INTERVIEW

Arash T. Riahi über NERVEN BRUCH ZUSAMMEN

 

Arash T. Riahi im Gespräch über über Nerven Bruch Zusammen.



NERVEN BRUCH ZUSAMMEN hat eine lange, auch filmische Vorgeschichte. Können Sie kurz erzählen, was den Dreharbeiten für diesen Film voran ging. Wie sind Sie zum Thema Frauen und Gewalt gekommen?
Arash T. Riahi: Im Jahr 1999/2000 habe ich Zivildienst gemacht. Damals konnte man zwar Wünsche äußern, wohin man gerne wollte (ich hätte sehr gerne in einem Flüchtlingsheim gearbeitet),  diesen Platz hab ich aber nicht bekommen. Die Zuteilung der Plätze erfolgte so, dass man sich dort den Verantwortlichen verschiedener Institutionen vorstellte, die dann unter den Werbern auswählen konnten. Anna Nussbaumer, die Heimleiterin des Hauses Miriam, hat sich für mich entschieden, weil auch unter den Bewohnerinnen des Heimes sehr viele Migrantinnen waren. Meine Aufgaben als Zivildiener bestanden in erster Linie in organisatorischen Belangen – Computerangelegenheiten, Essensausgabe, fallweise Nachtdienst, wo man auch zum Betreuer wird, weil man alleine für das Haus verantwortlich ist. Und wie das halt bei einem Filmemacher so ist – man glaubt, alles ist ein Film – dachte ich nach einigen Monaten, es könnte allein für das Haus und seine Dokumentation interessant sein, wenn ich diese Zeit nütze bzw. das Haus meine Anwesenheit nützt, für das Haus filmisch etwas zu machen, aus dem auch mehr werden könnte. Anna Nussbaumer stand der Idee offen gegenüber, machte es aber von der Bereitschaft der Frauen abhängig. Acht bis zehn der rund vierzig Frauen waren bereit mitzumachen. Man muss sich den technischen Stand von vor dreizehn Jahren in Erinnerung rufen. Ich hatte nur eine Mini-DV-Kamera zur Verfügung und auch nicht so viel Zeit, ich hatte ja zunächst immer meine Arbeit zu erledigen. Aus dem entstandenen Material habe ich dann für das Haus einen kleinen Film geschnitten.

Welche Funktion hat das Haus Miriam?
Arash T. Riahi: Das Haus Miriam ist ein Übergangswohnheim für Frauen in Krisensituationen. Eine Besonderheit ist, dass keine Frauen mit Kindern dort wohnen, weil gerade auch Frauen aufgenommen werden, denen die Kinder weggenommen wurden. Das wäre psychisch für sie nicht zumutbar, zu sehen, dass andere Frauen mit ihren Kindern hier leben.

Wie kam es, dass Sie dieses Thema dann wieder aufgriffen?
Arash T. Riahi: Es gab eine Frau, von der ich am meisten Material hatte und die eine sehr arge Geschichte erzählt hat. Sie war Mitte 20, von ihrem Vater vergewaltigt und schwanger geworden und hat das Kind aus Scham zur Adoption freigegeben. Auch ihr erstes Kind aus einer Quasi-Zwangsehe mit einem viel älteren Mann, hat sie zur Adoption freigegeben und wollte diesem Kind eine Videobotschaft schicken, in dem sie erklärte, warum sie es in einer besser situierten Welt wollte groß werden lassen. Wir beschlossen, uns immer wieder zu treffen, bis ihr Sohn 18 ist, um in regelmäßigen Abständen eine Botschaft für ihn zu drehen. Das haben wir einige Male gemacht, verloren uns dann aber aus den Augen und sie hat wieder geheiratet. Mein Beweggrund zu diesem Film war der, dass mich die Geschichten dieser Frauen nie losgelassen haben. Mit Rula, einer der Protagonistinnen in Nerven Bruch Zusammen, war ich auch stets in losem Kontakt, mit dem Haus Miriam war ich im Kontakt verblieben und auch mit der Theatergruppe. Nachdem meine letzten Filme Exile Family Movie und Ein Augenblick Freiheit fertiggestellt waren, hielt ich die Zeit dafür reif, das Thema des Frauenhauses nochmals aufzugreifen. Ich begann zu recherchieren, konnte einige Leute ausfindig machen, auch die Frau, die ich eingangs erwähnt habe, wäre bereit gewesen mitzumachen, es war aber dann ihr aktueller Ehemann dagegen. Er wollte nicht, dass alles nochmals aufgerollte würde. Auch einigen Frauen, die damals mitgemacht hatten, war es zu unangenehm geworden. Rula und die Theatergruppe waren bereit. So war mir klar, dass ich ins Haus zurück und neue Frauen finden musste. Ich wollte der Frage nachgehen, ob und wie sich an den Problemen der Frauen etwas in diesen zehn Jahren verändert hat. Das war der Grundgedanke. Dank der Filme, die ich inzwischen gemacht hatte, war eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen und beim Treffen, das ich mit den Frauen organisierte, erklärte ich, dass ich einen Film mit ihnen und nicht über sie machen wollte, dass sie mich und die Kamera als Sprachrohr benützen sollten, ohne Geheimnisse von sich preiszugeben. Ich wollte niemanden ausbeuten, sondern einen Einblick in ihre Lage gewähren.

