INTERVIEW

Erwin Wagenhofer über ALPHABET

«Um die Zukunft und das Wohlergehen der Kinder geht es gewiss nicht.»Erwin Wagenhofer im Gespräch über seinen neuen Film Alphabet.

Betrachtet man Ihre letzten drei Dokumentarfilme, dann liegt es nahe, sie als Trilogie zu betrachten, wobei Sie vom konkreten Essen über das immer virtueller werdende Geld nun bei einem abstrakten Begriff angekommen sind: der Bildung. Ist die Reflexion über Bildung die Conclusio aus den ersten beiden Filmen?

ERWIN WAGENHOFER:  Die Frage, wie wir uns geistig ernähren, ist das Thema, das mich am längsten interessiert. Film ist eine große Frage des Timings, nicht nur, was seinen inneren Rhythmus, sondern auch, was die Wahl des Themas betrifft. 2005 wäre die Zeit dafür nicht reif gewesen. Es geht ja nicht um Bildung per se, sondern um die Haltung hinter der Bildung. Das ist ja das wirklich Interessante. Bilden und Lernen kann man überall. Man lernt sehr viel in der Zeit bis zum 20. Lebensjahr, aber vielleicht das Wenigste davon in der Schule. Schule ist der Ort, den man in der Regel mit Bildung assoziiert. Wenn man eine Zeitung aufschlägt oder Dokumentarfilme sieht, dann geht es sehr oft um Dinge, die nicht funktionieren. Werden Krisen oder Fehlentwicklungen unter die Lupe genommen und geht man der Frage nach, wer dafür verantwortlich ist, dann kann man feststellen, dass es in erster Linie die Leute mit der besten Bildung sind. In einer wichtigen Funktion im Bank- oder Finanzwesen wird man niemanden finden, der nicht zumindest ein Studium vorzuweisen hat, und das möglicherweise an den besten Universitäten dieser Welt, von Harvard bis St. Gallen. Keiner der Verantwortlichen hat 2008 nach der ersten Bankenkrise zugegeben, Fehler begangen zu haben. Bei einem technischen Gebrechen würde sofort nach dem Verursacher gesucht werden.  

Ist Ihnen das im Zuge der Recherchen für Let’s Make MONEY bewusst geworden?

ERWIN WAGENHOFER: Ich sehe meine Filme nicht als Dokumentarfilme, sondern als Essays. Es sind kleine, aneinander gereihte Skizzen, die zusammen ein Bild ergeben. Der Sinn der Bildung liegt ja darin, dass jemand in die Welt hinausgeht, um sich ein Bild von ihr zu machen. Alphabet erntet nur extrem schlechte oder extrem gute Kritiken. Das bestätigt, dass der Film richtig liegt. Er lässt niemanden kalt. Die Bildungsbürger wollen keine Veränderung, weil sie es sich ja schön eingerichtet haben. Veränderung wird von vielen Menschen abgelehnt und das in einer Zeit, wo wir, wer ein bisschen um sich schaut, feststellen kann, das wir in einer Zeit extremer Veränderungen leben. Das macht Angst. Unser Untertitel Angst oder Liebe wurde in Deutschland groß auf das Plakat gedruckt.

Um beim Bild zu bleiben: Sie beginnen mit Bildern aus dem Mutterleib und setzen dann fort mit Bildern in der Wüste. Wie erschließt sich dieser Auftakt des Films?

ERWIN WAGENHOFER: Ich war diesmal erstmals mit der Situation konfrontiert, dass ich eine Person, die mir sehr wichtig war, nicht bekommen habe. Zwei Jahre lang versuchte ich vergeblich, Ken Robinson für den Film zu gewinnen. Wir haben allerdings die Rechte für seine Rede bekommen, die man im Film als Voice-Over hört. Ich habe in der Recherche diese Rede wahrscheinlich fünfzig Mal gehört und in wochenlangem Tonschnitt, die Essenz herausgefiltert. Sie erschloss mir auch den dramaturgischen Bogen. Die Ultraschall-Aufnahmen standen schon im Drehkonzept. Und wir waren im Zuge der Recherche schon im Death Valley, weil ich immer noch hoffte, wir würden im letzten Moment Zugang zu Ken Robinson bekommen. Retrospektiv betrachtet, war es für den Film gar nicht so schlecht, weil er nie mehr seine wesentlichen Inhalte in so komprimierter Form gesagt hätte. Der Film beginnt also mit Bildern von der Entstehung des Lebens und dieses Leben schlüpft dann in eine Wüste. Bei mir ruft es beinahe Assoziationen zu Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum wach. Dann geht es weiter über die Drachenbilder, bis wir dann in China landen. Der Film ist ja eigentlich wie ein fiktionaler Film gebaut.


