INTERVIEW

«Das Aufeinanderprallen verschiedener Elemente wurde für uns zum Erzählprinzip.»

Lukas Valenta Rinner und Ana Godoy, Ko-Autorin und Cutterin, im Gespräch über Parabellum

 
 
Sie haben Parabellum in Argentinien gedreht und auch mit einer dortigen Firma koproduziert. Wie kam es, dass sie in Südamerika produzierten?

LUKAS VALENTA RINNER:   Ich lebe seit acht Jahren in Buenos Aires und habe dort auch an der Universidad del Cine mein Filmstudium abgeschlossen. Diese Schule wurde vom Regisseur Manuel Antín gegründet, der die neue Filmbewegung in Argentinien in den neunziger Jahren in Gang gebracht hat. Pablo Trapero, Lisandro Alonso gehören zu den Absolventen dieser Schule. Das Besondere an ihr ist, dass sie nach dem Studium sehr unkompliziert Zugang zu Film-Equipment ermöglicht. Es bleibt sehr einfach, auch nach Studienabschluss Kurzfilme zu produzieren und auch wenn man dann eine erste Langfilmidee hat, unterstützt die Schule. Mit dieser Unterstützung entstehen pro Jahr an die fünf, sechs Spielfilme. In Argentinien kann man erst nach seinem ersten Kinofilm bei den offiziellen Förderstellen ansuchen. Der Erstling muss also immer in Koproduktion mit einer etablierten Produktionsfirma entstehen. Außerdem sind die Gewerkschaften sehr stark, d.h. die Auflagen in punkto Arbeitszeit sehr streng. Für viele Produzenten ist es unmöglich geworden, kleine Filme mit kleinen Budgets zu produzieren. 

 
PARABELLUM wurde mit Unterstützung der Filmfestivals von Buenos Aires und  FID Marseille entwickelt. Wie wurden diese Festivals auf das Projekt aufmerksam?

LUKAS VALENTA RINNER: Der erste Impuls für dieses Projekt ging auf die Jury für die START-Stipendien des damaligen bm:ukk zurück. Mein Kurzfilm Brief an Fukuyama ist dort sehr gut angekommen und für Parabellum hätte ich eine Förderung bekommen, wenn ich das Projekt hier in Österreich hätte realisieren können. Dies war aber in der damaligen Situation schwierig, da ich gerade im Begriff war, mein Studium abzuschließen. Ich bekam eine Empfehlung und ich suchte um Drehbuchentwicklung an. So kam das Projekt in Gang. Als wir dann die ersten Bilder von Parabellum hatten, präsentierten wir das Projekt beim BAFICI, dem Buenos Aires Film Festival. Das war der erste internationale Impuls. Im Laufe der letzten Jahre habe ich gelernt, wie sinnvoll es ist, die Projekte strategisch mit Hilfe dieser Entwicklungs-Schmieden international aufzubauen. BAFICI war eine ideale Plattform, weil man nicht nur potenzielle Koproduzenten trifft, sondern auch Festival-Repräsentanten – wie z. B. Gerwin Tamsma  vom Festival von Rotterdam oder Jean-Pierre Rehm von FID Marseille, der mich im Anschluss zur dortigen Projektplattform eingeladen hat. Es war sehr wichtig, dem Film früh einen internationalen Impuls zu geben. Bei unseren neuen Projekten beginnen wir jetzt noch früher. Wir versuchen, schon vom Treatment an, in internationalen Koproduktions-Märkten präsent zu sein.

 
Wie stark war der Stoff von PARABELLUM an den Drehort in der Region um Buenos Aires gebunden?

LUKAS VALENTA RINNER:  Der Ort ist für mich am Beginn eines Projektes eine sehr wichtige Inspirationsquelle. Das Tigre-Delta lieferte mir da einen sehr wichtigen Impuls. Es ist ein Urlaubsziel, vor allem für die argentinische Mittelklasse, die dort zum Wochenende für Kurzurlaube hinreist. Man wird auf Booten hinausgebracht und z.B. auf einer Insel abgesetzt und hofft dann, dass das Boot auch wieder kommt, um einen abzuholen.  Für mich war das immer ein extrem einsamer, von der Außenwelt isolierter Ort, der einen guten Ausgangspunkt lieferte. Als dann 2012 nach und nach Meldungen in den Medien auftauchten, wonach sich Menschen aufs Ende der Welt vorbereiteten und Überlebenskurse sich wachsender Beliebtheit erfreuten, stand für uns fest, dass wir mit einer Gruppe von Leuten aus der Mittelklasse, die Richtung Tigre aufbricht, um sich auf das Ende der Welt vorzubereiten, arbeiten wollten. In Córdoba z.B. gibt es einen "magischen Berg" namens Uritorco, wo im Dezember 2012 mit dem Ende des Maya Kalenders das Ende der Welt erwartet wurde. Mehrere hundert Leute zogen schon im Vorfeld dort hin, um sich darauf vorzubereiten. Das war die Initialzündung. Wir haben dann über mehrere Monate an Überlebenskursen teilgenommen, haben versucht, mit Trainern in Kontakt zu kommen, um zu verstehen, was diese Menschen bewegt, um ihnen emotional näher zu kommen. Wir ließen sehr viel von unserer Recherche ins Buch einfließen. Mit drei Überlebens-Trainern haben wir intensiver zusammengearbeitet. Von ihnen ließen wir uns auch einen Trainingsplan für das Ende der Welt zusammenstellen.