Verlangte die Arbeit mit Frauen in dieser Situation von einem Regisseur eine doppelte Grenzziehung, einerseits für sich selbst als Zuhörer und für das Gegenüber, das eine Hilfe in der eigenen Abgrenzung braucht?
Arash T. Riahi: Wenn ich etwas im Zuge dieser Arbeit gelernt habe, dann die Erkenntnis, dass die Suche nach der Wahrheit total sinnlos ist. Man kann sich ihr von einer Seite ein bisschen nähern, von der anderen Seite schaut es schon wieder ganz anders aus: Die Frau hat eine Version, der Mann eine andere, die Kinder eine dritte, das Jugendamt hat auch eine und die Betreuer noch eine. Irgendwo dazwischen wird sie wohl liegen. Mir ist es aber in keiner Weise darum gegangen, die Wahrheit herauszufinden, sondern darum, diese Frauen in ihrem Normal-Sein zu zeigen. Manche hatten sehr starke psychische Probleme, mit einigen habe ich auch gefilmt, nach ein, zwei Drehs aber beschlossen, mit ihnen nicht weiterzumachen, weil ich merkte, dass sie keine Einschätzung davon hatten, was von sich preisgaben. Ich bin ein Filmemacher, dem es um Nähe geht, ich suche diese Nähe und vertraue meinem Gefühl, dass ich niemandem zu nahe trete. Meine Methode besteht darin, die Leute miteinzubeziehen. Ich mache gerne Filme über Leute, die ich mag, bloßstellen will ich niemanden. Ich habe bei allen meinen bisherigen Dokumentarfilmen, meinen Protagonisten den Film gezeigt, ehe ich ihn finalisiert habe. Und es ist noch nie vorgekommen, dass einer von ihnen haben wollte, dass etwas herausgenommen wird. Das war ein Beweis für mich, dass ich richtig liege, auch wenn für mich, dramaturgisch betrachtet, angesichts von 200 Stunden Material ganz andere Momente wichtig sind als für die Frauen. Für Johanna war es z.B. wichtig, dass die Szene drinnen ist, wo sie das Wasser auf den Kopf bekommt. Ich hätte mir nie gedacht, dass das für sie eine coole Szene war.

Ein Eindruck, der für mich in allen Ihren Dokumentarfilmen entstanden ist, ist der, dass man das Gefühl bekommt, mit den Menschen im Film gut bekannt zu sein, würde man ihnen nach Verlassen des Kinos auf der Straße begegnen. Sie haben die Fähigkeit, die Leute vor der Kamera sehr in ihrer Authentizität zu erfassen. Wie finden Sie diese Balance?
Arash T. Riahi: Ich bin bei den Dreharbeiten sehr hartnäckig und ich komme immer wieder. Ich habe mir im Laufe der Zeit selber beigebracht, Kamera zu machen. Ich behaupte nicht, der beste Kameramann zu sein, aber ich komme durch, wenn kein Geld mehr für den Kameramann da ist. Und ich kann auch selber schneiden. Die Souvenirs des Herrn X habe ich aus dem einfachen Grund selber geschnitten, dass ich unzumutbar viel Material hatte, das gesichtet werden musste. So habe ich mir eine Unabhängigkeit geschaffen und kann mit minimalen Mitteln ganz nahe an den Protagonistinnen sein. Wenn ich den Rohschnitt fertig habe, dann hole ich mir viele Freunde aus der Filmszene und höre sehr genau auf ihr Feedback. Ich führe nicht sehr lange Vorgespräche, sondern bin relativ schnell mit der Kamera dabei. Nerven Bruch Zusammen ist mit einer 5D-, d.h. einer Fotoapparat-Kamera, und einem Tonmann gedreht. Nur in den größeren Szenen, mit der Theatergruppe oder am Berg z.B. drehten wir mit zwei Kameras. Ich spreche mit den Leuten, ich beziehe sie auch ein. Sie erkennen irgendwann meine Ernsthaftigkeit. Wenn ich am Sonntagnachmittag dabei bin, wenn sie „nur“ im Hof sitzen und über Batman reden, dann merken sie, dass ich mich wirklich für sie interessiere und nicht nur für extreme Momente ihrer Probleme. Ich lasse ihnen den Raum zu erzählen, was sie erzählen wollen. Manchmal zettle ich Gespräche an, wenn ich etwas gehört habe, das mich interessiert. Entscheidend ist, dass ich ihnen zum Freund werde und nicht der Filmemacher bleibe, der von außen kommt, um sie zu beobachten. Rula bezeichnet mich als ihren Bruder und ruft immer wieder mal an. Ich fühle mich ihnen auch verpflichtet und das spüren sie auch. Unsere Beziehung ist nach dem Film nicht vorbei.

