INTERVIEW

Benjamin Heisenberg und  Martin Prinz über DER RÄUBER

 

«Man hat mit einem Charakter zu tun, der von einer Kraft getrieben ist, die in ihm waltet, die er nicht kontrollieren kann und der er folgt.» Benjamin Heisenberg und Martin Prinz im Gespräch über Der Räuber 


Die Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion hat vor einigen Jahren die Rechte auf Ihren Roman Der Räuber erworben. Wie reagiert man als Autor zunächst, wenn jemand den zum Lesen geschaffenen Stoff in einen Film übersetzen will?
Martin Prinz: Interessanterweise erhielt ich schon nach Erscheinen des Buches häufig das Feedback, dass es ein sehr filmisches Buch sei und ich bin dem Wort "filmisch" in Zusammenhang mit meinem Buch immer wieder begegnet. Ich hegte dem gegenüber immer ein gewisses Misstrauen und das Drehbuchschreiben war dazu eine schöne Probe. Jene Szenen, die nicht nur Literaturexperten, sondern auch Filmkritiker als besonders filmisch empfunden haben, waren eigentlich überhaupt nicht zu gebrauchen. Weder atmosphärisch noch in der Technik, die "Gelenke" mussten wir vollkommen neu einsetzen.  Meine erste Reaktion auf die Einladung der NGF Filmproduktion war sehr positiv. Ich stellte aber gleich klar, dass ich sicher beim Schreiben nicht mitmachen würde, weil mir bewusst war, dass ich diese Geschichte kein zweites Mal in einem anderen Medium erzählen könnte. Da würde mir die einmal erzählte Geschichte viel zu sehr im Weg stehen. Das war unmöglich.  Und dann muss ich dazu sagen, dass ich mir unter den österreichischen Filmemachern, von denen ich einige sehr schätze, niemanden vorstellen konnte, der das Buch verfilmen könnte. Ich sagte mir ganz pragmatisch ? wunderbar, wenn das Buch verfilmt wird, das bringt mir sicherlich Geld. Wenn man von der Literatur leben möchte, ist das ja nicht unwichtig. Eine meiner ersten Fragen war, an welche Art von Regie gedacht wurde und da war die Antwort - "so jemand wie Benjamin Heisenberg."  2005 war gerade Schläfer in Cannes gelaufen, aber Benjamin war damals bei coop99. Ich dachte mir, mal sehen, wen sie finden.  Nach einigen Absagen aus Termingründen ist Benjamin doch gefragt worden und so ist es zustande gekommen.  

Benjamin Heisenberg: Ich habe auf die Anfrage hin, auf dem Weg zur Berlinale den Roman gelesen und war sehr begeistert, auch weil ich schon seit langem ein Fan von Bankraubfilmen bin. Ich sagte dann lustigerweise, ich würde es gerne mit Martin schreiben, einerseits weil ich Schläfer alleine geschrieben hatte und Lust hatte, mit jemandem gemeinsam zu schreiben. Andererseits fand ich das Buch toll geschrieben und es reizte mich, mit dem Autor zu arbeiten, auch weil ich von Literatur nicht so viel Ahnung habe und dachte ich könnte etwas lernen. So ist es auch gekommen. Ich war froh, dass Martin zugesagt hat, mitzuschreiben.  

Martin Prinz: Als dann feststand, dass Benjamin Regie machen würde, war es für mich auch denkbar mitzumachen. Aus Schläfer kannte ich seinen Blick und seine Bilder und ich sagte mir, er wird auch einen Blick für den "Räuber" haben und die Geschichte in eine andere Richtung heben, wo ich wieder einsteigen kann. Am anderen Ufer, wenn man so will. Er wird genau das machen, was ich nicht kann und dann kann es auch bei mir wieder losgehen.  

Haben Sie dann einen filmischen "Gegenentwurf" geschrieben, von dem  aus Sie gemeinsam aufs Endergebnis hinarbeiten konnten?

Benjamin Heisenberg:  Ich habe mal in einem ersten Schritt den Roman genommen und die Handlung exzerpiert, habe den inneren Monolog herausgenommen, Handlungsteile herauskopiert und geschaut, was passiert, wenn ich das einfach mal nur so hinlege. Bereits da musste man schon ein bisschen umschichten und es kam ein sehr interessanter Entwurf heraus. Man merkte aber sehr schnell, dass gewisse Erzählprinzipien im Roman, wie z.B. das Vor- und Zurückblicken in Nebensätzen nicht funktionierte. Da musste man ummodeln und wir begannen nach und nach auch deutlichere Linien zu ziehen: so wollten wir die Liebesgeschichte verstärken, die im Roman relativ zurückhaltend erzählt war. So kam das Buch peu à peu in Bewegung.  Ich hab die Erfahrung gemacht, dass man in einer ersten Drehbuchfassung meistens eine Form findet, die funktioniert und wenn man beginnt, daran herumzumodeln, dann bricht sie in sich zusammen und dann stimmt gar nichts mehr. Und zwar für ungefähr vier Versionen. So geschah es auch. Wir haben sehr viel geändert, bis das Buch ein ganz anderes war. Es gab irgendwann eine Version, vielleicht Nr. 8, wo die Familie von Erika vorkam und auch der Vater von Johann Rettenberger, Erika war Bewährungshelferin, es war wirklich ein komplett anderes Buch. Wir haben bis zur Version 13, die wir dann gedreht haben, sicherlich neunzig der hundert Seiten umgeschrieben. 