Bildungs- und Schulsysteme sind immer noch sehr national geprägt. Das österreichische Schulsystem ist in Alphabet so gut wie nicht angesprochen. Stand es für sie fest, dass Sie auf Österreich nicht speziell eingehen wollten? Wie geht man global auf dieses Thema zu?

ERWIN WAGENHOFER: Das österreichische Schulsystem im Besonderen stand nicht zur Debatte, sondern das der westlichen Welt. Wenn man einen Film über Bildung macht, kann man alles filmen, nur Schulen nicht. Die Schule ist die Achillesferse jeder Gesellschaft, deshalb geht in der ganzen Debatte nichts weiter. Es geht im Grunde nicht um Bildung, schon gar nicht um die Kinder und deren Zukunft, es geht um Macht und Ideologie. Das westliche System, das aus Europa entwickelt wurde, hat sich von einem Bildungssystem entfernt. Es ist nur noch ein Ausbildungssystem. Dieses System stellt eine einzige Frage: Kommen am Ende dieser Linie Menschen raus, die am Arbeitsmarkt partizipieren können? Alles andere interessiert kaum jemanden mehr. Selbst an den sogenannten Universitäten geht es nicht mehr darum, sich ein universelles Bild von der Welt zu machen und sich dann erst an einer Fakultät zu spezialisieren. Die Fachhochschulen haben diese Tendenz noch beschleunigt. Unser Hauptproblem ist nun, dass dieses westliche Wirtschaftssystem komplett an die Wand fährt. Kaum jemand hat heute noch Arbeit, sondern einen Job. Der Mensch braucht zwei Dinge: Liebe und Arbeit. Und zwar echte Arbeit, die erlaubt, dass ich mich am Abend zurücklehnen und das Ergebnis betrachten kann.
Mein Film steigt über PISA und den Drill in China, dem Weltmeisterland in PISA-Belangen, ein. Dort wird, was in Europa entwickelt wurde, an die Spitze getrieben. Heute will China weg von seinem Image als Meister im Kopieren, vom made in China zu einem created in China kommen und muss feststellen, dass das mit der Methode des Drillens nicht funktioniert. Fürs Kreieren braucht es kreative Menschen. Daher kann auch der chinesische Bildungsexperte so frei reden, weil er zur Zeit Rückenstärkung von Regierungsseite hat. Man weiß dort, dass das System des Drills zum Scheitern verurteilt ist. Der Preis dafür sind explodierende Suizidraten unter Jugendlichen. Der Witz ist, Andreas Schleicher, der Erfinder von PISA, lobt die Entwicklung in China, weil dort im Ranking die besten Ergebnisse erzielt werden und setzt mit dortigen Ergebnissen die Schulen in Europa unter Druck. Wir leben heute in einer Welt, wo ständig gewertet wird. Diese Konkurrenz beginnt in der Schule und macht uns langfristig kaputt. Man kann Unternehmen oder Banken miteinander vergleichen. Bei Ländern wird’s schwierig, undenkbar wird es bei Menschen und schon gar bei Kindern. Eine fürchterliche Fehlentwicklung. 2003 war der PISA-Schock, inzwischen gibt es eine umfassende Studie des bm:ukk, die vor Augen führt, dass die Kinder gemäß PISA-Kriterien schlechter geworden sind. Gelungen ist allerdings, Unmengen an Geld auszugeben und das ist eine Idee von PISA: einen Wachstumsmarkt zu schaffen, in China ist die Nachhilfeindustrie inzwischen börsennotiert. Um die Zukunft und das Wohlergehen der Kinder geht es gewiss nicht.


Wann nahm PISA seinen Ausgang?