Diese Art zu arbeiten führt wahrscheinlich auch zu einer großen Menge an Material. Auf welcher Grundlage begann der Schnitt?
Arash T. Riahi: Vom ersten Dreh aus meiner Zivildienst-Zeit hatten wir ca. 70 Stunden und nun haben wir an die 200 Stunden Material. Gemeinsam mit der Cutterin Nela Märki habe ich das alte Material durchgesehen und gefiltert. Dann kam es auch darauf an, wer von den damaligen Protagonistinnen noch auffindbar war. Im Prinzip ist das alte Material aber eher Recherchegrundlage. Es gibt in Nerven Bruch Zusammen nur zwei Cuts in die Vergangenheit, dort, wo ich es für wichtig erachtet habe: Rula hat damals kein Kopftuch getragen und die Theatergruppe war noch im Haus, was jetzt nicht mehr der Fall ist, sie kommt aber immer wieder zurück.

Die Musik akzentuiert sehr stark die emotionale Ebene, gewiss eine sehr bewusste Entscheidung im Zugang zu so einem Thema. Warum haben Sie sich für den Einsatz von Musik entschieden?
Arash T. Riahi: Es fällt wahrscheinlich auf, weil Musik in österreichischen Dokumentarfilmen wenig vorkommt. Ich will mich da nicht an ungeschriebene Gesetze halten. Das habe ich schon in Exile Family Movie und Die Souvenirs des Herrn X nicht getan. Es ist ja in Nerven Bruch Zusammen nicht so, dass eine Frau etwas Erschütterndes erzählt und dahinter Klaviermusik kommt, es sind viel mehr zurückgenommene Töne.
Ich setze die Musik durchaus dramaturgisch ein – am Anfang ist sie etwas melancholischer, weil es dem Gefühl der Frauen entspricht, die in ein solches Haus kommen. Sie waren bisher alleine, plötzlich müssen sie ihr Leid mit 40 anderen Frauen teilen, mit jemandem reden, ihr Zimmer teilen. Viele haben Angst davor und glauben, in so ein Haus zu kommen, bedeutet das Ende. Diese negativen Vorstellungen wollte ich auch aufgreifen und Schritt für Schritt auflösen. Sie sollte nicht die Gefühle unterstützen, sondern Stimmungen erzeugen – Stimmungen für das Haus, für die Frauen und im Laufe des Films wird die Stimmung positiver. Die Musik ist immer losgelöst von den Erzählungen, der Verlauf ist so, dass etwas passiert und dann gibt es Reflexionsphasen, Atempausen, manchmal in der Natur, im Wald. Komponiert hat die Musik,  wie schon in allen meinen Filmen davor, Karuan, ein Musiker mit kurdischen Wurzeln, den ich gerne meinen Ennio Morricone nenne. Er hat ein unheimlich gutes Gespür dafür, worum es geht.
Die Ballonfahrt am Ende ist von Musik begleitet, für mich ist diese letzte Sequenz etwas Losgelöstes, ein Augenblick Freiheit, wo man auf die Dinge, die passiert sind mit einer Distanz und von oben schaut. In diesem Moment spürt man die Schönheit des Lebens trotz der Probleme. Das Schlusslied Für mich soll’s rote Rosen regnen hat sich daraus ergeben, dass die Frauen ganz viele Schlager hören. Es mag der Eindruck entstehen, dass es zu kitschig ist. Für diese Frauen ist es genau richtig. Sie sehen sich darin.