Martin Prinz: Die große Frage war immer die, wo ist die rote Linie, das Rückgrat der Filmgeschichte. Im Roman ist es die Flucht, an der sich alles aufhängt, die am Beginn und am Ende ist. Dass das im Film nicht geht, war uns von Anfang an deutlich. Dass es ein Alltags- oder ein Liebesleben, in diesem Fall ein sich in Luft auflösendes Liebesleben brauchte, war für uns im ersten Gespräch bereits klar. Ebenso wie klar war, dass es keine Reagan-Maske, keine achtziger Jahre, kein Vorbild im Gesicht geben sollte. Ein Grund, warum wir alles so oft umgekrempelt haben, lag in der Frage – Erzählen wir's chronologisch oder machen wir eine achronologische Version, die sich doch an der Flucht aufhängt? Mit der großen Frage: Kann man diese lange Flucht als eigenen zusammenhängenden Block im Film erzählen, der notwendigerweise der zweite Teil wird. Das hieße eigentlich einen Film schreiben, der aus zwei Teilen besteht. Welche Form der Balance ist möglich? Hält es sich die Waage? Jetzt habe ich das Gefühl, dass sich im Film ein Gleichgewicht entwickelt hat, das unheimlich spannend ist. Wir hatten aber große Angst beim Schreiben, dass diese lange Flucht nicht möglich ist.  
 

Warum sollte die Liebesgeschichte einen größeren Stellenwert bekommen?

Benjamin Heisenberg: Man hat mit einem Charakter zu tun, der von einer Kraft getrieben ist, die in ihm waltet, die er nicht kontrollieren kann und der er folgt. Es hat im realen Fall eine Liebesgeschichte gegeben und ich fragte mich, was macht die Liebe mit so einem Menschen? Wie können die beiden überhaupt eine Liebesbeziehung eingehen? Wieviel Schizophrenie und wie viel Mut von der Frau ist dabei, denn selbst wenn sie nicht weiß, dass er Bankräuber ist, muss sie Mut haben, sich in so einen Menschen zu verlieben, der solche Kräfte freilegt, dass er sicherlich kein normaler Partner sein kann.  

Martin Prinz: Im Buch hätte ich mir das nicht leisten können, da wollte ich an der Wirklichkeit dranbleiben. Das Buch entstand unter der Vorgabe, an der durch die Medien berichteten Wirklichkeit ganz genau dranzubleiben und die nicht berichteten Lücken, mit dem zu füllen, was meine Imagination ist bzw. was einer erzählerischen Ökonomie folgt. Insofern war eine andere Liebesgeschichte als die tatsächliche gar nicht möglich und von dieser wusste ich kaum etwas. Deshalb war sie am Rand. Im Film war es eine Herausforderung zu sagen, es gibt hier ein Erzählgelände, in dem nicht irgendeine Liebesgeschichte auftauchen kann, sondern nur eine ganz bestimmte Form, nämlich eine, die von vornherein unmöglich ist. Er beginnt nach dem Gefängnis sofort wieder zu rauben und da stößt Erika hinein. Ihm passiert etwas, was ihm eigentlich nicht passieren dürfte. Etwas, das seiner Maske, seiner Effizienz und seiner Lauf-Bahn nicht entspricht und auch fatal wird. Die Liebesgeschichte, die ein Leben nochmals in eine andere Richtung abbiegen lässt oder in eine Rettung führen kann, führt ihn in ihrem Glück ins Unheil. Je mehr Glück er zulässt, desto mehr führt sie ihn ins Verderben. Bei Liebesgeschichten, weiß man ohnehin nie, wo es hingeht. In dem Fall war klar, sie geht nirgendwo hin. Es bleibt immer die Liebe an ihrem größten Grad. Damit ist man in einer Intensität und einem so genau definierten Bereich von Wirklichkeit, dass es ganz spannend ist. Außerdem dachte ich mir, dass man unseren Räuber nicht einfach als jemanden erzählen kann, der aus dem Gefängnis kommt und der sofort wieder losschlägt, als gäbe es sonst nichts. Diesen Menschen gibt es nicht. Er kann aus dem Gefängnis kommen und er beginnt wieder loszuschlagen, dennoch vergehen die Wochen und Monate und in der Wirklichkeit und im Leben ist es auch so, dass einem auch etwas anderes zustößt. Und alles, was man tut, im Guten wie im Schlechten, tritt damit in ein Verhältnis. In diesem Fall ist es die Liebe. Damit geht eine so starke Spannung auf, in der erst klar werden kann, wie unheilvoll seine Banküberfälle sind.  

Kann man Euren Schreibprozess als ein gegenseitiges Regulativ in der Annäherung an die Geschichte betrachten. Und war in Anbetracht der Nähe zum Action-Kino auch der Rechenstift des Produzenten ein Regulativ?

