es auch den Frauen peinlich darüber zu reden, weil ihm der Ruch der Prostitution anhaftet, andererseits gilt eine Frau, die eine Zeitehe praktiziert, als eine ?lose? Frau, die oft als Freiwild angesehen wird.

Welches sind die gängigsten Formen, in denen eine Zeitehe praktiziert wird?
Sudabeh Mortezai: Das klassische Szenario ist ein etwas älterer, verheirateter Mann, der vielleicht Kinder hat und der nun in der Midlife-Crisis eine Affäre oder eine Geliebte möchte. Frauen sind meist geschieden oder verwitwet, das aber oft sehr jung - vielleicht Mitte zwanzig. Sie kommen aus einer Gesellschaftsschicht, wo sie als Teenager verheiratet wurden. In meiner Recherche kamen immer die gleichen Geschichten vor, dass der Mann drogensüchtig oder gewalttätig war, oft beides. Es sind also noch sehr junge Frauen, die eine Ehe hinter sich haben und die sich von einem älteren Typen als Mätresse aushalten lassen, weil sie oft keine andere Möglichkeit haben. Es kommt aber auch vor, dass die Zeitehe in allen Gesellschaftsschichten und Altersstufen ein Mittel ist , eine Beziehung zu legalisieren. Im Iran kann ein Paar kein Hotelzimmer nehmen, wenn es nicht verheiratet ist. Für Männer und Frauen, die nur befreundet sind, ist es eine Möglichkeit, für die Dauer eines Urlaubs z.B. eine Zeitehe einzugehen, damit sie gemeinsam verreisen können.

Ist es kompliziert, eine Zeitehe zu schließen?
Es geht total einfach. Die einfachste, theologisch korrekte Form wäre die, wenn das Paar selber die Zeitehe ausspricht. Die Urform ist die, dass die Frau sagt „Ich werde Deine Frau für die Dauer von dann bis dann zu diesem Brautgeld.“ und der Mann sagt, „Ich akzeptiere“. Dann wäre die Ehe schon legal. Es ging in der Urform der Zeitehe nur darum, sich über die Dauer und die Höhe des Brautgeldes zu einigen. Was auf den Prostitutionsaspekt hinweist. Das wird auch rechtlich im Iran nicht mehr anerkannt, weil zu viel Promiskuität entstehen würde. Jetzt muss man im Iran zu einem Heiratsbüro gehen, wo auch die normalen Ehen geschlossen und die Scheidungen vorgenommen werden. Diese Büros werden meist von einem Mullah geführt, das geht sehr schnell und formlos, man bekommt ein Dokument mit den Fotos der beiden, in dem die Dauer und das Geld festgehalten sind.

Der Film beginnt ein für den Iran spezielles gesellschaftspolitisches Phänomen zu dokumentieren, relativ bald entwickelt sich dies aber zu einer Bestandsaufnahme über die Sexualmoral in der Gesellschaft und darüber, wie sehr diese staatliche Kontrolle der Sexualmoral für viele Menschen einen ganz fundamentalen Einfluss auf die Existenz einnimmt.
Sudabeh Mortezai: Ich bin sehr froh, wenn es so wahrgenommen wird, denn das war es was mich hinter dem Thema der Zeitehe interessiert hat. Es war zu Beginn sicherlich die Idee, dass man sich sagt, Zeitehe ist ein Begriff, der spannend ist, weil es etwas ist, das man nicht kennt. Nur das Phänomen Zeitehe aufzuzeigen hätte für mich keinen Film gemacht. Es hat mich interessiert, über die Sexualität gesellschaftliche Strukturen anzuschauen: Wie sieht Kontrolle aus, wie entziehe ich mich ihr oder wie gehe ich damit um? Ich freue mich, wenn Reaktionen kommen, die den Film nicht nur als einen Film über den Iran oder eine islamische Gesellschaft sehen. Ich finde, es betrifft uns hier genauso. Die Art von Beziehungen, wie man sie im Film sieht, gibt es ja hier auch. Sie heißen nur anders. Ich wollte mir die Beziehungen innerhalb der gesellschaftlichen Struktur anschauen, wie die Wechselwirkung zwischen öffentlicher Kontrolle und Privatsphäre funktioniert.