Der Theaterregisseur spricht in der Theaterarbeit von einem Stimmungsumfeld, das von Rechtsradikalismus, Selbstmord, Drogenabhängigkeit geprägt ist. Haben Sie dieses Stimmungsumfeld auch wiedergefunden und war es Ihnen ein Anliegen, diese gesellschaftliche Realität ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken?
Arash T. Riahi: Ja. Ich denke, ich hätte nach Ein Augenblick Freiheit etwas Größeres machen können. Es schien mir aber ein sehr konventioneller Weg, immer nach einem größeren Projekt zu streben oder einen Dokumentarfilm irgendwo in der weiten Welt zu einem globalen Thema und exotischen Tatsachen zu drehen. Und ich fragte mich, warum soll ich nicht gerade genau das Gegenteil machen? Warum nicht das zeigen, was um uns herum passiert? Der Blick in die Ferne und aufs Elend der Dritten Welt hat auch etwas von einer Selbstlüge. Auch hier gibt es gesellschaftliche Probleme, auch wenn man sie weniger gern zum Thema macht. Gerade Frauen sind auch in einer Gesellschaft, von der man annehmen könnte, dass sie Gleichberechtigung genießen, betroffen. Auch bei uns gibt es Nachholbedarf, auch hier gibt es Frauen, die durch viele Netze fallen. Durch meine Tätigkeit im Haus Miriam, durch das Vertrauen, das ich mir dort aufgebaut hatte und das ich von außen kommend nie erlangt hätte, waren optimale Voraussetzungen gegeben. Ich dachte mir, ich mache einen leisen, zarten Film, der vielleicht nicht besonders auffallen wird. Dennoch wird es ein Film sein, der – und darin sehe ich auch eine wichtige Aufgabe meiner Arbeit als Filmemacher – ein Film sein kann, der verwendbar ist für jene, über die ich den Film drehe und für die, die mit ihnen arbeiten. Das ist mit meinen letzten Filmen sehr gut gelungen. Sie kommen weltweit in Bereichen wie Flüchtlingsarbeit, im Schulunterreicht etc. zum Einsatz. Das freut mich. Das geht vielleicht auf Kosten einer künstlerischen Radikalität, die ich dann bewusst auch nicht zur Anwendung bringe, weil mir die Menschen wichtiger sind als ein formales Konzept, in das sie reinpassen müssen. Das liegt mir nicht, wenn ich solche Themen angehe.

Steht in Ihren filmischen Arbeiten der politische Aspekt eindeutig im Vordergrund?
Arash T. Riahi: Wenn ich diesen Film stilistisch als rigoroses Direct Cinema realisiert hätte, ohne Kamerafahrten, ohne Musik, dann würde der Film auf Festivals vielleicht auf größeres Interesse stoßen, ich hätte aber an meinem Anliegen vorbeigearbeitet. Ich habe bei der internationalen Premiere in Saarbrücken Leute von Frauenorganisationen im Publikum erlebt, die sagten, dass sie seit zwanzig Jahren auf einen Film warten, mit dem sie auch arbeiten können. Ich bekam auch die Rückmeldung, wonach der Film auch bei allen Sozialarbeitern in Ausbildung gezeigt werden soll. Mir war es auch wichtig einen Film zu machen, der Hoffnung hat. Das ist ein Aspekt, der bei Sozialarbeitern sehr gut angekommen ist. Es gibt kein Happy End, aber für Frauen in dieser Situation sind diese kleinen Schritte schon riesig. Wenn Svetlana nach 17 Jahren ihre Zahnlücke reparieren lässt, die ihr möglicherweise immer wieder negative Reaktionen und Schwierigkeiten beschert hat, dann ist dies ein Meilenstein.

Alles wird nicht gut, so lautete sehr lange der Arbeitstitel des Films, ist also nicht die Conclusio, die am Ende dieser Arbeit steht und stehen soll?
Arash T. Riahi: Genau deshalb habe ich auch den Filmtitel geändert. Auf Englisch heißt er zwar immer noch so und es stimmt schon, dass nicht alles gut wird. Das will ich aber nicht erzählen. Wir haben sehr lange am Titel herumgetüftelt. Den jetzigen Titel verdanken wir Rula, die durch die Struktur der arabischen Sprache, die sie aufs Deutsche überträgt, oft so poetische Wortkombinationen baut. Da kommen Sachen raus wie „er hat mich angerufen und Telefonblödsinn gemacht“ oder „ich habe einen Nervenbruchzusammen gehabt“. Daraus entstand der Titel, der irgendwie lustig und irgendwie seltsam klingt und die Hauptthemen des Films genau trifft. „Nerven“ – weil man mit seinen Nerven am Rande des Zusammenbruchs ist, „Bruch“ – weil es um einen Bruch mit der Gesellschaft, dem eigenen Ich, mit den Kindern geht, und „Zusammen“, weil man zusammen in diesem Haus lebt und zusammen mit Schicksalsgenossinnen und Gleichgesinnten ist, woraus sich etwas Neues ergeben kann. Der Titel birgt die Assoziation mit einem Nervenzusammenbruch, aus dem etwas anderes entsteht und wo auch eine Spur Humor im Spiel ist.


Interview: Karin Schiefer
Februar 2013