Benjamin Heisenberg: Ich würde uns gegenseitig nicht als Regulativ betrachten. Wir haben sehr ausgiebig diskutiert, bei ganz vielen Dingen wussten wir aber, dass wir von einem Gefühl ausgingen, das wir beide gleichermaßen suchten und haben uns darin ganz schnell immer wieder getroffen. Wenn wir eine Lösung fanden, dann waren wir uns immer einig, das ist jetzt eine Lösung. Das ist nicht immer der Fall, wenn man zu zweit an einem Drehbuch schreibt. Es ist ein Glücksfall. Wir haben uns also nicht gegenseitig ausreguliert, auch wenn es natürlich Stilunterschiede in Fragen gab, wie schreibt man Dialoge oder wie und in welcher Ausführlichkeit schreibt man eine Szene? Der Rotstift des Produzenten hingegen ist ein absolutes Regulativ. Je näher man dem Dreh kommt umso deutlicher wird diese Wahrheit. Bei den ersten Sitzungen sagten die Produzenten, der Film, den ihr da gerade beschreibt, ist 1,5 Mio teurer als der, den wir planen. Ich begann daraufhin zu kürzen und nach zwei Monaten war der Film immer noch eine Mio zu teuer. Ich musste also wirklich ans Eingemachte gehen und da wurde es sehr schmerzhaft. Ich habe aber das Gefühl, dass für den Film dabei etwas Positives herausgekommen ist. Ich denke jetzt, dass wir die richtigen Sachen haben fallen lassen. Das hätte auch anders kommen können.  

Martin Prinz: Ich glaube darin kann man das Erzählen von Filmen auch mit dem von Romanen gleichsetzen. Meine Erfahrung sagt mir, dass es zwei parallele Konstanten gibt: bei guten Stellen und bei schlechten Stellen. Wenn man in einer Erzählabfolge eine Stelle entdeckt, die nicht funktioniert, dann ist es interessanterweise immer so, dass man auf der Suche immer daneben schaut. Man vermutet immer den Absatz davor oder danach. Dasselbe gilt für Stellen, die glücken oder bei Stellen, die man sich als glückende Stelle vorstellt. Man schreibt auf Szenen oder Stellen hin, von denen man im Konzeptstadium glaubt, dass sie besonders wichtig werden. Man schreibt dorthin, kommt an, schreibt weiter und stellt fest, dass die Stelle, von der man stets gedacht hat, dass sie besonders signifikant ist, genau jene ist, die raus muss. Die Passagen davor und danach sind oft viel besser und übertreffen bei weitem die Lücke ? das, was an Stelle der Lücke an Signifikanz gestanden wäre. So geht es mir oft mit Stellen, die ich in meinen Büchern streiche und so ging es mir definitiv auch beim Drehbuch. Wir haben grandiose Stellen gestrichen, die... 

Benjamin Heisenberg (unterbricht): ...halt! Nicht erzählen, die Sachen verwende ich noch im nächsten Film.  

(Gelächter) 

Martin Prinz: Aha – Na gut. Oder es gibt auch gedrehte Szenen wie jene, wo sich Andreas beim Start des Wien-Marathon nach vorne schleicht, von denen ich hoffe, dass sie auf die DVD kommen. Die sind für sich grandios schön, zum Teil nur gedacht, zum Teil geschrieben. Im Film haben sie keinen Platz. Erzählen ist ja keine Aneinanderreihung von Perlen.  

Benjamin Heisenberg: Was beim Schreiben auch ins Gewicht fällt, ist, dass man zwischen charakterbestimmten und plotbestimmten Szenen abwägt. Es fallen einem oft tolle Szenen ein, die in sich spannend sind. Man hat eine gute Idee und dann konstruiert man die Geschichte so, dass man da hinkommt. Irgendwann merkt man, dass es fünf Vorläuferszenen braucht und der Erzählaufwand viel zu groß ist, um eine schöne Szene herstellen zu können. Meistens ist es besser, sie rauszuschmeißen und dafür bei etwas Kleinerem zu bleiben, was dann den Charakter stärker beschreibt.  

Martin Prinz: Was die Streichungen vor allem gegen Ende betrifft, da muss man auch sagen, dass die jetzt hergestellte Ökonomie dieser Flucht und das Zu-Ende-Gehen sehr gut ohne die geplanten Verfolgungsszenen auskommt, weil sich am Ende des Films etwas vereinfachen muss. Es muss alles eigentlich wie von selbst gehen. Der Film muss, je näher er auf das Ende zugeht, umso einfacher in der Konstruktion der Aufeinanderfolge werden. Das Ende soll wie aus einer körperlichen Ökonomie heraus funktionieren. Dennoch war es kompliziert, zu dieser Einfachheit zu gelangen. Man darf nun den Rotstift nicht verherrlichen, aber er war ein guter Anstoß. Der glücklichste Moment im Erzählen ist oft der, wo man sich fragen kann, was kann ich jetzt alles herausnehmen? Mir geht es in meinen Büchern so und im Film kommt noch der Produzent dazu. Aber selbst in meinen Romanen würde ich mir manchmal einen Produzenten wünschen.  