 
Das klingt nach einer Recherche, die gewiss viel an befremdlichen Erlebnissen in sich barg.

LUKAS VALENTA RINNER: Das Interessante war, dass wir unser Drehbuch für extrem fiktiv  hielten und uns mit einer Realität konfrontiert sahen, die viel radikaler war.
 
ANA GODAY: Wir mussten Dinge rausnehmen, um die Glaubwürdigkeit aufrecht zu erhalten. Wir erlebten in der Realität Dinge, die sich fürs Storytelling als kontraproduktiv erwiesen hätten.

 
Gegliedert ist der Film durch Zwischentitel mit Zitaten aus fortschreitenden Kapiteln aus einem Werk, das als  „The Book of Disasters“ zitiert wird. Existiert dieses Werk?

LUKAS VALENTA RINNER: Das Buch gibt es tatsächlich. Die Autoren haben in der Zeit der boomenden Kurse ein Buch veröffentlicht, das auf die verschiedensten Möglichkeiten des Weltuntergangs vorbereiten soll. Jedes Kapitel beginnt mit einem einleitenden Satz. Diese Zitate dienten uns bereits im Treatment zur Strukturierung. Im Drehbuch haben wir sie dann verworfen, im Schnitt sind wir aber wieder zu dieser Idee zurück. Die Erzählung ist sehr fragmentiert und arbeitet immer wieder gegen starke Widerstände. Das wollten wir durch diese Zwischentitel verstärken, indem wir zusätzlichen Widerstand aufbauen und  damit auch die Zeitsprünge herausarbeiten. Wir haben gemeinsam mit den Autoren des Buches die Zwischentitel für den Film entwickelt.

 
Würden Sie PARABELLUM als Fiktion oder als Experimentalfilm bezeichnen?

LUKAS VALENTA RINNER: Ich würde ihn als Fiktion betrachten, es grenzt allerdings schon an einen Experimentalfilm. Es ist vielleicht eine radikal erzählte Fiktion.

 
Sie entwickeln ein Horrorszenario aus einer dramaturgischen Minimalausstattung heraus. Der Ansatz des elliptischen Erzählens scheint bis ans Äußerste ausgereizt. „Wie wenig muss ich preisgeben, um eine Erzählung in Gang zu halten“, scheint eine Prämisse zu sein. Beginnend bei den Protagonisten, von denen wir praktisch kaum etwas erfahren, weder von ihren Ängsten, noch von ihrer Vorgeschichte noch entwickeln sie ein Charakterprofil in der Zeit mit der Gruppe.

LUKAS VALENTA RINNER: Es war für uns spannend, diese Menschen in ihrer Urlaubs- oder Vorbereitungsroutine zu beobachten und dann langsam über ihr Tun auf die Innerlichkeit ihrer Charaktere zu schließen. Es ging uns darum, so wenig wie möglich zu verraten. Wir machen nur die Spitze des Eisbergs sichtbar, den Untergrund muss sich der Betrachter aus den Bildern herausholen. Das war auch für uns ein Experiment. Im Drehbuch war es jedenfalls so angelegt. Wir wussten aber selbst nicht, ob das in einer Fiktion funktionieren würde. Der Dialog ist auf ein Minimum reduziert. Wir wollten vermeiden, die Figuren durch Dialoge zu psychologisieren oder mit zusätzlichen Informationen zu versehen. Um dem Geschehen zu folgen, sollte der Zuschauer nicht nur auf der Bildebene, sondern auch auf der erzählerischen Ebene  auf Distanz gehalten werden.

 
Der Film kommt ja eigentlich ganz ohne Dialoge aus:  Sprachliche Kommunikation reduziert sich auf Anweisungen und Aufforderungen. Genau genommen klammern Sie die Momente, wo Menschen miteinander reden, aus.  Die filmische Erzählung scheint dort erst einzusetzen, nachdem miteinander geredet worden ist.

LUKAS VALENTA RINNER: So ist es. Wir haben den Versuch unternommen, die Zwischenmomente zu beleuchten. Dort, wo in einer klassischen Fiktion die Szene schon vorbei ist, setzen unsere Szenen an. Wir wurden schon öfter mit dem Einwand, der Film sei kalt  und emotionslos, konfrontiert; Ich bin der Meinung, dass man in den ganz reduzierten Momenten Emotion herauslesen kann – in Blicken und kleinen Gesten. Die Innerlichkeit der Figuren muss sich nicht unbedingt über das Wort erschließen. Es liegt vielmehr in den Details, in Graubereichen.

 
Fand dieses Reduzieren schon in der Drehbucharbeit statt oder hat hier der Schnitt sehr viel an Arbeit geleistet?

ANA GODAY:  Die Natur ist in Parabellum ein sehr starker Charakter. Wenn in der Natur ein heftiger Sturm anhebt und der Unterschlupf einzustürzen beginnt,  dann hat das auch mit den Emotionen der Figuren zu tun. Dinge kommen im Film nicht nur über den menschlichen Charakter zum Ausdruck, sondern viel über die Naturereignisse.
 
LUKAS VALENTA RINNER:  Ursprünglich gab es ein paar Dialogszenen. Im Schnitt stellte sich aber heraus, dass dies „Lärm“ erzeugte und nicht stimmig war. Natur und Räume hatten schon im Drehbuch die Funktion von Charakteren. Der Film sollte ganz grundsätzlich eine Reise durch Räume sein.

