INTERVIEW

«Jeder weiß, was ein Casanova ist, aber niemand...

 

 

... weiß, wer Casanova war. Michael Sturminger über seine Variationen zum Leben Giacomo Casanovas. CASANOVA VARIATIONS wird im Wettbewerb von SAN SEBASTIÁN uraufgeführt.


Dem Film CASANOVA VARIATIONS geht eine sehr erfolgreiche Bühnenproduktion voran: The Giacomo Variations mit John Malkovich in der Hauptrolle tourte um die ganze Welt. Was konnte das Medium Film noch hinzufügen, dass sie diesen Stoff nun auch fürs Kino aufgriffen?
Michael Sturminger: Ein so hochkarätiges Casting, wie wir es im Film haben, auf der Bühne zu versammeln, wäre völlig utopisch, allein schon aus Kostengründen. Darüber hinaus hat man im Kino eine besondere Freiheit. Grundvoraussetzung war für mich, dass nicht Playback gesungen wird. Die Unmittelbarkeit und Dichte, die mich am Singen oder an der Kombination zwischen Gesang und Spiel so faszinieren, werden total ausgelöscht, wenn etwas Vorproduziertes nachgeahmt wird. Wir haben daher alles so konzipiert, dass immer live gesungen und musiziert wurde, mit Ausnahme weniger Stellen, wo a capella gesungen wurde und die live gespielte Orchestermusik dazukommt. Was man auf der Leinwand sieht, ist im Augenblick des Drehs auch entstanden. Der Vorteil des Kinos liegt darin, dass man etwas wiederholen kann, bis es stimmt. Wenn dieser Ansatz im Kino gelingt, dann geht er über den üblichen Opernfilm hinaus, wo man entweder Leute sieht, die auf einer Bühne für eine andere Distanz singen oder die so tun, als ob sie sängen, zu etwas, das sie bereits gesungen haben. Technisch ist unser Zugang aufwändig und kompliziert. Es war der Luxus, den wir uns geleistet haben, der uns überhaupt erst einen Weg eröffnet hat, das Genre Oper im Kino zu behandeln.

In CASANOVA VARIATIONS verschwimmen mehrere Ebenen miteinander: Casanova und Elisa im böhmischen Schloss, die Bühne der Lissaboner Oper und das semi-dokumentarische Geschehen rund um die Aufführung, wo die Schauspieler sie selber sind. Wie sehr ging es um ein Spiel der Illusionen und Verwirrungen, das vermeintliche Realität und Bühnenwelt miteinander verfließen lässt?
Michael Sturminger: Auf der Bühne hatten wir schon an wenigen Stellen damit gespielt, dass sich das Private des Darstellers mit der Rolle mischt. Zum Beispiel in dem Moment, wo der Herzinfarkt auf der Bühne passiert und die Grenzen zwischen Bühnengeschehen und „echtem Leben“ verschwimmen. Diese Ebene haben wir in der Kinofassung mit vielen Erfahrungen und atmosphärischen Begebenheiten von den Tourneen angefüllt und damit die Frage eingebracht – was bedeutet es, wenn der berühmte Schauspieler den berühmten Mann spielt? Was die Geschichte auf beiden Ebenen trägt, ist der Umstand, dass Casanova vor allem einen Ruf hatte. Das war so ziemlich alles, was er zu seinen Lebzeiten besaß: einen Ruf und eine Aura. Wahrscheinlich waren 90% von dem, was über ihn gesagt wurde, falsch, aber er war so interessant, dass über ihn gesprochen wurde. Ein Star. Quasi eine öffentliche Person,  über den jemand etwas gehört oder seine eigene Phantasie zu ihm entwickelt hat. Meist hat das ganz wenig mit der Person selbst zu tun. Das setzt sich bei den Filmstars unserer Zeit fort. Diese Schnittstelle haben wir aufgegriffen, um den Grundfragen nachzugehen – Wie beurteilt jemand das Leben eines anderen? Wie beurteilt man sein eigenes Leben? Denn rückblickend stellt sich für Casanova die Frage „Was war es wert, dieses Leben so gelebt zu haben?“

Es waren ja von Casanovas Memoiren diverse Fassungen im Umlauf und auch beim von ihm selbst verfassten Original muss man sich fragen – "Was ist wahr? Was hat er erfunden, um ein Bild von sich zu schaffen?"
Michael Sturminger: Was er erfunden hat, ist natürlich eine große Frage. Das Original von L’histoire de ma vie hat vor einigen Jahren die französische Nationalbibliothek von der Verlegerfamilie Brockhaus erworben. Jetzt kann man jede einzelne der mehr als 5000 Seiten der Originalhandschrift digitalisiert im Internet abrufen und die ganze Lebensgeschichte im französischen Original nachlesen.