ERWIN WAGENHOFER: Durch die OECD in den neunziger Jahren. Eigentlich ist PISA verfassungswidrig. In der Verfassung ist der Sinn des Bildungsweges festgehalten. Im Artikel 14 steht, dass der mündige Bürger/die mündige Bürgerin am Ende solidarisch mit sich und den Mitmenschen und der Umwelt leben, auf Probleme eingehen und auf Herausforderungen positiv zugehen können soll. Das sind hehre, humanistische Ziele, von denen wir uns so weit entfernt haben. Deshalb wollen die Kinder nicht mehr, sie sind klug genug. Sie kommen mit einem unheimlichen Lernwillen und einer Wissbegierde auf die Welt und spätestens in der Schule wird es vielen von ihnen ausgetrieben. Es geht heute um Quantitäten und nicht mehr um Qualitäten. Wir nähern uns dem Ende einer Periode der Industrialisierung und des industrialisierten Denkens. Zu dem gehörten einst Schulglocken oder Gebäude, die wie Fabriken oder wie Kasernen ausschauten. Es gehen zwar keine Offiziere mehr auf und ab, es gibt auch keine körperliche Züchtigung mehr. In der Haltung hat sich jedoch nicht so viel geändert. Da geht etwas zu Ende und das ist auch gut so. Es kommt etwas Neues und wenn wir es richtig machen, etwas Besseres.


„Angst oder Liebe“ ist der Slogan dieses Films. Erziehung, heißt es in Alphabet, ist angstgetrieben. Welche Ängste bestimmen unsere Erziehungs- und Bildungssysteme?

ERWIN WAGENHOFER:  Natürlich keine Naturängste des Menschen, die sein Leben auch schützen, sondern artifizielle Ängste. Angst vor der Konkurrenz, Angst vor Abhängigkeit, Abhängigkeiten zwischen Männern und Frauen, Macht über Kinder. Ausgrenzen und Kontrolle, das sind die dominierenden Mechanismen. Ein kontrollierter Mensch kann nie ein freier Mensch sein. Man müsste auf die Kinder nur anders hinschauen. Kinder haben unerschöpfliche Energie. Es ist nicht alles eine Frage des Geldes, um zu reformieren und diese Potenziale besser auszuschöpfen.
Man müsste erkennen, dass sie, wenn sie auf die Welt kommen, schon alles mithaben. Es muss sich nur entfalten können und dann kann es auch, wie am Ende von Alphabet, in der Wüste blühen. Momentan stehen wir allerdings vor einer Bildungswüste.


Die Rede von Ken Robinson steht am Beginn des Films, wie haben Sie ihre weiteren Gesprächspartner gefunden und das Terrain, das sie bearbeiten wollten, abgesteckt?

ERWIN WAGENHOFER: Ich wollte nichts über Schulen machen und kann auch in der kleinkarierten Diskussion über Ganztags- oder Halbtagsschule keine Stellung beziehen. Ich bin ebenso wenig Pädagoge wie ich Finanz- oder Ernährungsexperte war. Ich sehe aber, dass etwas falsch läuft. Es war auch ein dramaturgischer Trick, Schule in weiter Ferne, nämlich in China zu betrachten, da sieht man besser, was falsch läuft. Dort hole ich die ZuschauerInnen ab und von da gehen wir auf neurobiologische Erkenntnisse ein, ich wollte unbedingt einen Personalchef, es kommt eine deutsche Vorzugsschülerin zu Wort, André Stern war für mich immer ein Gigant und auch Pablo Pineda war mir ein großes Anliegen. Das sind für mich zwei Personen, die längst –  um Ken Robinson zu zitieren – „on the move“ sind. Weiters wollte ich diejenigen haben, die von sich behaupten, dass sie die besten sind – Leute von McKinsey. Dann wollte ich jemanden, der auf der untersten Stufe der sozialen Leiter ist und der für eine Security-Firma arbeitet. Seine Situation sagt sehr viel über die Gesellschaft aus, denn seinen Job hat es vor zwanzig Jahren noch gar nicht gegeben. Das aktuelle System bringt nur noch Wissensarbeiter hervor und wir wissen nicht, wohin mit ihnen. Es ist unser Drama, dass nur noch auf kognitive Fähigkeiten fokussiert wird. Die Leute, insbesondere Männer horchen gar nicht mehr auf ihren Körper, nicht mehr auf ihre Sinne. Wie soll man etwas Sinnvolles zum Leben beitragen, wenn man nicht auf seine Sinne horcht? Es geht um Formatierung und Gleichmachung auf hohem Niveau und auch um Expertentum, das ich für eine lebensgefährliche Angelegenheit halte. Der Mensch ist nicht zum Experten geboren. Tiere sind nur Experten, der Eisbär z.B. hat sich so ausdifferenziert, dass er nur im Eis überleben kann, durch die durch den Klimawandel bedingte Eisschmelze, verschwindet sein Lebensraum, sein Aussterben ist absehbar.