Es zeigt, wie sehr es die Menschen in ihren Grundfesten betrifft und zwar die Frauen wie die Männer.
Sudabeh Mortezai:  Das halte ich für einen spannenden Punkt. In Diskussionen,  wenn es um den Islam geht oder in feministischen Diskursen wird immer nur von Frauen als Opfer gesprochen. Der junge Mann mit der Internet-Plattform bringt es sehr gut auf den Punkt: er sagt, was die Frauen diskriminiert und die Männer privilegiert, bleibt ja nur an der Oberfläche ein Privileg für die Männer. In Wirklichkeit ist es auch schlecht für die Männer. Eine Gesellschaft, die die Frauen diskriminiert oder einschränkt, macht mit den Männern dasselbe, nur über den Umweg der Frauen, nur weniger bewusst. Wenn man von arrangierten Ehen oder Zwangsehen spricht, redet man immer nur von der Braut. Mann wirft nie die Frage auf, ob vielleicht auch der Bräutigam diese Frau gar nicht heiraten will. Im Iran gibt es immer mehr selbst gewählte Liebesheiraten. Eine Generation zurück gab es eigentlich nur arrangierte Ehen. Meine Beobachtung war, dass die Männer genauso darunter leiden, sie haben sich ihre Braut auch nicht ausgesucht, sind vielleicht nicht glücklich mit ihr oder hatten vielleicht andere Pläne, andere Vorstellungen. Es herrscht ein ebenso starker patriarchaler Druck auf den jungen Männern, die sich dem System beugen müssen.

Es scheint ein unglaublicher Systemdruck auf die Intimsphäre zu herrschen, der sich letzten Endes auf die Gesellschaft als Ganzes große Auswirkungen hat.
Sudabeh Mortezai: Das Reglementieren der Intimsphäre der Menschen wird gleichzeitig zum politischen Phänomen. Der berühmte alte Spruch ?Das Private ist politisch? zeigt sich besonders deutlich, wenn man sich diese Gesellschaft anschaut. Ich glaube aber, es geschieht in anderen Gesellschaften auch, dass auf die Intimsphäre der Menschen Einfluss geübt wird, wenn auch versteckter. Und davon sind eindeutig Männer wie Frauen betroffen, auch wenn Frauen stärker diskriminiert werden.
 
Es ist dennoch erschütternd zu hören, unter welch archaischen Moralvorstellungen in erster Linie Frauen zu leiden haben. Ich denke an die Szene, wo die beiden Schwestern bei der Anwältin sind.
Sudabeh Mortezai: Absolut. Dennoch gilt zu beachten, dass auf Ehebruch für Frauen wie für Männer Steinigung steht. Aber Männer haben vielmehr legale Möglichkeiten, ihre Sexualität auszuleben und dazu kommt, dass das patriarchale System gegen die Frauen entscheidet. Es gibt Polygamie, d.h. ein Mann darf vier Frauen legal heiraten und unendlich viele Zeitfrauen gleichzeitig haben, eine Frau darf nur monogam leben und auch nur eine Zeitehe eingehen. Dadurch ist schon wieder eine Ungleich-Behandlung und damit eine Doppelmoral da, die bei Frauen und Männern ungleiches Maß anlegt.