Benjamin Heisenberg: Man beginnt ja beim Schreiben viel auszuprobieren, und so entsteht da und dort eine Baustelle. Für die nächste Fassung versucht man es wieder zusammenzufügen, dann holpert es an manchen Stellen noch. Man befindet sich in einem ständigen Überarbeitungsprozess beim Schreiben, beim Drehen und noch einmal beim Schneiden. Es ist wie eine Skulptur, wo man auf der einen Seite etwas Ton dranklatscht und auf der anderen Seite wegnimmt und man versucht immer wieder, die ganze Skulptur zu sehen. Wenn es gut geht, ist die Skulptur am Ende schön und hat etwas Berührendes. Auf gar keinen Fall sind alle Entscheidungen bewusst gefallen, sondern oft ganz intuitiv oder aus irgendwelchen Umständen. Es ist bei weitem nicht alles vorhersehbar, auch wenn es so aussieht, als wäre alles genau so geplant gewesen. Wir versuchen so viel wie möglich vorauszusehen, um so wenig wie möglich an spontanen Änderungen vornehmen zu müssen. Im Prinzip ist es aber ein fortlaufender Transformationsprozess bis hin zur letzten Abnahme der fertigen Kopie.  

Martin Prinz: So ist es auch in einem Roman, nur in einem anderen Register. Aber wenn ich eineinhalb Jahre an einem Roman schreibe, dann weiß ich zu Beginn noch nicht alles und außerdem spielt sich parallel dazu mein Leben ab. Notwendigerweise hat alles, woran man schreibt auch mit dem eigenen Leben zu tun, wenn auch in Verwandlungen und Abwandlungen. Das Ganze ist ein ständiges, bewusstes und unbewusstes Einflusssystem, von dem man ganz wenig weiß. Darum könnte man sich in so einem Team nie Regulativ sein, das würde bedeuten, dass man im Vorhinein weiß, wohin es führt, wie es dorthin führt und welche Rolle man dabei spielt. Zu erzählen beginnt man ja dann, wenn man etwas noch nicht weiß. Man arbeitet ja ständig an den dunklen Stellen der Geschichte. Man ist in einem Zweier-Team immer Blindenhund und Blinder, und das abwechselnd. 
 

Daraus hat sich auch ein anderes Ende ergeben als im Roman, wo der Protagonist Selbstmord begeht. 

Benjamin Heisenberg: Wir haben das Ende sehr lange nicht angefasst, weil wir uns sagten, wir bleiben bei der Realität. Dann kamen aber mehrere Faktoren zusammen, die doch noch zu Änderungen führten: Ich habe das Material gesichtet und wir waren zwischen den beiden Drehblöcken Sommer und Herbst in einem permanenten Schreibprozess, um das ganze Buch zu kondensieren und zu kürzen. Dabei entstand die Frage nach alternativen Enden.  Und wir kamen parallel zum gleichen Schluss, dass für diesen Charakter und für das, was wir im Dreh ?herausgeschält? hatten, ein langsamer, schleichender Tod, der wie ein langsames Ausatmen oder wie das Verenden eines Tieres ist, im Grunde viel besser passt als dieser spektakuläre Schluss, wo Rettenberger selbst noch ein Statement setzt, das in gewisser Weise pseudopolitisch ist. Im alten Schluss behielt er sich die Entscheidungshoheit, in dem er sich selbst umbringt. Das funktioniert im Roman auch sehr gut. Gleichzeitig fühlten wir, dass für dieses "Tier" und diese Kraft, die wir im Film schildern, für diese ständige Getriebenheit und auch die schicksalhafte Tragödie, die im Stoff steckt, der Selbstmord nicht passt. Das Ende musste ein natürliches sein. Je unspektakulärer der Ort und das Setting rundherum sind, umso transzendierter ist das Ganze, weil wir im Sehen und im Fühlen auf die Person und auf das Wesen selbst gestoßen werden.  

Martin Prinz: Benjamin hat ganz früh den Selbstmord als Variante für den Film in Frage gestellt, der Romanheld und auch der tatsächliche Bankräuber ist von hinten angeschossen worden und ist oben am Hügel stehen geblieben und hat sich in einem Akt der Selbstbehauptung erschossen, als er schon umzingelt war. Ich wollte mit meinem Romanende etwas Bestimmtes erzählen. Wir haben monatelang über den Selbstmord als solches diskutiert, ohne eine andere Lösung zu haben. Ich finde jetzt haben wir ein Ende gefunden, das ich für großartig halte, dennoch würde ich es etwas anders als Benjamin beschreiben. Ich sehe viel weniger das Tier, das verendet, sondern viel stärker den Menschen in seinem Schicksal. Das Fatum über ihm und er, der in den Seilen hängt und gar nicht anders kann. Es war für das Erzählende sehr wichtig, dass nichts anderes mehr möglich ist. Eine andere Grundkonstante  war, dass der Räuber eine falsche Fährte legt und einen anderen Mann mit seiner Jacke in seinem Auto voranfahren lässt und die Polizei dem hinterherfährt, während er dahinter aus der Flucht fallen kann. Dieses Abzweigen von der bisherigen Bewegung wollten wir herstellen. Das macht der Roman auf seine Weise, durch eine unrealistische Wendung, die für den Leser so faszinierend ist, dass er sie glauben will und diese Vorstellung genießt. Wir drehen die ganze Bewegung um, lassen ihn auf der Autobahn eine Spur legen, der die Polizisten folgen. Alle fahren an ihm vorbei, er verlässt die Flucht und er kommt an, jedoch im Tod. Das ist die Bedingung. Er kommt nirgendwo anders hin. In diesen Momenten ist er ganz wenig Tier, sondern ein Mensch und am Ende gibt es einen Stolz da drinnen. 