War das Thema Bildung nicht in erster Linie ein Aufhänger, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Wenn man das Thema Bildung an den Kindern festmacht, dann entsteht auch eine Vision der Zukunft.

ERWIN WAGENHOFER: So kann man es sagen. Ich hatte in letzter Zeit im Zuge der Premierentour von Alphabet in Österreich und Deutschland sehr viel Publikumskontakt. Ich habe noch nie so intensives Feedback vom Publikum bekommen wie nach diesem Film. Viele fragen natürlich: „Wie sollen wir jetzt tun?“  Ich war zunächst überrascht und versuchte klar zu machen, dass diese Frage schon ein Irrsinn ist. Wir leben in einer freien Welt, wir brauchen nicht immer eine Führungsfigur, die uns ansagt, was wir tun sollen. Es gibt das schöne spanische Sprichwort: „Wanderer, geh deinen Weg, den Weg finden deine Füße“. Im Gehen finden wir unseren Weg, wir aber wollen immer Autobahnen haben, wo wir blind und im Vollrausch auch noch die Richtung halten können. In der Schule werden wir auf Richtung getrimmt, da werden wir auf ein System eingerichtet, das zwei Dinge braucht, wenn es weiterbestehen will: ordentliche Konsumenten und Lohnsklaven. 12% der ÖsterreicherInnen nehmen heute Psychopharmaka ein, um den Wahnsinn ihres Alltags zu überstehen. Bei den Kindern gibt es vermehrt Hyperaktivitätsstörungen, ein Symptom, das auf ganzen Kontinenten nicht auftritt und das es auch früher bei uns nicht gab. Wir sind in einer paradoxen Situation, wo wir solidarisch und empathisch zu unseren Mitmenschen sein und sie gleichzeitig in einer brutalen Konkurrenz zur Strecke bringen sollen. Wir sollen sparsam leben und gleichzeitig konsumieren, damit Wachstum geschehe. Wir sollen Verantwortung übernehmen, aber uns nirgendwo einmischen.

Richtet sich Alphabet als Appell ans Individuum?

ERWIN WAGENHOFER: Solange wir eine freie Gesellschaft sind, sollten wir aus der Freiheit etwas machen und nicht immer fragen, wie es geht. Es gibt heute unumstößliche Gegebenheiten wie Greenpeace, Fairtrade, die Frauenbewegung , Amnesty International – das sind Initiativen, denen kein Parlamentsbeschluss zugrunde liegt. Da waren zivilgesellschaftliche Kräfte am Werk, die etwas bewegen wollten. Der Mensch ist ja unternehmerisch. Das beste Beispiel für das Versagen des Systems ist Spanien, da sind 55 % der unter 35-Jährigen ohne Arbeit sind. Da ist ein hoher Anteil an Akademikern dabei, ehemalige Musterschüler, die das alte Muster übernommen haben. Ein Musterschüler wird nie ein rule-breaker werden. Freie Individuen nehmen die gegebenen Umstände zum Anlass, um neue Unternehmensformen zu kreieren. In der Computertechnologie gibt es zwei große Namen – Bill Gates und Steve Jobs. Beide sind Schulabbrecher, die unglaubliche Visionen hatten. Apple ist heute der größte Steuerzahler in den USA. Der Mensch ist im Prinzip unternehmerisch.
Ich fasse meine drei Filme unter dem Begriff „Trilogie der Erschöpfung“ zusammen. Die Ressourcen sind erschöpft, die Köpfe sind erschöpft. Wir brauchen kein „burn out“ – das aktuelle Erschöpfungs-Brand.  Wir brauchen ein „burn for“, nicht um Gewinn zu maximieren, sondern um Lebensfreude zu haben.  Die Erschöpfung hat mit der ständigen Konkurrenz und mit der gemachten Angst und den damit verbundenen Drohungen zu tun.