 
Eines Ihrer wiederkehrenden Stilmittel ist die Arbeit mit Kontrasten. War das Operieren mit Gegensätzen ein adäquates (Hilfs)Mittel in der extrem reduzierten Erzählweise?

LUKAS VALENTA RINNER:   Im Spanischen spricht man vom „choque“, dem Aufeinanderprallen verschiedener Elemente, das für uns zum Erzählerprinzip wurde.
 
ANA GODAY:  Im Schnitt ging es in eine Richtung, wo zwei grundverschiedene Szenen aufeinanderfolgten, von denen jede eine eigene, starke Identität ausweist. Aus diesem Kräftespiel entwickelte sich der Rhythmus, den wir einhalten wollten.
 
LUKAS VALENTA RINNER:  Wir haben auch immer wieder versucht, gegen das lineare Erzählen zu arbeiten. Das Resort war im Drehbuch sehr klar in Relaxing- und Trainingszeit gegliedert. Im Schnitt stellten wir fest, dass im Gegensatz zur linearen Gliederung im Buch vielmehr das Zulassen des Zusammenpralls und konträrer Szenen und die Arbeit gegen die Linearität der Erzählung, eine zusätzliche Potenz erzeugt.

 
Wie ist es gelungen, dem Spannungsverhältnis zwischen der Stadt/Zivilisation und Natur gerecht zu werden?

LUKAS VALENTA RINNER: Die Natur an sich war imposant. Aber wir  waren auch sehr stark an architektonischen Räumen interessiert, besonders in Buenos Aires und am Beginn des Tigre.
Je stärker die Natur in den Vordergrund tritt, desto schwieriger wurde es, das richtige Framing für diese Orte zu finden. Mit dem Kameramann Roman Kasseroller  kamen wir überein, dass die Kamera dynamischer werden musste, je tiefer wir in den Dschungel vordrangen. Mit der statischen Kamera konnten wir nur zu Beginn arbeiten. Daher gibt es gegen Ende des Films eine immer bewegtere Kamera.
 
ANA GODAY:  Eigentlich waren wir dazu gezwungen, mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen. Die Produktion selbst hat sich so stark verändert, weil wir uns der Umgebung anpassen mussten. Wir begannen im Komfort der Stadt zu drehen und irgendwann endeten wir am Wasser, rund um uns Käfer und wir versuchten, etwas mit der Kamera einzufangen. Letztlich wurden auch wir, die Crew, zu Figuren, insofern, als dass wir uns an die Gegebenheiten anpassen mussten.

 
Hat das im Laufe des Drehs auch eine Bereitschaft zur Improvisation bedeutet?

LUKAS VALENTA RINNER:  Dem Dreh ging eine minutiöse Location- Vorbereitung voran. Die meisten Drehorte waren genau geplant. Auch unser Budget war so knapp bemessen, dass wir kaum Spielraum hatten, bei der Ausstattung große Veränderungen und Adaptierungen zu machen. Wir mussten quasi perfekte Locations finden. Daher waren wir in der Vorbereitung sehr rigoros.

 
Bildtechnisch arbeiten sie mit zentralperspektivischen, tableauartigen Bildern. Die Assoziation mit Ulrich Seidls Bildern liegt sehr nahe. Gehört er zu jenen Filmemachern, die Sie inspirieren bzw. beeinflussen?

LUKAS VALENTA RINNER: Ich glaube Seidl steht mit seinen zentralperspektivischen Bildern in einer Tradition der Bildgestaltung die schon mit der Nouvelle Vague begann und dann von vielen Regisseuren aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Sieht man heute zum Beispiel Katzelmacher von Fassbinder, gibt es da ganz klare Parallelen in der Bildgestaltung. Wir wurden sicher von diesen Bildern inspiriert, aber unser ästhetischer Ausgangspunkt lag vielmehr in alten kommunistischen Monumental- und Propagandabildern. Das Ministerium, in dem Hernán anfangs arbeitet, ist ein perfektes Beispiel. Die Uniformen sind an einem chinesischen Vorbild inspiriert, die die Landbevölkerung  bekommt, wenn sie Lehrausflüge macht.

 
Die Figuren wirken sehr unspektakulär und natürlich. Haben Sie mit professionellen Schauspielern gearbeitet?

LUKAS VALENTA RINNER:  Bei den Darstellern wollten wir eine gute Mischung erreichen. Der Kern sollte auf alle Fälle von Profis gespielt werden: Hernán wird von Pablo Seijo gespielt, Martin Shanly spielt Juan und Eva Bianco spielt Selina. Pablo und Martin kommen aus der Independent-Theaterszene in Buenos Aires. Eva Bianco hat 2010 in Un Certain Regard in Cannes den Preis als Beste Darstellerin bekommen. Wir wollten also professionelle Schauspieler, die den Film tragen und durch Laienschauspieler ergänzt werden.  Wir haben sehr viele  Menschen gecastet. Ich bin sehr an Gesichtern und der Ausdruckskraft von Nicht-Schauspielern interessiert. Es gibt hierbei einen erzählerischen Unterschied. Ein professioneller Schauspieler kommuniziert ganz anders als ein Nicht-Schauspieler. Gerade in einem Film, wo es viel um das Betrachten von Routinen, von Übungen, um kleinste zwischenmenschliche Details geht, funktionieren Laien fast besser. Bei den Profi-Schauspielern war es teilweise sehr schwierig, sie davon zu überzeugen, wenig zu kommunizieren und sich keine Dramaturgie zu überlegen, sondern im Moment zu sein. Für diese gelernten Schauspieler war es unglaublich schwer z.B. einfach zu essen, ohne zu spielen. Wir haben deshalb sehr lange Takes gemacht, damit die Darsteller beinahe vergessen, dass eine Kamera anwesend ist. Wir haben uns für jede Szene viel Zeit genommen, um eine ausgewogene Mischung an Natürlichkeit zwischen den Profis und den Laien zu erreichen.