Es gibt die Szene mit dem Imam, der zu dem jungen Mann sagt „Bist du jetzt auf der Seite der Frauen oder der Männer?“ Es klingt ja beinahe so, als würden die beiden Kräfte, die eine Gesellschaft konstituieren, als verfeindete Lager angesehen. Haben Sie diesen Eindruck gewonnen?
Sudabeh Mortezai:  Ja, leider. Ich glaube, dass es zumindest im System so ist. Im Privaten gibt es sicherlich Menschen, die anders damit umgehen. Wenn wirklich Liebe im Spiel ist, dann glaube ich schon, dass sich Menschen auch über die Regeln der Gesellschaft hinwegsetzen können. Deshalb haben repressive Systeme auch soviel Angst vor der subversiven Kraft Liebe. Liebende Menschen sind gefährlich, weil sie sich nicht kontrollieren lassen. Es ist sicherlich nicht so, dass alle Menschen systemkonform funktionieren. Ich bin mir allerdings sicher, dass Fronten definiert werden. Ganz extrem in der iranischen Gesellschaft, aber auch hier bei uns. Die Aussagen von Männern und Frauen zum Film haben immer wieder auch gezeigt, dass auch hier so etwas wie Fronten bestehen. Man ertappt durchaus aufgeklärte europäische Männer, dabei, dass sie mit einer gewissen Genugtuung zu den extrem sexistischen Aussagen der Mullahs  schmunzeln. Hier ist es gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, aber so ein Gefühl von  „Dort haben die Männer noch das Sagen“ kommt manchmal auf.

Man wird in dem Film zum einen mit den ganz strengen Vorschriften konfrontiert, man denke an Aussagen der Mullahs oder der Anwältin, andererseits wird  in manchen Szenen auch deutlich, wie Vorschriften nicht so streng gehandhabt werden und eine Doppelmoral praktiziert wird.
Sudabeh Mortezai: Das ist ein wichtiger Punkt. Man nimmt ja von außen betrachtet den Islam oder den Iran als einen strengen, monolithischen Block war. Man stellt sich vor, dass dort alle nach System ticken, obwohl wir es hier nicht tun. Wieso sollte es dort anders sein. Jede Gesellschaft hat ihre Regeln, das heißt aber noch nicht, dass in einer Gesellschaft alle die Regeln auf dieselbe Art befolgen. Es handelt sich um Individuen, die darauf reagieren - der eine konformistisch, der andere rebellisch. Ich halte es für wichtig, dass das im Film durchkommt. Gleichzeitig ist für mich der Filmtitel Im Bazar der Geschlechter auch programmatisch. Man redet so gerne vom Kampf der Geschlechter und im Bazar der Geschlechter geht es mir um das Aufweichen, ums Verhandeln. Es gibt Fronten, es gibt Regeln und es gibt auch die Wege, wie man damit umgeht. Das Konzept der Zeitehe ist im Prinzip ein Schlupfloch in einem strengen System, wie ein Ventil. Ich glaube, dass alle geschlossenen Systeme dieses Ventil haben, es kann nicht total geschlossen sein, weil Menschen einfach nicht so funktionieren. Wenn man es kulturell betrachtet, dann neigen die Menschen im Iran dazu, sich Auswege und Schlupflöcher zu suchen, mit viel Humor durch dieses repressive System durchzunavigieren und sich so Freiräume zu schaffen. Eine bestimmte Art von politischer Dissidenz und sei sie auch noch so subtil, wird im Iran ganz streng geahndet, aber diese Art von Subversion wie die des Taxifahrers, der verbotene Musik spielt oder die jungen Frauen, die mit dem Mullah flirten und sich über ihn lustig machen, das ist gang und gäbe. Es ist Teil der Kultur, damit umzugehen. Das Regime muss es bis zu einem gewissen Grad akzeptieren, es übt schon sehr viel Kontrolle aus. Alleine die Kopftuchpflicht, ist ein Gebot, an das sich alle halten. Dieses kleine Stück Stoff ist ein Zugeständnis und sagt, ich habe mich diesem System gebeugt. Das Regime übt sehr viel Macht aus, aber es gibt Freiräume und die muss es auch geben, sonst funktioniert es gar nicht.