Liegt dem Drehbuch demnach eine ausführliche Auseinandersetzung mit Casanovas Memoiren zugrunde?
Michael Sturminger: Vom Bühnenstück The Giacomo Variations zum Film habe ich nicht mehr sehr viel Quellenstudium betrieben. Zuvor habe ich mich allerdings durch das gesamte Werk gearbeitet. Das wollte ich unbedingt. Selbst wenn man alles genau durcharbeitet, kann es sein, dass man irgendwann weniger aufmerksam ist und vielleicht etwas übersieht. Und es muss einem auch etwas dazu einfallen. Einmal durchgelesen heißt ja noch lange nicht alles begriffen. Das Faszinierende an seinen Memoiren ist, dass er sie so schreibt, wie jemand, der reinen Tisch machen will. Ich habe nicht das Gefühl, dass sehr viel gelogen ist. Er gesteht auch selbst ein, wie eitel er ist und setzt sich relativ oft nicht gerade in ein vorteilhaftes Licht. Da muss auch eine Suche nach Wahrhaftigkeit eine Triebfeder gewesen sein. Er konnte nicht erwarten, dafür einen besonderen Applaus zu bekommen. Zu seinen Lebzeiten hat kaum jemand davon gelesen.

Wie hat sich die Auseinandersetzung mit Casanovas Leben mit den Mozart-/da Ponte-Opern verschränkt?
Michael Sturminger: Für  Inferno Comedy, einem Bühnenstück über den Serienmörder Jack Unterweger, das mit Konzert-Arien von Vivaldi, Beethoven, Haydn und Mozart verbunden war, hatten wir einen sehr einfachen Bühnenansatz: John Malkovich liest Jack Unterwegers Lebenserinnerungen, die dieser geschrieben hat, und dazu steht das Orchester der Wiener Akademie auf der Bühne. Dieses Orchester, das klanglich mit seinen Originalinstrumenten das 18. bzw. beginnende 19. Jh. einbringt, und Jack Unterweger hatten gar nichts miteinander zu tun. Aber aus diesem Widerspruch entstand zwischen Unterwegers Erzählungen und den Konzertarien von Frauenfiguren eine spannende Wechselwirkung. Ein sehr einfaches Konzept, mit dem wir mit unheimlichem Erfolg durch die Welt getourt sind. Martin Haselböck, der die Musik gemacht hatte, und John Malkovich fanden, wir müssten noch ein zweites Thema finden. Zeitgenössische Musik war undenkbar. So habe ich Casanova vorgeschlagen, wissend, dass er ein Bekannter von Mozart und ein Freund von da Ponte war. In der Musik-Recherche hat sich dann ergeben, dass es in den drei da Ponte/Mozart-Opern, Don Giovanni, Die Hochzeit des Figaro, Così fan tutte, Arien gab, die sich sehr gut in dieses Leben fügen. Es war eine lange Arbeit des Auswählens. Da Ponte war ein ähnlicher Typ wie Casanova oder Cagliostro, der auch im Film erwähnt wird. Jemand, der die gesellschaftlichen Schranken überwinden wollte, musste sich selbst erfinden. Das gilt für damals, aber auch für heute. Damals hat man entweder sein Leben lang geschuftet oder gar nicht gearbeitet hat, weil man alles hatte. Dazwischen gab es diese wenigen Menschen, die ihre Geburt zum Schuften verurteilt hätte, die das aber nicht wollten. Sie mussten etwas Besonderes tun. Casanova musste sich sein Leben lang selbst erfinden. Es haben sich in dieser Zeit der Aufklärung der Freiheits- und der Individualbegriff sehr stark entwickelt, was viel mit der sich anbahnenden Französischen Revolution zu tun hat. Casanova war manchmal unfassbar reich, dann hatte er wieder nichts. Wenn er gerade in jemandes Gnade lebte, ging es ihm wie einem Fürsten, dann fiel er wieder tief. Er hat von seiner Jugend an alle sozialen Möglichkeiten wie auf einer Hochschaubahn vor sich gesehen und alles, was es in seinem Zeitalter zu erleben gibt, erlebt. Die 5000 Seiten sind auch deshalb so interessant, weil sie eines der besten Zeugnisse über das Leben dieser Zeit sind, aus dem man sehr viel Alltagsgeschichte herauslesen kann.