 
Der erste Teil des Kurses spielt in einem Resort. Es entsteht eine skurrile Mischung aus militärischem Anspruch und Urlaubskomfort. Schwingt hier auch eine Idee von Satire mit?

LUKAS VALENTA RINNER:  Dieser Aspekt war im Drehbuch kaum vorgesehen. Das hat sich durch das Zusammenwirken zwischen den (echten) Trainern und den Kursteilnehmern wie von selbst ergeben. Die Trainings waren ja eigentlich real.
 
ANA GODAY:  In diesem Zusammenhang mussten wir, wie schon erwähnt,  auch Dinge rausnehmen, weil es sonst zu dick aufgetragen gewirkt hätte.

LUKAS VALENTA RINNER: Es ergaben sich extrem komische Szenen und es war sehr hart im Schneideraum auf so viel zu verzichten. Da der Film eher komisch beginnt und immer ernster wird, war es ganz wichtig, den Respekt vor den Figuren zu wahren. Wären wir da zu sehr in Richtung Komödie gegangen, wäre es schwierig geworden die Ernsthaftigkeit des Dramas zu wahren.
Die Trainings, die auch eine Waffenausbildung inkludieren, werden im realen Leben durchgeführt und zwar für Leute aus dem Mittelstand, für Hausfrauen. Diese Trainings laufen unter dem Motto der Selbstverteidigung und laufen teils sehr gewaltvoll ab. Um die Trainings realistischer zu gestalten wird eine theoretische Angst herbeigeredet, instrumentalisiert und geschürt.
Wir versuchten im Film den Übergang von einer theoretischen Gewalt, die nur verbal existiert, in eine real werdende Gewalt auszuloten und zu veranschaulichen.

 
Welche Art der Gefahr hier heraufzieht, bleibt vage. Ist es ein gesellschaftliches Phänomen in Argentinien, ein erhöhtes Bedrohungspotenzial zu orten und damit möglicherweise auch gutes Geschäft zu machen?

LUKAS VALENTA RINNER:  Ja. Insofern ist Parabellum auch ein sehr politischer Film, weil Gewalt und Unsicherheit ständig in den Medien thematisiert werden. Das ist in Buenos Aires tagtägliches Thema. Es wird Panik gemacht. Eine Panik, die in erster Linie von den Medien geschürt wird, um die Mittelklasse zu verunsichern, die dann wiederum veranlasst ist, Druck auf die Regierung auszuüben. Das ist gerade ein aktuelles politisches Thema. Die Medien schüren Angst vor den Armen, die jeden Moment in Buenos Aires Häuser überfallen könnten. Nicht wenige Leute verlassen die Hauptstadt und ziehen sich in die  Provinz zurück, wo sie in „gated communities“ leben, die mit einer vollen Infrastruktur von Schule bis Supermarkt ausgestattet sind und verlassen den „Bunker“ nur noch gelegentlich. Der Film thematisiert zum einen diese Angst der argentinischen Mittelklasse und zum anderen die Dynamik der Gewalt. Während des Drehs gab es in Buenos Aires heftige, teils gewalttätige Proteste der Mittelklasse gegen die Regierung. Es entsteht das Gefühl, dass die Polizei die Sicherheit der Allgemeinheit nicht mehr in der Hand hat. Dadurch werden die Menschen immer brutaler und glauben hier selbst „ordnend“ einschreiten zu müssen.

 
Der Protagonist Hernán schließt zu Beginn des Films einem Selbstmörder gleich mit seinem Leben ab. Er scheint eine Rückkehr nach dem Training nicht zu erwägen. Über die undefinierte physische Bedrohung hinaus, erzählt der Film auch ein menschliches „Desaster“, nämlich dass es keine Nähe, keine Empathie gibt bzw. geben darf.

LUKAS VALENTA RINNER:  Als wir die ersten Menschen kennenlernten, die sich auf das Ende der Welt vorbereiteten, stellten wir fest, dass es für diese Menschen auch eine Gelegenheit bot, aus ihrer Routine, ihrem Alltag auszubrechen und ein alternatives Leben auszuprobieren. Für viele ist in einer Gesellschaft, wo vieles gegeben ist und Dinge wie Nahrung oder Kleidung eine Selbstverständlichkeit darstellen, die Vorstellung vom „Ende der Welt“ schon wieder eine Faszination, ein Ausstiegsszenario. So auch für Hernán.

 
Wie sehen Sie das Ende, wenn Hernán sich zwischen zwei Welten bewegt, von denen keine mehr einen Platz für ihn hat.

LUKAS VALENTA RINNER:  Unsere Arbeitsthese war die, dass für unsere Figuren das Ende der Welt tatsächlich eintritt. Sozusagen als Geschenk, weil sie es sich so sehr wünschen und somit aus ihrer Routine ausbrechen können.