Wie einfach war es, Menschen zu finden, die bereit waren, vor der Kamera zu sprechen?
Sudabeh Mortezai: Generell war es extrem schwierig, Frauen zu finden, die darüber reden und auch vor die Kamera treten würden. Daran bin ich beinahe verzweifelt. Ich dachte sehr lange, den Film nicht realisieren zu können, weil ich das Gefühl hatte, es sei unmöglich, die weibliche Perspektive auch nur halbwegs in den Film integrieren zu können, weil es so tabuisiert ist und die meisten Frauen nicht darüber reden wollen. Es war ein sehr harter Kampf, die Frauen dazu zu bewegen, zumindest einen Teil ihrer Geschichte preiszugeben. Ich habe mit einer Unzahl von Frauen gesprochen, unglaublich interessante Geschichten gehört, aber es ist eine Tatsache, die man akzeptieren muss, dass viele nicht vor der Kamera sprechen wollen. Bei den Mullahs war es genau umgekehrt. Die fanden es ganz toll und ich hätte noch viele Mullahs mehr vor der Kamera haben können. Sie vertreten ihre Haltung mit Stolz und haben keinerlei Scheu, sie sprechen sehr offen über Sex. Sie sehen das sehr pragmatisch. Man muss dazu auch sagen, dass der Islam ein anderes Konzept von Sexualität hat als das katholische Christentum, das wir im Hinterkopf haben, wenn wir es reflektieren. Es gibt im Islam kein Zölibat, die meisten Mullahs heiraten und haben Kinder. Sexualität wird ja auch losgelöst von der Fortpflanzung als etwas Positives gesehen. Sowohl Mann als auch Frau haben das Recht auf sexuelle Erfüllung. Sexualität ist nicht auf dieselbe Art tabuisiert wie hier. Die Freiheit der Frau ist tabuisiert, aber nicht die Sexualität an sich. Man spricht dort viel gelassener über Sex als bei uns. Bei einer Frau, die sich die Freiheit nimmt, ihre Sexualität frei zu leben, beginnt allerdings das Tabu. Das ist meine Beobachtung. Die Mullahs waren auch deshalb so offen, weil ich ihnen sehr neutral begegnet bin. Ich halte mich mit meiner Meinung sehr zurück und möchte, dass sich meine Gesprächspartner frei fühlen, ihre Meinung zu äußern. Auch wenn es mir manchmal schwer fällt, wenn ein Mullah eine sexistische Aussage nach der anderen von sich gibt, nicht zu reagieren und den Standpunkt als solchen stehen zu lassen. Ich will ja zuerst mal feststellen, worauf der hinaus will. Das hat ihnen sehr imponiert, denn sie sind es gewohnt, wenn sie im Iran mit Frauen diskutieren, dass die sehr schnell mit ihnen zu streiten beginnen. Allein die Tatsache, dass ich ihnen zugehört habe, anstatt zu reagieren, hat viele motiviert, im Film mitzuwirken. Interessanterweise hatte der jüngere Mullah, der dann auch ein Protagonist wurde, eher Zweifel und stand dem Ganzen etwas ambivalent gegenüber. Das hat mich auch so an ihm interessiert. Ich wollte unbedingt mit ihm arbeiten, weil ich das Gefühl hatte, er repräsentiert ein System, an dem er selber oft seine Zweifel hatte. Ich fand ihn so spannend, weil er so hin- und hergerissen war, er spürte, dass die Gesellschaft seinen Standpunkt nicht wirklich akzeptiert. Er hat immer versucht, ihn zu vertreten. Seine Zerrissenheit fand ich sehr spannend.

Wie haben Sie die Protagonisten gefunden, die die Privatsphäre repräsentieren?
Weitere Protagonisten waren Reza und Mehri. Reza kenne ich schon sehr lange, weil er bei früheren Projekten für mich als Fahrer gearbeitet hat. Bei einer meiner Recherchen hat er mich nach dem Thema meines neuen Projekts gefragt. Und als ich sagte ?Zeitehe? meinte er, er sei der Spezialist dafür. Er hatte schon sehr viele Zeitfrauen gehabt, ich hab durch ihn sehr viele Frauen kennengelernt, die aber leider abgesehen von Mehri nicht im Film sein wollten.  Im Laufe der Zeit hat sich Reza selbst als sehr spannende Figur herauskristallisiert, als der einsame Junggeselle, der sich nicht binden will, der so eine Sehnsucht nach Nähe und so eine Angst vor Bindung hat. Auch seine Beziehung zu Mehri ist interessant, er schimpft über sie, wenn sie nicht da ist, will aber immer zurück zu ihr, sie ist fast etwas wie die Mama für ihn. Und sie hat ja auch eine liebevoll belustigte Haltung zu ihm gefunden, sie ist sehr hart im Nehmen, aber sie braucht ihn in gewisser Weise auch. Ich fand es sehr berührend, innerhalb dieses Systems, wo es um Business geht und es darauf hinausläuft, dass der Mann von der Frau Sex kauft, dann doch zu diesen ganz normalen, menschlichen und auch traurigen Geschichten zu begegnen. Da ich ihn schon länger kenne und sie durch ihn auch besser kennen lernte,  wurde es mir möglich, in diese psychische Sphäre einzutauchen und musste nicht nur an der Oberfläche bleiben.
 