„I need variation/ I require variation“ sagt Giacomo und äußert damit nicht nur ein psychologisches wie inhaltliches, sondern auch ein formales Leitmotiv. Was steht hinter der Idee der Variationen?
Michael Sturminger: Dieser Satz ist in vielerlei Aspekten ein Leitmotiv. Sowohl John Malkovich als auch ich mögen es in der Theaterarbeit, wenn nichts festgelegt ist.

Als Bühnenregisseur erzeugen Sie ja auch eine Variation eines Stücks.
Michael Sturminger: Nicht nur eine, sondern nach Möglichkeit jeden Abend wieder eine neue. In der Arbeit mit Opernsängern kommt es sehr darauf an, wie sehr ihnen das Schauspiel liegt. Das kann sehr unterschiedlich sein, hat auch viel mit der Schwierigkeit der Musik zu tun. Wenn aber in einer Operninszenierung in musikalischer Hinsicht einmal alles sitzt, dann gehöre ich zu den Regisseuren, denen eine maximale Freiheit in der Arbeit das oberste Ziel ist. Wenn wir eine Figur genau definiert haben, dann will ich dem Schauspieler nicht sagen, in welchem Moment er sich setzen soll, das weiß er aus seinem Verständnis der Figur. Ich muss es als Regisseur nicht besser wissen. Da bin ich in meiner Zunft nicht allein, es gibt aber dennoch sehr viele, die den Reiz des Regieführens in der maximalen Kontrolle dessen, was vor sich geht, verstehen. Ich arbeite ganz massiv an einem Kontrollverlust, allerdings in einer funktionierenden Umgebung, die so gut definiert ist, dass der Kontrollverlust nicht ins Chaos, sondern in eine Verbesserung führt. John Malkovich, der viel mehr Theater als Film gespielt hat, bringt ein ähnliches Credo mit. Er sagt, wenn man im Theater aufhört zu forschen, was noch besser werden könnte, wenn man reproduziert, dann ist die Spannung draußen. Deshalb sagt er aus innerer Überzeugung „I need variation“, und trifft auf die Figur des Casanova, der ein Leben lang einem Ideal nachläuft. Alle seine Geschichten sind Variationen von der Unauffindbarkeit der ewigen, wirklichen, der optimalen und unschlagbaren Liebe. Dazu fügt sich dann die musikalische Variation. Unsere Mozartszenen sind eine Variation der Originale, weil wir sie in einen anderen Kontext stellen. Manchmal ist die Verbindung sehr eng, manchmal liegen sie sehr weit auseinander wie z.B. im Duett am Schluss,  Crudel, perchè fin ora farmi languir così, zwischen dem Grafen und Susanna, die ihn schon so lange hinhält. In CASANOVA VARIATIONS wissen wir, dass er sterben wird und sie weiß es auch. Im Film wird die Musik langsamer und ist zwei Töne tiefer gesetzt. Das verändert die Atmosphäre total. Da steht nicht mehr der vor Manneskraft strotzende Graf da, sondern hier wird seine ganze Zerbrechlichkeit spürbar. Eine noch weiter von der Oper entfernte Variation ist es, wenn John Malkovich mit seiner gebrochenen Stimme das Ständchen aus Don Giovanni singt. Dieser klassische Verführer-Song bekommt durch seine gebrochene Stimme eine ganz andere Dimension.

Als weiterer Beitrag zum Spiel der Verwirrungen sind die Hauptrollen, Giacomo und Elisa, doppelt besetzt, jeweils durch Schauspieler und Opernsänger. An anderer Stelle singen die Schauspieler selbst. Wie sind Sie grundsätzlich mit dem Element Stimme umgegangen?
Michael Sturminger: Das hat viel mit den musikalischen Funktionen zu tun. Ein Großteil von Mozarts Gesangspartien verlangt einfach nach einer lyrischen Qualität der Stimme. Wir würden das auf Dauer nicht von einer Stimme hören wollen, die diese Qualität nicht hat. Es gibt aber auch Stimmen, die durch ihren Charakter bestimmt sind und das nicht brauchen. John singt zu Beginn, wenn sie in den Logen klettern, aus Figaro In mal punto son qui giunto.  Das würde ein Opernsänger ganz anders singen, aber es gewinnt in diesem Moment durch Johns Stimme an Qualität. Gäbe es drei Sänger, die keine lyrische Stimme haben, dann würden wir es nicht aushalten. Fanny Ardent singt die Marcellina, eine Dame zwischen 65 und 70, die nicht durch das Blühen ihrer Stimme etwas in die Rolle bringen muss. Heute vertritt man in der Opernszene die Auffassung, dass jeder Part „schön“ sein muss. Das war nicht immer so und es verleiht einer Oper nicht unbedingt mehr Kraft, denn es bricht der Kontrast weg und auch der Humor. Ich spiele lieber mit den Gegensätzen.