Interview: Karin Schiefer
Februar 2015
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Lukas Valenta Rinner und Ana Godoy, Ko-Autorin und Cutterin, im Gespräch über PARABELLUM
 
 
 
Sie haben PARABELLUM in Argentinien gedreht und auch mit einer dortigen Firma koproduziert. Wie kam es, dass sie in Südamerika produzierten?
Lukas Valenta Rinner: Ich lebe seit acht Jahren in Buenos Aires und habe dort auch an der Universidad del Cine mein Filmstudium abgeschlossen. Diese Schule wurde vom Regisseur Manuel Antín gegründet, der die neue Filmbewegung in Argentinien in den neunziger Jahren in Gang gebracht hat. Pablo Trapero, Lisandro Alonso gehören zu den Absolventen dieser Schule. Das Besondere an ihr ist, dass sie nach dem Studium sehr unkompliziert Zugang zu Film-Equipment ermöglicht. Es bleibt sehr einfach, auch nach Studienabschluss Kurzfilme zu produzieren und auch wenn man dann eine erste Langfilmidee hat, unterstützt die Schule. Mit dieser Unterstützung entstehen pro Jahr an die fünf, sechs Spielfilme. In Argentinien kann man erst nach seinem ersten Kinofilm bei den offiziellen Förderstellen ansuchen. Der Erstling muss also immer in Koproduktion mit einer etablierten Produktionsfirma entstehen. Außerdem sind die Gewerkschaften sehr stark, d.h. die Auflagen in punkto Arbeitszeit sehr streng. Für viele Produzenten ist es unmöglich geworden, kleine Filme mit kleinen Budgets zu produzieren. 

 
PARABELLUM wurde mit Unterstützung der Filmfestivals von Buenos Aires und  FID Marseille entwickelt. Wie wurden diese Festivals auf das Projekt aufmerksam?
Lukas Valenta Rinner: Der erste Impuls für dieses Projekt ging auf die Jury für die START-Stipendien des damaligen bm:ukk zurück. Mein Kurzfilm Brief an Fukuyama ist dort sehr gut angekommen und für PARABELLUM hätte ich eine Förderung bekommen, wenn ich das Projekt hier in Österreich hätte realisieren können. Dies war aber in der damaligen Situation schwierig, da ich gerade im Begriff war, mein Studium abzuschließen. Ich bekam eine Empfehlung und ich suchte um Drehbuchentwicklung an. So kam das Projekt in Gang. Als wir dann die ersten Bilder von PARABELLUM hatten, präsentierten wir das Projekt beim BAFICI, dem Buenos Aires Film Festival. Das war der erste internationale Impuls. Im Laufe der letzten Jahre habe ich gelernt, wie sinnvoll es ist, die Projekte strategisch mit Hilfe dieser Entwicklungs-Schmieden international aufzubauen. BAFICI war eine ideale Plattform, weil man nicht nur potenzielle Koproduzenten trifft, sondern auch Festival-Repräsentanten – wie z. B. Gerwin Tamsma  vom Festival von Rotterdam oder Jean-Pierre Rehm von FID Marseille, der mich im Anschluss zur dortigen Projektplattform eingeladen hat. Es war sehr wichtig, dem Film früh einen internationalen Impuls zu geben. Bei unseren neuen Projekten beginnen wir jetzt noch früher. Wir versuchen, schon vom Treatment an, in internationalen Koproduktions-Märkten präsent zu sein.

 
Wie stark war der Stoff von PARABELLUM an den Drehort in der Region um Buenos Aires gebunden?
Lukas Valenta Rinner: Der Ort ist für mich am Beginn eines Projektes eine sehr wichtige Inspirationsquelle. Das Tigre-Delta lieferte mir da einen sehr wichtigen Impuls. Es ist ein Urlaubsziel, vor allem für die argentinische Mittelklasse, die dort zum Wochenende für Kurzurlaube hinreist. Man wird auf Booten hinausgebracht und z.B. auf einer Insel abgesetzt und hofft dann, dass das Boot auch wieder kommt, um einen abzuholen.  Für mich war das immer ein extrem einsamer, von der Außenwelt isolierter Ort, der einen guten Ausgangspunkt lieferte. Als dann 2012 nach und nach Meldungen in den Medien auftauchten, wonach sich Menschen aufs Ende der Welt vorbereiteten und Überlebenskurse sich wachsender Beliebtheit erfreuten, stand für uns fest, dass wir mit einer Gruppe von Leuten aus der Mittelklasse, die Richtung Tigre aufbricht, um sich auf das Ende der Welt vorzubereiten, arbeiten wollten. In Córdoba z.B. gibt es einen "magischen Berg" namens Uritorco, wo im Dezember 2012 mit dem Ende des Maya Kalenders das Ende der Welt erwartet wurde. Mehrere hundert Leute zogen schon im Vorfeld dort hin, um sich darauf vorzubereiten. Das war die Initialzündung. Wir haben dann über mehrere Monate an Überlebenskursen teilgenommen, haben versucht, mit Trainern in Kontakt zu kommen, um zu verstehen, was diese Menschen bewegt, um ihnen emotional näher zu kommen. Wir ließen sehr viel von unserer Recherche ins Buch einfließen. Mit drei Überlebens-Trainern haben wir intensiver zusammengearbeitet. Von ihnen ließen wir uns auch einen Trainingsplan für das Ende der Welt zusammenstellen.