„Trilogie“ ist eine Möglichkeit, diese Filme zusammenfassend zu betrachten. Ich empfinde es eher als ein Mosaik, wo sich ein Themenkomplex an den anderen fügt und sich auch ein Erklärungsmodell erweitert. Werden Sie in Ihrer Vermessung der aktuellen Gesellschaft weitermachen oder ist nun der Moment gekommen, etwas abzuschließen und filmisch andere Wege zu gehen?

ERWIN WAGENHOFER: Jetzt mache ich mal eine Pause. Ich wollte sie schon früher machen, ehe ich mich von Peter Rommel überreden ließ, diesen Film gleich zu machen. Vielleicht hat aber dieses Projekt so lange gedauert, weil auch ich so erschöpft war. Der Film hatte zweieinhalb Jahre Produktionszeit, abgesehen von vier Jahren Recherche.
Ich habe drei Projekte liegen: zwei fiktionale, ein nicht-fiktionales. Seit zwei Jahren arbeite ich mit Valentin Hitz an einem Drehbuch mit dem Titel Der Wassermann. Ich habe vor ca. zehn Jahren begonnen, an We Feed the World zu arbeiten und mich nun zehn Jahre mit der Welt beschäftigt, wie sie ist. Ich würde mich gerne in Zukunft mit der Welt beschäftigen, wie sie sein könnte. Das spüre ich immer stärker in mir. Wir haben bei We Feed the World schon Dinge gedreht, wie es im Lebensmittelbereich auch anders laufen könnte. Es hatte allerdings keinen Platz im Film, jedesmal, wenn wir versuchten, auch ein bisschen Hoffnung einzubauen, hat es den Film zerstört. In Alphabet ist das nun endlich gelungen. Der Film nimmt im letzten Drittel eine Wende, zeigt mit Arno Stern und Pablo Pineda Wege, wie es anders gehen könnte und schließt einen Bogen, wenn er zeigt, dass es auch in der Wüste blühen kann, wenn es ein bisschen Wasser gibt. Vielleicht ist da mehr möglich. Alphabet hat in Die Zeit eine Kritik bekommen, die sich auch auf den österreichischen Dokumentarfilm der letzten Jahre bezieht und das nicht-fiktionale zum fiktionalen Kino in Bezug setzt. Ich möchte da Brücken bauen und ich bin mir sicher, es wird mir gelingen. Es wird nicht alles so untergehen wie Black Brown White. Der Film heißt aus dem Grund Alphabet, weil das Alphabet unserem Denken zugrunde liegt. Und wir werden eine neue Begrifflichkeit brauchen, eine neue Sprache. Wir werden Erziehung streichen und es durch Beziehung ersetzen und auch in der Kunst wird es neue Begriffe brauchen.

Denken Sie an einen radikalen Bruch oder an eine schleichende Veränderung?

ERWIN WAGENHOFER:  Die westliche Menschheit steht meiner Meinung nach an einer Weggabelung. An einer Gabelung gibt es zwei Möglichkeiten: entweder den falschen Weg zu nehmen, dann ziehen wir eine Ehrenrunde und werden in einer Schleife wieder an diesen Ausgangspunkt gelangen. Wir werden solange unsere Irrtümer wiederholen und den Preis dafür bezahlen, bis wir es verstanden haben. Das ist auch in der Finanzwelt so. Die Krise 2008 war zu wenig. Es hat sich nichts verändert, nicht einmal in den Wirtschaftswissenschaften. Es wird eine Krise kommen müssen, die alle Sparguthaben vernichtet. Oder wir nehmen den anderen Weg, kommen zur Vernunft und sagen, das ewige Gegeneinander bringt nichts. In der Menschheitsgeschichte haben die Menschen die längste Zeit miteinander gelebt, die längste Zeit an einem Tisch gesessen und haben geteilt. Das kennen wir nicht mehr. Wenn wir dort nicht hinfinden, dann muss uns eine Katastrophe dorthin führen. Das kann eine Revolution sein oder, wie ich es lieber hätte, eine Transformation, wird man sehen. Leider ist es so, dass im Leben des einzelnen, die großen Veränderungen nur mit einer mittleren oder größeren Katastrophe kommen, die dann heilsam ist. Uns ist es materiell noch nie so gut gegangen, emotional sind wir total verarmt. Die größte Kunst ist die Kunst der Liebe – vielleicht mach ich da noch einen Film darüber, denn unser Liebesleben liegt ziemlich im Argen.

Interview: Karin Schiefer
2013