Schwieriger war es wahrscheinlich, die beiden Schwestern vor die Kamera zu bekommen?
Sudabeh Mortezai: Die beiden Schwestern habe ich nach langer Suche über viele Ecken gefunden, weil sie beide als Kranken- und Altenpflegerinnen gearbeitet haben und dafür über eine Agentur für die Hausbesuche vermittelt wurden. Geschiedene Frauen arbeiten oft in Pflegebrufen. Der Mann, der sie über die Agentur vermittelte, hat mitbekommen, dass viele von ihnen Zeitehe-Geschichten hatten. Mit den beiden Schwestern hat es von Beginn an gut mit dem gegenseitigen Vertrauen zwischen uns funktioniert. Sie wollten, dass ihre Privatsphäre bis zu einem gewissen Grad geschützt wird, dass man z.B. nicht erkennt, wo sie wohnen, wir haben auch die Familiennamen weg gelassen. Ich schaue dann immer, was im Leben dieser Leute wichtig ist und was man davon filmen könnte. So ergab es sich, dass dieser Schönheits- und Frisiersalon so etwas wie ein Refugium darstellte, wo sie sich gerne mit Freundinnen trafen. Ein sehr ambivalenter Ort, denn es ist ein stickiges Souterrain, ein Ort, der fast etwas von einem Gefängnis hat und für sie dennoch einen Ort der Befreiung von der Welt draußen darstellte, wo sie offen zueinander sein können. Das schien mir der geeignete Ort, um eine Atmosphäre zu schaffen, wo sie reden können. Es kam auch vor, wenn wir gefilmt haben, dass Frauen da waren, die einander noch nicht kannten. So kam es, dass sie einander ihre Lebensgeschichten erzählten, die ganz ähnlich waren. Das hat auch noch eine neue Dynamik hineingebracht.

Es entsteht der Eindruck, dass der Dreh sehr prozesshaft verlief und sich viel im Laufe des Drehs ergeben hat.
Sudabeh Mortezai: Ja, einiges. Bei diesem Film war es wirklich schwer, vorauszuplanen. Es war kein Thema, wo man den Leuten einfach mit der Kamera folgen konnte, da ich in sehr private Bereiche eindringen wollte. Es hätte nicht genügt, nur mit der Kamera dabei zu sein. Es gibt szenische Momente, wo die Kamera nur beobachtet hat, es gab aber auch Momente, wo wir sagen mussten, jetzt wollen wir, dass diese beiden Menschen sich treffen und wir schauen, was dabei rauskommt. Es hat sich aber auch aufgrund vieler Unsicherheiten prozesshaft sehr vieles ergeben, z.B. durch Leute, die plötzlich mitten im Dreh kalte Füße bekommen haben und nicht mehr weiter drehen wollten und wir eine Figur wieder aufgeben mussten. Es war schon sehr schwierig. Ich habe oft versucht, aus den Gesprächen mit den Leuten herauszuhören, was die typischen und interessanten Situationen in ihrem Leben sein könnten, die mit Film zu tun haben und so die Leute zusammenzubringen. Z.B. die Taxifahrt, wo Reza unseren Mullah nach Qom fährt. Ich hab sie einander vorgestellt, ich sagte mir, schauen wir mal, was passiert, wenn sie gemeinsam fahren. Das ist der Grad der Inszenierung oder des Provozierens von Situationen, mit dem wir gearbeitet haben. Dann haben sich oft Dinge von sich aus ergeben, wie z.B. diese Weissagung in Qom, wo der Groß-Ayatollah den Koran aufschlägt. Das ist uns einfach zugefallen.