Benjamin Heisenberg: Ich mochte am Ende, dass das Leben an ihm vorbeizieht. Das, was sein Leben war, zieht an ihm vorbei und dann ist er allein. Der Film wird noch einmal sehr stark zur Liebesgeschichte, weil Erika nochmals sehr präsent ist und wir sind in diesen Momenten wahrscheinlich am stärksten im ganzen Film bei ihm. Gleichzeitig verendet er dort. Er bleibt wie ein Wild am Straßenrand liegen in einer grauen Landschaft, im Nieselregen. Das letzte Auto fährt vorbei, dann wird es still. Dieses irreale Ende, wenn die Autobahn leer wird, war mir sehr wichtig. Das gibt noch einmal so einen transzendenten Moment, weil ich die Geschichte so schicksalhaft fand.  

Es ging beim Dreh selbst sehr viel um seine Getriebenheit, um Bewegtheit, um Schnelligkeit, die teils in seinem Laufen, teils in Verfolgungsjagden von unglaublicher Schnelligkeit ihren Ausdruck erhält. Wie ließen sich diese Verfolgungsjagden umsetzen.

Benjamin Heisenberg: Mit Renate Schnaderer und zwei Locationscouts begann ich zunächst mal nach Orten zu suchen, weil Rettenberger ja so unglaublich viele Orte durchläuft. Dann haben der Kameramann Reinhold Vorschneider und ich versucht alles sehr genau mit Storyboards und Shotlists vorzubereiten.  Es wurde uns aber kurz vor dem ersten Drehblock klar, dass wir alle Auflösungen noch einmal verknappen mussten. Dadurch wurde das Drehen vor allem in der ersten Drehphase extrem intuitiv. Gleichzeitig gab es ein paar Sequenzen, auf die wir uns konzentrieren mussten. Zum Beispiel die Sequenz in der Astoria-Garage, wo Rettenberger durch flüchtet. Wir haben da eine Vielzahl an Einstellungen gedreht und nur ganz wenige genutzt, weil wir im Schnitt gemerkt haben, dass wir nur die Perspektive beibehalten wollten, bei der wir immer auf den Räuber schauen und kein klassisches Hin- und Her zwischen einer personalisierten Polizei und dem Räuber. Es gibt in der ganzen Sequenz nur einen richtigen Moment, wo wir die Polizei sehen und das ist, wenn sie auf ihn schießt. Und da kann man im Grunde von einer Kontaktaufnahme, einer Berührung mit dem Räuber sprechen. Ansonsten sind wir mit dem Blick auf ihm und flüchten mit ihm durch die Räume, Gassen und Gänge.  In dieser langen Verfolgungssequenz wollten wir ursprünglich noch durch zwei weitere Hinterhöfe und eine Werkstatt gehen, es hat uns aber der Aufwand mit den Stunts und das Wetter am Drehtag ein Schnippchen geschlagen, so dass wir das Konzept für diesen Tag aufgeben mussten. Gleichzeitig war kein Verschieben möglich, weil die Location nur für diesen Tag zur Verfügung stand. Da habe ich gefragt, ob es einen Keller gebe und wir hatten Glück. Das Hotel hatte einen Keller, der noch dazu schön eng und verwinkelt war. Und so ist der völlig ungeplant ins Spiel gekommen. Wir haben ihn innerhalb einer halben Stunde eingeleuchtet und sind mehrfach durchgelaufen und das wars. Es war ein unheimliches Glück, dass es vom Schnitt her funktioniert hat und dann natürlich auch, dass wir mit Matthias  Bieber einen einmaligen Steadycam-Operator hatten, der extrem fit ist und die Kamera trotz dieser Geschwindigkeiten, die er laufen musste, toll geführt hat. Das Konzept der Verfolgungssequenzen war das, dass wir uns auf den Räuber konzentriert haben und versucht haben, eine Klarheit des Bildes herzustellen und nicht, wie es oft im Actionkino der Fall ist, alles zu zerhacken, bis man zwar ein visuelles Gewitter vor sich hat, im Grunde aber nicht erzählt wird. Ich halte das für eine Verklärung oder eine Verschleierung der Erzählung. Bei uns wollte ich unbedingt, dass die Erzählung weiter geht, dass wir Erzählkino machen, obwohl es so actionreich und dynamisch ist. Deswegen schwelgen wir in dieser Bewegung, auch wenn wir durch den Prater laufen.
 

Am Ende dieser Verfolgungsjagd ist auch der Punkt erreicht, wo zwei Formen des Laufens deutlich werden – jenes, das durch die Verfolgung, durch eine Kraft, die hinter ihm wirkt bedingt ist, und das Laufen in der Freiheit, das Laufen durch den Raum und in der Weite, wo ihn eine Kraft nach vorne zieht?