 
Das klingt nach einer Recherche, die gewiss viel an befremdlichen Erlebnissen in sich barg.
Lukas Valenta Rinner: Das Interessante war, dass wir unser Drehbuch für extrem fiktiv  hielten und uns mit einer Realität konfrontiert sahen, die viel radikaler war.
 
Ana Godoy: Wir mussten Dinge rausnehmen, um die Glaubwürdigkeit aufrecht zu erhalten. Wir erlebten in der Realität Dinge, die sich fürs Storytelling als kontraproduktiv erwiesen hätten.

 
Gegliedert ist der Film durch Zwischentitel mit Zitaten aus fortschreitenden Kapiteln aus einem Werk, das als  „The Book of Disasters“ zitiert wird. Existiert dieses Werk?
Lukas Valenta Rinner: Das Buch gibt es tatsächlich. Die Autoren haben in der Zeit der boomenden Kurse ein Buch veröffentlicht, das auf die verschiedensten Möglichkeiten des Weltuntergangs vorbereiten soll. Jedes Kapitel beginnt mit einem einleitenden Satz. Diese Zitate dienten uns bereits im Treatment zur Strukturierung. Im Drehbuch haben wir sie dann verworfen, im Schnitt sind wir aber wieder zu dieser Idee zurück. Die Erzählung ist sehr fragmentiert und arbeitet immer wieder gegen starke Widerstände. Das wollten wir durch diese Zwischentitel verstärken, indem wir zusätzlichen Widerstand aufbauen und  damit auch die Zeitsprünge herausarbeiten. Wir haben gemeinsam mit den Autoren des Buches die Zwischentitel für den Film entwickelt.
 

Würden Sie PARABELLUM als Fiktion oder als Experimentalfilm bezeichnen?
Lukas Valenta Rinner: Ich würde ihn als Fiktion betrachten, es grenzt allerdings schon an einen Experimentalfilm. Es ist vielleicht eine radikal erzählte Fiktion.

 
Sie entwickeln ein Horrorszenario aus einer dramaturgischen Minimalausstattung heraus. Der Ansatz des elliptischen Erzählens scheint bis ans Äußerste ausgereizt. „Wie wenig muss ich preisgeben, um eine Erzählung in Gang zu halten“, scheint eine Prämisse zu sein. Beginnend bei den Protagonisten, von denen wir praktisch kaum etwas erfahren, weder von ihren Ängsten, noch von ihrer Vorgeschichte noch entwickeln sie ein Charakterprofil in der Zeit mit der Gruppe.
Lukas Valenta Rinner: Es war für uns spannend, diese Menschen in ihrer Urlaubs- oder Vorbereitungsroutine zu beobachten und dann langsam über ihr Tun auf die Innerlichkeit ihrer Charaktere zu schließen. Es ging uns darum, so wenig wie möglich zu verraten. Wir machen nur die Spitze des Eisbergs sichtbar, den Untergrund muss sich der Betrachter aus den Bildern herausholen. Das war auch für uns ein Experiment. Im Drehbuch war es jedenfalls so angelegt. Wir wussten aber selbst nicht, ob das in einer Fiktion funktionieren würde. Der Dialog ist auf ein Minimum reduziert. Wir wollten vermeiden, die Figuren durch Dialoge zu psychologisieren oder mit zusätzlichen Informationen zu versehen. Um dem Geschehen zu folgen, sollte der Zuschauer nicht nur auf der Bildebene, sondern auch auf der erzählerischen Ebene  auf Distanz gehalten werden.

 
Der Film kommt ja eigentlich ganz ohne Dialoge aus:  Sprachliche Kommunikation reduziert sich auf Anweisungen und Aufforderungen. Genau genommen klammern Sie die Momente, wo Menschen miteinander reden, aus.  Die filmische Erzählung scheint dort erst einzusetzen, nachdem miteinander geredet worden ist.
Lukas Valenta Rinner: So ist es. Wir haben den Versuch unternommen, die Zwischenmomente zu beleuchten. Dort, wo in einer klassischen Fiktion die Szene schon vorbei ist, setzen unsere Szenen an. Wir wurden schon öfter mit dem Einwand, der Film sei kalt  und emotionslos, konfrontiert; Ich bin der Meinung, dass man in den ganz reduzierten Momenten Emotion herauslesen kann – in Blicken und kleinen Gesten. Die Innerlichkeit der Figuren muss sich nicht unbedingt über das Wort erschließen. Es liegt vielmehr in den Details, in Graubereichen.

 
Fand dieses Reduzieren schon in der Drehbucharbeit statt oder hat hier der Schnitt sehr viel an Arbeit geleistet?
Ana Godoy: Die Natur ist in PARABELLUM ein sehr starker Charakter. Wenn in der Natur ein heftiger Sturm anhebt und der Unterschlupf einzustürzen beginnt,  dann hat das auch mit den Emotionen der Figuren zu tun. Dinge kommen im Film nicht nur über den menschlichen Charakter zum Ausdruck, sondern viel über die Naturereignisse.
 
Lukas Valenta Rinner: Ursprünglich gab es ein paar Dialogszenen. Im Schnitt stellte sich aber heraus, dass dies „Lärm“ erzeugte und nicht stimmig war. Natur und Räume hatten schon im Drehbuch die Funktion von Charakteren. Der Film sollte ganz grundsätzlich eine Reise durch Räume sein.