Ähnlich spontan wirkt auch die Szene in Rezas neuer Wohnung mit seinem Makler?
Sudabeh Mortezai: Reza war schon längere Zeit obdachlos, auch aus dem Grund, dass er nicht verheiratet war. Er hat im Auto geschlafen. Er war lange auf Wohnungssuche, mit Maklern mitzugehen war eher schwierig, in diesem Fall war es ein Freund, der ihm die Wohnung zeigen wollte, das haben wir genutzt. In diese Wohnung ist er dann auch eingezogen, weil dank des Freundes ein Auge zugedrückt wurde.

Auch dieser junge Mann ist geschieden, die Scheidungsrate scheint sehr hoch zu sein?
Sudabeh Mortezai: Die Scheidungsrate ist sehr hoch, auch wenn ich keine konkrete Zahl hätte. Es werden vor allem sehr junge Ehen geschieden.  Die älteren Generationen, die bereits seit Jahrzehnten zusammen sind, gehen nicht auseinander, es lassen sich jetzt aber sehr viele junge Leute nach zwei, drei Jahren Ehe wieder scheiden.

Man erfüllt die Verpflichtung Ehe, um dann in eine Freiheit gehen zu können...
Sudabeh Mortezai: Genau. Das ist sehr oft bei den jungen Leuten der Fall. Es passiert gerade ein Umbruch aus einer traditionellen Gesellschaft in eine neue Lebensform. Einerseits ist da für Mädchen wie Jungen der Druck der Familie, heiraten zu müssen, andererseits haben alle den Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen. So sagen sich viele „Erledigen wir das jetzt einfach.“ Wenn es klappt, klappt es, wenn nicht, dann lassen wir uns scheiden. Und sehr oft lassen sie sich scheiden. In Schichten mit höherer Bildung und höherem Einkommen ist es danach für die Frauen kein Problem, ein eigenständiges Leben zu führen. Wenn sie weder Geld noch Ausbildung haben, dann wird es für sie schwierig. Dann sind sie in der Sackgasse, dass sie als Geschiedene stigmatisiert sind und dann oft eine Zeitehe eingehen müssen, um überleben zu können.

Wen man nicht im Film sieht, sind ganz junge Frauen. Wie würden Ihrer Meinung nach unverheiratete Frauen zu dem Thema stehen?
Sudabeh Mortezai: Junge Frauen kommen hauptsächlich aus dem Grund nicht vor, weil sie Zeitehe kaum praktizieren. Es gibt ja einerseits das Gebot der Jungfräulichkeit, d.h. eine Frau, die noch Jungfrau ist oder für eine gehalten wird, würde schon aus dem Grund keine Zeitehe eingehen, weil sie aus traditioneller Sicht damit ihr größtes Kapital auf dem Heiratsmarkt verspielt hätte. In der Realität habe ich die Beobachtung gemacht, dass die ganz jungen Frauen sehr oft einen Freund, auch Sex vor der Ehe haben und sich für das Thema gar nicht mehr interessieren. Für die jungen Leute unter 25 ist das kein Thema mehr. Ich hab von vielen jungen Frauen gehört, dass sie gar nicht heiraten wollen oder vorerst nicht daran denken, lieber studieren, Karriere machen, auch keine Kinder wollen. Das interessiert sie nicht. Da zieht sich schon ein Bruch durch die Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, junge Frauen aus traditionellen Verhältnissen wollen ihre Jungfräulichkeit bewahren, wenn sie moderner sind, interessiert sie das ganze Thema nicht mehr.
Ist die Zeitehe eine Option als Probelauf für eine zweite Ehe nach einer Scheidung?
Sudabeh Mortezai: Ich habe interessanterweise besonders von Frauen, die schon eine Scheidung hinter sich hatten, gehört, dass sie eigentlich ganz froh sind, dass es die Zeitehe gibt. Wenn sie mit einem Mann zusammensein wollen, möchten sie das auch legalisieren, vor allem um von der Sittenpolizei nicht behelligt zu werden. Sie haben aber keine Lust mehr auf den ganzen Scheidungsstress. Die Scheidung durchzukämpfen, ist für eine Frau ein sehr hartes Unterfangen, weil im Prinzip ja nur der Mann das Scheidungsrecht hat. Die Frau muss es bei Gericht einklagen. Die einmal erkämpfte Autonomie wollen sie nicht mehr aufgeben. Die Zeitehe bedarf keiner Scheidung, sie läuft einfach aus, wenn sie will, kann sie verlängern oder auch ihre Ruhe haben. Bei den geschiedenen Männern ist es so, dass sie oft sehr hohe Brautgeldzahlungen an ihre Ex-Frauen machen müssen, sie sind wiederum froh, dass sie bei der Zeitehe deutlich weniger finanzielle Verpflichtungen haben. Bei der richtigen Ehe wird das Brautgeld so absurd hoch angesetzt, da geht es schon mal um 10 oder 20.000 Euro, manche Leute können sich das nie leisten. Es ist die Versicherung für die Frau, sich gegen das einseitige Scheidungsrecht des Mannes abzusichern. Wenn es zu einer Scheidung kommt, muss der Mann das auszahlen. Kann er es nicht, kann sie es einklagen und er unter Umständen ins Gefängnis müssen. Für geschiedene Leute ist die Zeitehe oft eine angenehme Art, eine Beziehung zu legalisieren, ohne beiderseits zuviel Verpflichtungen eingehen zu müssen.