Martin Prinz: Das ist auch ein erster Moment der Transzendenz. Da geht etwas auf, was über die Fluchtwirklichkeit hinausgeht. Man könnte im Film an vielen Stellen die Frage stellen, warum läuft er jetzt so lange? Unser Räuber hat keine andere Rolle als das Davonlaufen. Es wird an manchen Stellen im Film unrealistisch, das ist aber völlig egal, hier erzählt ja das Unrealistische unheimlich viel über seine Realität des Nicht-Anders-Könnens und auch von einem Glück, so beschränkt es auch sein mag. Mir fällt jetzt auf, wie sehr der Sprung vom Drehbuchschreiben zum Dreh sehr intuitive, aber folgerichtige und notwendige Entscheidungen bewirkt hat. Ich erinnere mich, wie viele Szenen für die Polizei wir geschrieben haben. Es gibt Drehbuchstufen, da gab es noch Szenen mit Funkverkehr in den Polizeiautos auf der Autobahn. Da waren wir noch sehr in der Maschinerie der Verfolger und versuchten sie darzustellen. Wir haben sogar versucht, das Gleiche auf der Medienebene zu machen, wir hatten auch Fernsehteams als Verfolgerinstanzen vorgesehen. Im Nachhinein wird mir klar, wie wenig sinnlos das war, denn es führt vor Augen, wie wichtig es im Film ist, dass die Verfolger präsent sind, dass diese Präsenz keine stellvertretende sein darf, sondern dass diese Präsenz der Zuschauer selbst spüren muss, und er selbst in die Rolle des Verfolgers kommen muss, kann oder darf. Die Polizisten, die Medien, die Instanzen, die man im Film darstellen könnte, die lassen wir im Film alle aus, damit der Zuschauer zum Verfolger wird und der Film bei sich selber ankommt ? als Medium, als Verfolgungsmedium schlechthin, weil seine Bilder die einzigen sind im Gegensatz zur Fotografie oder Malerei, die sich auch bewegen. 

Benjamin Heisenberg: Ich glaube auch, dass der große Bogen unserer Figur umso stärker spürbar ist, weil wir nicht dieses Hin und Her zwischen verschiedenen Gruppen betreiben. Zur Szene mit den auftauchenden Lichtern im Wald gibt es immer wieder Fragen von Wahrscheinlichkeitstheoretikern, die fragen, wie finden die ihn im Wald? Es gab Szenen, wo wir versuchten zu begründen, dass sie dort hinkommen, wo er gesehen wird. Letztlich habe ich aber gemerkt, dass wir so konsequent bei dieser Person sind, dass auch die Perspektive des Entdecktwerdens bei dieser Person sein muss und ich bin mir sicher, dass 90 Prozent der Leute, die festgenommen werden, eine ganz ähnliche Erfahrung haben. Die laufen auf der Straße und plötzlich steht ihnen jemand gegenüber, der sagt, sie sind jetzt festgenommen. Der Moment ist überraschend und genauso überraschend, wie es für den Zuschauer ist, ist es für den Charakter und in Wirklichkeit. Das ist das Faszinosum dabei.  Die Hundertschaft die plötzlich auftritt hat auch etwas sehr Unheimliches, weil man nicht weiß, woher die kommen und plötzlich sind die Lichterketten da. Auch gibt es diese nette Referenz zu den Lichterketten, die sich am Anfang des Bergmarathons durch das Dorf bewegen. Diese "Glühwürmchen" sind also doppelt besetzt.  Bei der Phase der Umkesselung am Berg wird die Polizeipräsenz natürlich zu einem wirklichen Gegenüber und deshalb haben wir sie auch ganz bewusst so erzählt. Da beginnen wir hin- und herzuschneiden, weil da nochmals ein neues Thema auftritt ? die Masse der Verfolger, die ihn umschließen und das einzelne, gehetzte Wesen.  

Die Polizei ist präsent genug, um als Symbol für die Schranken zu dienen, über die er sich hinwegzuheben imstande ist. Ob er hier hunderten Polizisten entkommt oder aus dem Fenster des Polizeigebäudes springt oder en passant die Banküberfälle auszuführt, er agiert als gäbe es keinerlei Hindernisse zu überwinden. 

Martin Prinz: Wären diese Instanzen im Film drinnen, dann hätten wir tatsächlich einen sehr distanzierten Blick auf die Geschichte, denn dann wird sie notwendigerweise diskursiv, dann hat man verschiedene Perspektiven, die in Diskussion und in Differenz treten. Dann passiert das, was im Falle unseres Films nur vereinzelt geschah, dass gewisse Leute im Film etwas Kühles und Unnahbares wahrnehmen. Der Räuber sucht ja nicht mach Erklärungsmodellen und ist ganz nah an seiner Figur. So ist es der Zuschauer. All jene, die ihre Erklärungsmodelle und die üblichen Versatzstücke darin finden wollen, die halten es meiner Meinung nicht aus, im Kino eine solche Nähe zu erleben, sie brauchen ihre Übersetzungskrücken, um Anscheinmodelle von Nähe vor sich zu haben. Als Erzählung hielte ich das für total uninteressant.  