 
Eines Ihrer wiederkehrenden Stilmittel ist die Arbeit mit Kontrasten. War das Operieren mit Gegensätzen ein adäquates (Hilfs)Mittel in der extrem reduzierten Erzählweise?
Lukas Valenta Rinner:  Im Spanischen spricht man vom „choque“, dem Aufeinanderprallen verschiedener Elemente, das für uns zum Erzählerprinzip wurde.
 
Ana Godoy: Im Schnitt ging es in eine Richtung, wo zwei grundverschiedene Szenen aufeinanderfolgten, von denen jede eine eigene, starke Identität ausweist. Aus diesem Kräftespiel entwickelte sich der Rhythmus, den wir einhalten wollten.
 
Lukas Valenta Rinner:  Wir haben auch immer wieder versucht, gegen das lineare Erzählen zu arbeiten. Das Resort war im Drehbuch sehr klar in Relaxing- und Trainingszeit gegliedert. Im Schnitt stellten wir fest, dass im Gegensatz zur linearen Gliederung im Buch vielmehr das Zulassen des Zusammenpralls und konträrer Szenen und die Arbeit gegen die Linearität der Erzählung, eine zusätzliche Potenz erzeugt.

 
Wie ist es gelungen, dem Spannungsverhältnis zwischen der Stadt/Zivilisation und Natur gerecht zu werden?
Lukas Valenta Rinner: Die Natur an sich war imposant. Aber wir  waren auch sehr stark an architektonischen Räumen interessiert, besonders in Buenos Aires und am Beginn des Tigre.
Je stärker die Natur in den Vordergrund tritt, desto schwieriger wurde es, das richtige Framing für diese Orte zu finden. Mit dem Kameramann Roman Kasseroller  kamen wir überein, dass die Kamera dynamischer werden musste, je tiefer wir in den Dschungel vordrangen. Mit der statischen Kamera konnten wir nur zu Beginn arbeiten. Daher gibt es gegen Ende des Films eine immer bewegtere Kamera.
 
Ana Godoy: Eigentlich waren wir dazu gezwungen, mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen. Die Produktion selbst hat sich so stark verändert, weil wir uns der Umgebung anpassen mussten. Wir begannen im Komfort der Stadt zu drehen und irgendwann endeten wir am Wasser, rund um uns Käfer und wir versuchten, etwas mit der Kamera einzufangen. Letztlich wurden auch wir, die Crew, zu Figuren, insofern, als dass wir uns an die Gegebenheiten anpassen mussten.

 
Hat das im Laufe des Drehs auch eine Bereitschaft zur Improvisation bedeutet?
Lukas Valenta Rinner: Dem Dreh ging eine minutiöse Location- Vorbereitung voran. Die meisten Drehorte waren genau geplant. Auch unser Budget war so knapp bemessen, dass wir kaum Spielraum hatten, bei der Ausstattung große Veränderungen und Adaptierungen zu machen. Wir mussten quasi perfekte Locations finden. Daher waren wir in der Vorbereitung sehr rigoros.

 
Bildtechnisch arbeiten sie mit zentralperspektivischen, tableauartigen Bildern. Die Assoziation mit Ulrich Seidls Bildern liegt sehr nahe. Gehört er zu jenen Filmemachern, die Sie inspirieren bzw. beeinflussen?
Lukas Valenta Rinner: Ich glaube Seidl steht mit seinen zentralperspektivischen Bildern in einer Tradition der Bildgestaltung die schon mit der Nouvelle Vague begann und dann von vielen Regisseuren aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Sieht man heute zum Beispiel Katzelmacher von Fassbinder, gibt es da ganz klare Parallelen in der Bildgestaltung. Wir wurden sicher von diesen Bildern inspiriert, aber unser ästhetischer Ausgangspunkt lag vielmehr in alten kommunistischen Monumental- und Propagandabildern. Das Ministerium, in dem Hernán anfangs arbeitet, ist ein perfektes Beispiel. Die Uniformen sind an einem chinesischen Vorbild inspiriert, die die Landbevölkerung  bekommt, wenn sie Lehrausflüge macht.

 
Die Figuren wirken sehr unspektakulär und natürlich. Haben Sie mit professionellen Schauspielern gearbeitet?
Lukas Valenta Rinner:  Bei den Darstellern wollten wir eine gute Mischung erreichen. Der Kern sollte auf alle Fälle von Profis gespielt werden: Hernán wird von Pablo Seijo gespielt, Martin Shanly spielt Juan und Eva Bianco spielt Selina. Pablo und Martin kommen aus der Independent-Theaterszene in Buenos Aires. Eva Bianco hat 2010 in Un Certain Regard in Cannes den Preis als Beste Darstellerin bekommen. Wir wollten also professionelle Schauspieler, die den Film tragen und durch Laienschauspieler ergänzt werden.  Wir haben sehr viele  Menschen gecastet. Ich bin sehr an Gesichtern und der Ausdruckskraft von Nicht-Schauspielern interessiert. Es gibt hierbei einen erzählerischen Unterschied. Ein professioneller Schauspieler kommuniziert ganz anders als ein Nicht-Schauspieler. Gerade in einem Film, wo es viel um das Betrachten von Routinen, von Übungen, um kleinste zwischenmenschliche Details geht, funktionieren Laien fast besser.
Bei den Profi-Schauspielern war es teilweise sehr schwierig, sie davon zu überzeugen, wenig zu kommunizieren und sich keine Dramaturgie zu überlegen, sondern im Moment zu sein. Für diese gelernten Schauspieler war es unglaublich schwer z.B. einfach zu essen, ohne zu spielen. Wir haben deshalb sehr lange Takes gemacht, damit die Darsteller beinahe vergessen, dass eine Kamera anwesend ist. Wir haben uns für jede Szene viel Zeit genommen, um eine ausgewogene Mischung an Natürlichkeit zwischen den Profis und den Laien zu erreichen.