Finden Sie, dass der junge Mann, der die Internet-Site zur Zeitehe betreibt und mit einer sehr intelligenten und progressiven Sicht auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau beeindruckt, repräsentativ für eine neue Generation ist.
Sudabeh Mortezai: Ja, ich glaube schon. Er nimmt einen kleinen Raum im Film ein, aber ich glaube nicht, dass er eine Ausnahme darstellt. Er steht für mich für eine Zukunftsperspektive. Ich habe mit sehr vielen jungen Leuten geredet und weiß, dass sich die Sexualmoral im Iran sehr verändert hat. Die jungen Männer haben ganz anders als ihre Vätergeneration verstanden, dass es nicht darum geht, die Interessen der Männer zu wahren, sondern dass es notwendig ist, wenn sie sich selber frei fühlen wollen, dass da auch die Frauen frei sind. Sie erleben das am eigenen Leib. Wenn ein junger Mann eine Freundin haben will und die Mädchen nichts dürfen, dann darf er ja auch nichts.

Kann er halbwegs ungestört seine Website betreiben?
Sudabeh Mortezai:  Ja. Das Schlimmste, das ihm passieren kann, ist, dass sie ihm die Website sperren, was auch immer wieder passiert.  Das sind die Menschen im Iran gewohnt, wenn eine Website gesperrt wird, dann wird wiederum eine Anti-Filter-Software installiert und man kann sich’s trotzdem anschauen. You-Tube oder Facebook sind ja auch offiziell gesperrt und man kommt trotzdem ran. Er hat ein sehr intelligentes Konzept, er betreibt eine Zeitehe-Website, was theologisch korrekt und legal ist, manchmal stellt er Fatwas von Groß-Ayatollahs auf die Homepage, die dann sagen, dass die Zeitehe legal ist. Er führt eine Partner-Vermittlung, von der ich nicht weiß, wie erfolgreich sie ist. Ich glaube eher nicht so sehr, weil ich glaube, dass sich die Leute auf anderem Wege kennen lernen. Er promotet sexuelle Freiheit vor allem für Mädchen in einem legalen Rahmen.