Benjamin Heisenberg: Wenn ich z. B. ein Ping-Pong-Spiel zwischen Räuber und Polizei betrieben hätte, dann wäre ich in eine klassischere Identifikatorik gekommen, in der wir ihn von Anfang an als Verfolgten, als Opfer und als Täter gesehen hätten und diese Aufteilung hätte den Film viel moralischer gemacht. Der Film ist aber über weite Teile amoralisch. Das halte ich für eine große Chance. Wenn wir uns einfach empathisch mit dem Menschen, der uns gegenübersitzt, auseinandersetzen – egal ob der gerade einen Mord begeht oder liebt oder wegrennt - dann geschieht etwas, das uns auf eine ganz andere Weise betrifft, als wenn wir in einem moralischen Gerüst zu Hause sind, wo wir ihn konstant als Opfer oder Täter einschätzen können. Diese Einschätzung betreiben viele Zuschauer fortwährend. Sie sind daran gewöhnt, dass Filme das machen und sie wollen sich nicht auf einen Film einlassen, der anders funktioniert. In diesem Fall gehen natürlich gewisse Dinge verloren, weil man viele Passagen nicht mehr so genießen kann, weil Erwartungen nicht erfüllt werden. Wenn man aber die Empathie aufbringt und die Energie, die von dem Menschen ausgeht, spürt, dann kann man plötzlich in eine Art von Erfahrungswelt kommen, in der man erst mal ohne diese moralischen Bewertungen mit einem extremen Schicksal konfrontiert ist. In dieser amoralischen Freiheit hat der Zuschauer eine total spannende und sicher sehr ungewohnte Perspektive auf die Person und ihre Handlungen.  

Martin Prinz: Das erzeugt auch diese unglaubliche Stimmung, die wir zur Zeit fast täglich bei den Premieren erleben, dass es während des Films so unglaublich ruhig und konzentriert, manchmal fast atemlos wird. Unser Abspann ist ja rekordverdächtig lang und ich glaube, die Leute könnten unseren Abspann drei Mal vertragen. Es herrscht gebannte Stille, wenn wir am Ende des Filmes wieder in den Saal kommen. Es ist eine wunderbare Erfahrung, in diese Stille zu kommen, man hat das Gefühl, es ist jetzt jeder in der Erzählung drinnen und zwar nicht gefangen, nicht verführt, sondern miteinbezogen. Das ist vielleicht das Wichtigste – man ist in der Bewegung drinnen.  
 

Andreas Lust läuft und spielt die Rolle des Rettenbacher sehr souverän – eine Rolle, für die er auch eine ganz besondere Art der Vorbereitung erfahren hat. 

Benjamin Heisenberg: Andreas Lust kannte ich aus Revanche, Franziska kannte ich aus Hotel und Hundstage. Ich fand beide sehr gut, habe aber dennoch ein ausführliches Casting mit sehr vielen unterschiedlichen Schauspielern und verschiedenen Konstellationen durchgeführt. Wir hatten das Gefühl, dass sie das Paar waren, das am stärksten miteinander tickte, unabhängig davon, dass beide auch ihre Einzelszenen sehr gut gespielt haben. Außerdem haben wir auch ein Laufcasting gemacht, wo ich mit der Kamera auf einem Mattenwagen durch Turnhallen geschoben wurde und neben uns liefen die Schauspieler, um so eine Kamerafahrt zu bekommen, die zeigt, wie die Leute im Bild aussehen, wenn sie laufen. Martins Prinz' Vater hat als Experte mitgeschaut, um einzuschätzen, wer diese Technik mit einem viermonatigen Training so hinkriegen kann, dass er am Ende mit den realen Profiläufern mithalten kann und man ihm den Marathonläufer abnimmt. Da war Andreas extrem gut. Wir wussten, dass das Lauftraining, mit allem was an Lauf-Philosophie dazu gehört, ein ganz wichtiger Teil der Rollenarbeit sein würde, dass das Verständnis des Körpergefühls dieses Menschen etwas ganz Wichtiges für den späteren Dreh sein würde. Deshalb mussten wir jemanden finden, der die Anlagen mitbrachte um diese Aspekte überhaupt zu spüren. Hätten wir einen Kraftsportler besetzt, wäre der in den paar Monaten nie soweit bekommen, wie ein drahtiger Marathonläufer auszusehen, der seit Jahren nichts anderes macht. Insofern wusste auch Martin, dass er mit diesem Training eine ganz wichtige Position in der Vorbereitung von Andreas für die Figur Rettenberger einnehmen würde.  

Es ist ja eine interessante Kombination, zunächst an einer Figur zu schreiben und dann auch noch ihren Interpreten...

Martin Prinz: ... so zu trainieren, dass er mit größter Selbstverständlichkeit, mich als Cameo im Film überholt! Der Begriff der Selbstverständlichkeit ist ein ganz wichtiger. Es gibt sehr viele Filme, in denen gelaufen wird und in denen das Laufen gespielt wird. Das geht meistens ganz schrecklich schief, weil diese Läufer auch wenn sie in den Filmen Langstreckenläufer spielen dazu gebracht werden, das in einem Kraftakt zu spielen. In der Drehbucharbeit war die Frage präsent ? um welche Bewegung handelt es sich eigentlich? Welchen Marathonlauf ? als Bild für den ganzen Film ? zeigen wir da? Wie wird Anstrengung sichtbar? Das Sichtbar-Werden von Anstrengung, Müdigkeit, Erschöpfung, auch von Verzweiflung ist etwas, das in der Langstrecke auf ganz unheimliche Weise auftritt, nämlich als etwas, das man sehr lange von dort, wo es sich zu entwickeln beginnt, nicht spürt. Der klassische Marathonlauf funktioniert so, dass man in einem Tempo losläuft, das einem ganz lange nicht wehtut. Dann kommt eben dieser KM 32 oder 35, wo einem wie in einem Nachläufereffekt, die gesamte in diese Distanz investierte Energie so richtig einholt und dann die letzten Kilometer zu dieser Qual machen kann, mit der man als unbedarfter Beobachter gerne die gesamte Strecke verbindet. So einfach ist es nicht. Vorher ist es versteckt. So ist auch im Filmhelden ganz viel versteckt, auch für ihn selber. Die Verletzung wird in ihrer Tödlichkeit, in ihrer aufhaltenden Wirkung erst nach und nach sichtbar. So muss man auch den Langstreckenläufer spielen ? als eine Bewegung, die aus einem Pokerface besteht, dem man nichts anmerkt und das trotzdem längst schon seine Anstrengungen und mögliche Verzweiflung birgt und das musste für Andreas Lust so selbstverständlich werden wie für den wirklichen Langstreckenläufer. Das kann man nicht spielen, das muss so sein.  