Wie kann man sich die Dreharbeiten vorstellen: Die Rahmenbedingungen – begrenztes Budget und Musiker und Sänger, die zeitlich nur ganz knapp zur Verfügung standen, stellten gewiss außerordentliche  Herausforderungen?
Michael Sturminger: Wenn alle live singen, das Ensemble live spielt, dann geht das auch an die Grenzen der Organisierbarkeit. Ich hatte einen wunderbaren ersten Regieassistenten in Lissabon, der seit den siebziger Jahren beim Film ist. Er sagte mir nach dem letzten Drehtag: „Weißt du, dass du der einzige warst, der wirklich daran geglaubt hat, dass es möglich ist, dieses Programm durchzuziehen?“ Wir waren 15 Drehtage in der Oper von Lissabon und 13 Tage an den anderen Drehorten. Wir hatten einen dreistündigen Rohschnitt, d.h. wir hatten sehr, sehr viel gedreht. Wir haben in diesen wenigen Tagen eineinhalb Stunden Musik aufgenommen. Es ist alles gut gegangen, da war auch viel Glück dabei. Ich bin in der Arbeit mit Opernsängern relativ routiniert und habe gute Nerven. Der Produzent Paulo Branco war immer wieder nahe daran, die Nerven zu verlieren. Und wir hätten nie mehr wieder diese Konstellation aus Orchester, Opernhaus und einzelnen Sängern zusammengebracht.

John Malkovich ist schon sehr lange ein künstlerischer Weggefährte. Was hat Sie zusammengeführt?
Michael Sturminger: Zunächst einmal unsere gemeinsame Liebe zum Theater und zu Drehbüchern. Was ich nie für möglich gehalten hätte – es ist selbst für Schauspieler von Weltruhm nicht einfach, an Arbeit heranzukommen, die sie interessiert. John ist sehr getrieben, lebenslang auf der Suche. Geld interessiert ihn nicht. Mal hat er viel, mal ist es wieder weg. Er betrachtet es als Privileg, so viel Geld zu verdienen, das er und die Menschen rund um ihn ein angenehmes Leben haben können. Das ist ihm genug. Daher ist er auch sehr unabhängig. Sehr oft verwendet er sein Geld dafür, defizitäre Kunstprojekte zu fördern. Mit uns allerdings hat er wirklich Geld verdient.

Was sorgt Ihrer Meinung nach für die Popularität der Figur des Verführers und Tabubrechers Casanova?
Michael Sturminger: Sein Name ist sprichwörtlich geworden. Jeder weiß, was ein Casanova ist, aber niemand weiß, wer Casanova war. Ich glaube, dass schon zu Casanovas Lebenszeit sein Ruf größer war als der Inhalt. Es beginnt damit, dass auf diesen 5000 Seiten 128 Liebschaften erwähnt sind. Wenn wir davon ausgehen, dass er zwischen 15 und 65 sexuell aktiv und nie gebunden war, dann sind die 128 Frauen, die da vorkommen, gar nicht so viel. Mozarts Don Giovanni hält bekanntlich bei 1003 allein in Spanien. Es gibt mehrere große Liebesgeschichten, die über Jahre gehen. Aus verschiedenen Gründen gelingt es ihm nie zu heiraten. Bei Casanova gibt es keinen Zynismus à la Don Juan.  Auch wenn er von seinen wilden jungen Jahren erzählt, ehe er in Venedig in Bleikammern gesperrt wurde, spricht er auch vom üblen Nachgeschmack, den dies hinterlassen habe und beschreibt es nicht als Heldentat. Er sucht, so lange er lebt, nach einer großen Liebe und findet sie auch ein paar Mal. Im Film will er von sich eine Definition haben, was er ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, er ist der erste Romantiker. Zum Zeitpunkt, als er Ende des 18. Jhs. stirbt, taucht der Begriff der Romantik erstmals in der deutschen Literatur auf.