Im Bazar der Geschlechter  evoziert nicht nur den geschäftlichen Aspekt in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, man verbindet damit auch das Bild eines bunten und chaotischen Durcheinanders?
Sudabeh Mortezai: Genau. Es bringt für mich die tatsächliche Situation so gut auf den Punkt, es herrscht ein totales Chaos. Es herrscht eine unheimliche Reglementierungswut und gleichzeitig sind Menschen eben Menschen und wollen sich ihre Freiheiten nehmen oder sich ihr System selber zurecht legen. Wenn man versucht, Regeln gegen den Willen der Menschen zurechtzusetzen, entsteht Widerstand und daraus diese komplexe Situation.

Würden Sie Ihre Sicht auf die aktuelle Situation im gesellschaftspolitischen Sinne optimistisch einschätzen?
Sudabeh Mortezai: Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, es herrscht zur Zeit eine Phase der Verwirrung im Iran, wo alte Wertvorstellungen gefallen sind und sich stattdessen noch keine neuen etabliert haben. Es gab sehr traditionelle Vorstellungen von dem, was richtig und falsch, was gut und schlecht  ist und die sind schon sehr stark aufgebrochen bzw. von den jungen Leuten ad acta gelegt worden. Sie befinden sich aber noch auf der Suche nach den neuen Wertvorstellungen, deshalb habe ich das Gefühl, dass diese junge Generation teilweise sehr verwirrt ist, wohin es gehen soll. Teilweise stürzen sie sich in Promiskuität, ohne sich im Klaren zu sein, was sie eigentlich wollen. Ich halte das für eine sehr normale Reaktion und ich finde, sie können sicherlich mit dieser Entwicklung auch wesentlich dazu beitragen, die Werte neu zu definieren, die nur sie definieren können. Es wäre anmaßend zu sagen, das muss durch die Elterngeneration geschehen oder von außen oder durch den Westen. Das wird sich sehr gut von alleine reglementieren. Gerade die Vermischung von Religion und Politik und die Tatsache, dass es eine islamische Republik gegeben hat, hat die Leute säkularisiert. Eine ganze Generation hat ist damit aufgewachsen, und hat darunter gelitten, wie die Vermischung von Politik und Religion in ihre Privatleben eingreift. Sie haben das satt. Sie vertreten von sich aus den Wunsch, dass Religion und Politik getrennt sind, dass kein Einfluss in ihre Intimsphäre genommen wird. Ich halte es für wichtig, dass es aus einer inneren Erfahrung herauskommt.

Haben Ihre beiden Arbeiten Children of the Prophet und Im Bazar der Geschlechter Ihr Verhältnis zum Land Ihrer Kindheit verändert und neu geprägt?
Sudabeh Mortezai: Wenn ich heute als Filmemacherin in den Iran fahre habe ich eine doppelte Position als Iranerin und Außenseiterin zugleich. Einerseits spreche ich die Sprache und verstehe die Kultur und kann also den Menschen auch sehr nahe kommen, andererseits kann ich auch einen distanzierten Blick auf die Gesellschaft werfen. Das ist sehr hilfreich. Die iranische Gesellschaft hat sich seit meiner Kindheit extrem verändert. Ich besuche ein anderes Land, als das, in dem ich aufgewachsen bin. Die junge Generation hat ganz andere Wert- und Moralvorstellungen als meine Generation. Der Iran der 70er Jahre unter dem Regime des Schah war oberflächlich gesehen sehr modern, aber unter der Oberfläche war ein sehr traditionelle, auch religiöse Gesellschaft. Die Frauen trugen zwar Miniröcke und es gab Bars und Diskotheken, aber am Gebot der Jungfräulichkeit vor der Ehe hat niemand gerüttelt. Wenn man so will, war der Iran, in dem ich aufgewachsen bin, viel spießiger als der heutige Iran. Das ist für mich eine spannende Entdeckung. Gerade wegen 30 Jahre „Islamische Republik“ hat eine Säkularisierung von innen stattgefunden. Die Menschen haben genug von dieser Vermischung von Religion und Staatsgewalt. Die junge Generation definiert ihre Wert neu. Deswegen bin ich auch sehr optimistisch, was die Zukunft des Iran betrifft. Die Jugend und die Frauenbewegung sind die zwei Kräfte, die den Iran schon längst revolutionieren.
 
Interview: Karin Schiefer
März 2010