Wie hat de facto eure Vorbereitung ausgesehen?

Martin Prinz: Wir waren drei bis vier Monate vor dem ersten Dreh im Wienerwald unterwegs. Ich wollte, dass Andreas auch miterlebt, dass das Laufen nicht diese Wohnzimmerbewegung ist, die man oft gerne ins Fitnesscenter verlegt. Wir waren auf Schnee und Eis und im Regen unterwegs. Irgendwann hat er auch begonnen es zu genießen, denn es wird einem nie kalt dabei. Es waren drei wunderbare Monate mit Andreas, wo er an etwas gearbeitet hat, was jetzt Gott sei Dank sehr gewürdigt wird, obwohl er sich nicht wie Robert de Niro in Raging Bull aufbläst, dass alles sichtbar wird. Andreas hat am Unsichtbarwerden des Trainings arbeiten müssen, an der Selbstverständlichkeit, am Nicht-Merken dessen, was da passiert. Und er hat nicht nur einen guten, er hat auch einen sehr eigenen Laufstil entwickelt.


Benjamin Heisenberg: Er hat sich auch ins Schauspiel so reingestürzt, dass er sich mit der Rolle komplett identifizierte. Er wusste genau, dass ein großer Kern dieser Person unpsychologisch ist. Das bedeutet für ihn konkret: ich kann das jetzt nicht so spielen, wie eine Figur, zu der ich mir eine Vergangenheit baue, aus der heraus sie zu erklären ist, sondern ich muss diese Figur im Moment erleben. Andreas ist auch jemand, der grundsätzlich in der Arbeit sagt, ich muss selbst spüren, dass es richtig ist, sonst kann ich nicht daran glauben. Das hat zu lustigen Diskussionen geführt, wenn ich mal ganz technische Angaben gemacht habe wie "Lauf schneller oder langsamer", dann wollte er das begründet haben, weil er meinte, "ich lauf jetzt so, was ist daran falsch"? Oft machte ich Anweisungen aus ganz filmhandwerklichen Gründen, und auch da hatten wir immer mal wieder Konflikte, bis ich verstanden habe, dass diese Identifikation eine riesen Chance ist und zu einer Intensität führt, die ich anders nicht kriegen kann. Das konnte kaum funktionieren, wenn er technisch spielte, und dieses Moment, dass er sich mit Haut und Haar in diesen Menschen hineinstürzt, macht es aus, dass er diesen Menschen erlebt oder sich angegriffen fühlt, wenn man ihn anders interpretiert als er ihn selbst gerade spürt. Es war dann auch total spannend zu sehen, wie Andreas mit Situationen ganz spontan und intuitiv umging. Zum Beispiel bei dem Banküberfall, wo das Geld aus dem Sack fällt, war es so, dass ich diesen Moment nicht geplant hatte und das Geld einfach plötzlich, zufällig aus der Tasche fiel. Andreas und Gerda Drabeck, die die Bankangestellte spielt, haben total richtig und toll reagiert und sind immer heftiger und heftiger in ihrer Anspannung geworden. Leider habe ich in dem Moment den Take abgebrochen, weil ich meinte, man könnte das nicht mehr nehmen. Und gleich danach habe ich begriffen, dass das ein Geschenk war und wir haben dann genauso noch mal angesetzt und es so zu Ende gedreht. Da merkt man, wenn in einem solchen Moment der Schauspieler fähig ist, die Situation weiter zu benutzen, dann ist er genau da, wo er hin muss. Dann interpretiert er nicht vom Kopf, sondern weiß vom Gefühl her, was er zu tun hat.  Martin Prinz: Ich muss noch einen großen Einspruch machen, ich hoffe auch in Benjamins Sinn. Ich finde die Figur überhaupt nicht unpsychologisch. Sieht man ihr zu, muss man sagen, dass sie voller Psychologie ist, voller Gefühle, die dunkel und nicht verständlich, aber vehement sind. Nur besteht diese Psychologie nicht als Gebrauchsanweisung, dass diese Regung für das steht und jenes Gelenk für etwas anderes. Wenn ich in einer Zeitung lese, Andreas ist das "bebende Kraftzentrum" des Films, dann trifft das zu, unter seiner Maske ist ein Erdbeben an Gefühlen angeordnet und das zittert und bebt den ganzen Film hindurch. Es ist eben nicht nur dort eine Falltür und hier eine unheimliche Ecke, es ist ein ganzes Erdbeben an Psychologie. Alles andere ist Küchenpsychologie und dafür schreibt man kein Buch und macht man keinen Film.


Interview: Karin Schiefer
Februar 2010