Ist Elisa eine historische Figur?
Michael Sturminger: Elisa von der Recke ist nicht nur eine historische Figur. Sie hat in der Tat das Buch über Cagliostro geschrieben, das ihn, den Hochstapler, völlig ruiniert hat. Es ist auch historisch, dass Elisa Casanova in seinen letzten Lebensjahren aufgesucht hat, was mir den Stoff geliefert hat. Cagliostro war ein ähnlicher Lebenskünstler wie Casanova, der durch die Welt gereist ist und magische Experimente durchführte. Elisa hatte sich als junge Frau offensichtlich total in Cagliostro verliebt und letztendlich ein Buch geschrieben, mit dem sie seinen Betrug aufgedeckte. Katharina die Große hat ihr aus Freude über dieses Buch, dass dem Betrüger das Handwerk gelegt wurde, die Einkünfte aus drei Schlössern überlassen. Elisa  war damit eine reiche, unabhängige Frau. Die Konstruktion, dass Casanova befürchtet, dass ihm ein ähnliches Schicksal blüht, ist berechtigt.

Was der Film gegenüber dem Theater auch hinzufügen kann, ist das Tempo, das durch den Schnitt gesteuert werden kann. Ist sehr viel in der Schnittphase entstanden?
Michael Sturminger: Unheimlich viel, weil wir die Dinge immer stärker ineinander schieben und eine Gleichzeitigkeit herstellen konnten. In dieser Hinsicht ist unsere Filmversion noch interessanter als die Bühnenversion. Der Schnitt kann unglaublich verdichten, ohne dass die Authentizität verloren geht.

CASANOVA VARIATIONS kommt einer Idee vom Gesamtkunstwerk sehr nahe.
Michael Sturminger: Ich glaube, dass in gewissem Maße das Kino die Oper als Gesamtkunstwerk abgelöst hat. Jetzt geht das gerade vielleicht an den Computer verloren. Die Idee, dass alle Genres in einem Kunstwerk zusammenwirken, ist sicherlich zum Film gewandert. Umgekehrt muss man sagen, dass die Musik im durchschnittlichen Kinofilm oft ziemlich schlecht ist. Da passiert oft ein Missverständnis. Wenn man vom Gesamtkunstwerk ausgeht, dann ist die Musik die abstrakteste, aber auch die, die am tiefsten geht, ihr kann man sich am wenigsten entziehen und sie überwindet auch die Sprache.

In CASANOVA VARIATIONS brachten die Möglichkeiten des filmischen Erzählens ein Mehr zu einem bereits erfolgreichen Bühnenprojekt. Denken Sie manchmal über eine rein filmische Erzählung nach?
Michael Sturminger:  Ja, auf alle Fälle. Ich halte den Wechsel der Genres für etwas Wichtiges, weil man Dinge immer wieder relativiert. Mein vordergründiges Interesse besteht darin, mit interessanten Menschen an interessanten Dingen zu arbeiten. Da ist mir das Genre weniger wichtig. In jedem der drei Medien und auch beim Schreiben ist man auf der Suche nach einem Moment der Wahrhaftigkeit und der Selbsterkenntnis. Es geht mir darum, etwas über das Leben zu verstehen, darüber, warum wir uns benehmen wie wir uns benehmen. Das erste, was ich erforsche, ist der Mensch oder die Frau mir gegenüber oder mich selbst. Warum ist es so, wie es ist? Warum ist es so schwierig und kompliziert? Mit dieser Suche bin ich nicht allein, Mozart bringt das meines Erachtens auf besondere Weise auf den Punkt. Mich interessieren die Komponisten, die sich für die Menschen interessieren. Bei Wagner finde ich das nicht, oder in nur in Ansätzen. Ich entdecke eher bei Marivaux etwas, das mich interessiert, als bei Puccini. Das 19. Jh. will großflächiges Erzählen – große Helden, große Niederlagen, klare Motivationen. Mich interessiert es dort, wo die Motivationen verschwimmen, wo die Leute selber nicht wissen, was sie tun sollen. Das findet man im Musik- wie im Sprechtheater und im Kino. Ich stehe nicht vor der Frage, ich möchte Kino oder Theater machen. Ich möchte dort hin, wo ich meine Themen oder meine Begegnungen finde, wo ich meine Experimente und meine Überlegungen anstellen kann. Es würde mir großen Spaß machen, bald wieder einen Kinofilm zu machen. Offensichtlich musste ich  in allen Genres immer wieder meine eigenen Dinge konzipieren.

Wie Casanova auch sich selber erfinden?
Michael Sturminger: Ja, dauernd. Ich habe weder in der Oper, noch beim Theater, noch im Film eine Karriere gemacht, wo Leute von außen kommen und etwas von mir wollen. Das geschieht immer wieder zufällig. Dazu war ich immer zu sehr zwischen den Szenen, nie in einer ganz fest verankert. Das hat sein Gutes, weil es mich dazu zwingt, selber etwas auf die Beine zu stellen.

Interview: Karin Schiefer
Juli 2014