 
Der erste Teil des Kurses spielt in einem Resort. Es entsteht eine skurrile Mischung aus militärischem Anspruch und Urlaubskomfort. Schwingt hier auch eine Idee von Satire mit?
Lukas Valenta Rinner:  Dieser Aspekt war im Drehbuch kaum vorgesehen. Das hat sich durch das Zusammenwirken zwischen den (echten) Trainern und den Kursteilnehmern wie von selbst ergeben. Die Trainings waren ja eigentlich real.
 
Ana Godoy: In diesem Zusammenhang mussten wir, wie schon erwähnt,  auch Dinge rausnehmen, weil es sonst zu dick aufgetragen gewirkt hätte.
 
Lukas Valenta Rinner:  Es ergaben sich extrem komische Szenen und es war sehr hart im Schneideraum auf so viel zu verzichten. Da der Film eher komisch beginnt und immer ernster wird, war es ganz wichtig, den Respekt vor den Figuren zu wahren. Wären wir da zu sehr in Richtung Komödie gegangen, wäre es schwierig geworden die Ernsthaftigkeit des Dramas zu wahren.
Die Trainings, die auch eine Waffenausbildung inkludieren, werden im realen Leben durchgeführt und zwar für Leute aus dem Mittelstand, für Hausfrauen. Diese Trainings laufen unter dem Motto der Selbstverteidigung und laufen teils sehr gewaltvoll ab. Um die Trainings realistischer zu gestalten wird eine theoretische Angst herbeigeredet, instrumentalisiert und geschürt.
Wir versuchten im Film den Übergang von einer theoretischen Gewalt, die nur verbal existiert, in eine real werdende Gewalt auszuloten und zu veranschaulichen.

 
Welche Art der Gefahr hier heraufzieht, bleibt vage. Ist es ein gesellschaftliches Phänomen in Argentinien, ein erhöhtes Bedrohungspotenzial zu orten und damit möglicherweise auch gutes Geschäft zu machen?
Lukas Valenta Rinner: Ja. Insofern ist PARABELLUM auch ein sehr politischer Film, weil Gewalt und Unsicherheit ständig in den Medien thematisiert werden. Das ist in Buenos Aires tagtägliches Thema. Es wird Panik gemacht. Eine Panik, die in erster Linie von den Medien geschürt wird, um die Mittelklasse zu verunsichern, die dann wiederum veranlasst ist, Druck auf die Regierung auszuüben. Das ist gerade ein aktuelles politisches Thema. Die Medien schüren Angst vor den Armen, die jeden Moment in Buenos Aires Häuser überfallen könnten. Nicht wenige Leute verlassen die Hauptstadt und ziehen sich in die  Provinz zurück, wo sie in „gated communities“ leben, die mit einer vollen Infrastruktur von Schule bis Supermarkt ausgestattet sind und verlassen den „Bunker“ nur noch gelegentlich. Der Film thematisiert zum einen diese Angst der argentinischen Mittelklasse und zum anderen die Dynamik der Gewalt. Während des Drehs gab es in Buenos Aires heftige, teils gewalttätige Proteste der Mittelklasse gegen die Regierung. Es entsteht das Gefühl, dass die Polizei die Sicherheit der Allgemeinheit nicht mehr in der Hand hat. Dadurch werden die Menschen immer brutaler und glauben hier selbst „ordnend“ einschreiten zu müssen.

 
Der Protagonist Hernán schließt zu Beginn des Films einem Selbstmörder gleich mit seinem Leben ab. Er scheint eine Rückkehr nach dem Training nicht zu erwägen. Über die undefinierte physische Bedrohung hinaus, erzählt der Film auch ein menschliches „Desaster“, nämlich dass es keine Nähe, keine Empathie gibt bzw. geben darf.
Lukas Valenta Rinner:  Als wir die ersten Menschen kennenlernten, die sich auf das Ende der Welt vorbereiteten, stellten wir fest, dass es für diese Menschen auch eine Gelegenheit bot, aus ihrer Routine, ihrem Alltag auszubrechen und ein alternatives Leben auszuprobieren. Für viele ist in einer Gesellschaft, wo vieles gegeben ist und Dinge wie Nahrung oder Kleidung eine Selbstverständlichkeit darstellen, die Vorstellung vom „Ende der Welt“ schon wieder eine Faszination, ein Ausstiegsszenario. So auch für Hernán.

 
Wie sehen Sie das Ende, wenn Hernán sich zwischen zwei Welten bewegt, von denen keine mehr einen Platz für ihn hat.
Lukas Valenta Rinner: Unsere Arbeitsthese war die, dass für unsere Figuren das Ende der Welt tatsächlich eintritt. Sozusagen als Geschenk, weil sie es sich so sehr wünschen und somit aus ihrer Routine ausbrechen können.


Interview: Karin Schiefer
Februar 2015