INTERVIEW

Sebastian Brameshuber über MUEZZIN

«Ich bin über den HipHop auf den Klang des islamischen Gebetsruf aufmerksam geworden. Er hat mich vor allem aus einem musikalischen Interesse heraus fasziniert.» Sebastian Brameshuber über Muezzin, der soeben in Karlovy Vary seine internationale Premiere hatte.



Wie kommt es, dass ein junger Wiener Filmemacher sich den islamischen Gebetsruf zum Thema seines ersten Dokumentarfilms macht?
Sebastian Brameshuber: Es hat vor allem mit meiner HipHop-Vergangenheit zu tun und ich bin nach wie vor ein großer HipHop-Fan. Viele amerikanische HipHop-Künstler sind praktizierende, zum Teil sehr gläubige Moslems, sie bauen auf ihren Alben, meist in Intros immer wieder Koran-Verse ein, teilweise ganze Gebetsrufe, die auf einer Plattenrille drauf sind. Es gibt eine Nummer von Brand Nubian, wo Allahu akbar geloopt und im Refrain verwendet wird. Es gibt auch von Skunk Anansie eine andere Nummer, wo im Hintergrund ein ganz verzerrter Ezan – so wird  der Gebetsruf auf Türkisch bezeichnet – zu hören ist. Über die HipHop-Schiene bin ich also auf diesen Klang aufmerksam geworden, er hat mich fasziniert, vor allem aus einem musikalischen Interesse heraus. Gerade in der Türkei ist ein sehr komplexes musikalisches Verständnis dahinter. Bei meinem ersten Istanbul-Aufenthalt hab ich dann einen Muezzin getroffen, der mir näher über seinen Beruf erzählt hat Ich fragte mich, ob es Auditions gibt bzw. wie die Selektion stattfindet. Damals erfuhr ich von den Muezzin-Wettbewerben und damit waren bei mir die nötigen Schalter umgelegt, dass das ein Thema für einen Film sein könnte.

Ist die Wahl auf die Türkei gefallen, weil sie im Zusammenhang mit dem Gesang der Muezzins als ein besonderes Zentrum gilt?
Sebastian Brameshuber: Nein, das hat sich in diesem Fall einfach günstig ergeben. Es war vor allem produktionstechnisch einfacher, das Projekt in der Türkei zu realisieren, zum einen aufgrund der Beziehung zwischen Türkei und Österreich, und zum anderen ist die Türkei durch die EU-Diskussion und die aktuelle Religionsdebatte ein zeitpolitisch aktuelles Thema. Istanbul hat an die 3000 Moscheen, wenn man sich die Skyline von Istanbul, das eher hügelig angelegt ist, ansieht, dann ist das wirklich beeindruckend. Und es werden aufgrund des intensiven Zuzugs aus Anatolien, der vor ca. vierzig Jahren eingesetzt hat, sehr viele neue Moscheen gebaut. Die meisten Anatolier sind sehr religiöse, praktizierende Moslems, die, wenn auch nicht fünf Mal täglich, zumindest regelmäßig beten.

Bei den Wettbewerben werden die Teilnehmer immer gefragt, welche Stilrichtung sie bevorzugen, das lässt auf ein sehr komplexes musikalisches System schließen.
Sebastian Brameshuber: Ja, es ist sehr komplex. Die orientalische, insbesondere die türkische Musik hat dreizehn Haupt-Maqams, und dazu noch viele untergeordnete Maqams, während wir nur zwischen Dur und Moll unterscheiden. Diese dreizehn Haupt-Maqams haben viel deutlicher ausdifferenzierte Zwischentonschritte als unsere Musik. Ein Muezzin sollte, so lautet die offizielle Vorgabe des Religionspräsidiums, wie es der osmanischen Tradition entspricht, fünf Maqams beherrschen, und damit zu jedem der fünf Gebetsrufe, die täglich erfolgen, eines davon verwenden können.  Jeder Gebetsruf hat eine unterschiedliche Aufgabe:  der erste muss relativ sanft sein, weil er die Leute aus dem Schlaf holt. Dieser erste Ruf erfolgt im Saba-Maqam, das ist ein sehr langsames, melancholisches Maqam. Es ist auch für europäische Ohren am leichtesten identifizierbar, die anderen sind viel schwieriger. Das Saba-Maqam wird auch für Lieder des Abschieds verwendet, für alles, was eher melancholisch und traurig sein soll. Die anderen Maqams, die zu den verschiedenen Tageszeiten verwendet werden, verbinden sich weniger mit bestimmten Stimmungen, die Gebetsrufe tagsüber sind auch viel kürzer. Der einzelne Ruf in der Früh sollte nicht länger als vier bis fünf Minuten dauern, der Zeitpunkt für den Gebetsruf steht auch auf die Minute genau feststeht dennoch lässt es sich nicht so genau timen, jeder beginnt etwas zeitverschoben und so dauert das Ganze in der früh eine halbe Stunde.

Das Erlernen dieses Gesangs wirkt sehr kompliziert, gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass es sich bei den meisten Sängern um Autodidakten handelt.
Sebastian Brameshuber: Es gibt keine konkrete musikalische Ausbildung zum Muezzin oder Imam. Es gibt die Imam-Hatip-Gymnasien in der Türkei, die im Grunde denselben Lehrplan wie normale säkulare Gymnasien haben und zusätzlich diese religiöse Ausbildung, wo Arabisch für den religiösen Gebrauch, Lektüre des Koran sowie ein bisschen musikalischen Grundlagen fürs Rezitieren des Korans und das Ausführen des Gebetsrufes. Der Gebetsruf ist eine reine Männerdomäne, obwohl dann wiederum hohe Stimmen bevorzugt werden. Eine richtige Ausbildung gibt es nicht, es gibt allerdings nun verstärkt die Tendenz, dem Gebetsruf-Wettbewerb, der dieses Jahr zum sechsten Mal stattgefunden hat, Bedeutung beizumessen.

Was kann ein Erfolg beim Wettbewerb für die Muezzins bringen?
Sebastian Brameshuber: Die Muezzins sind ja eigentlich Beamte, angestellt vom oben erwähnten Präsidium für religiöse Angelegen. Sie können je nach stimmlicher Qualität immer wieder versetzt werden. Wenn einer gut und ehrgeizig ist, kann er möglicherweise in einer prestigereicheren Moschee arbeiten, einer unserer Protagonisten, Halit Aslan, ist bereits in einer sehr angesehenen Moschee angestellt, auch wenn er als einziger der Protagonisten, nie den Wettbewerb gewonnen hat, da er eine eher tiefere Stimme hat und die höheren Stimmen eindeutig bevorzugt werden. Dazu kommt, dass man bei den Wettbewerben nicht unbedingt die etablierten Muezzins auszeichnet, sondern eher die Newcomer unterstützt, um ihnen Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen.

Erlaubt der Beruf des Muezzin eine Familie zu ernähren?
Sebastian Brameshuber: Muezzins sind Beamte im Hauptberuf, vom Gesetz her sollten sie auch keinen Nebenjob haben. Das bleibt in der Türkei aber in einer Grauzone, weil der Job ja nicht wirklich hoch bezahlt ist, um damit eine Familie zu versorgen. Gewisse Anlässe wie Begräbnisse oder private Koranlesungen bieten dann doch Gelegenheiten für Nebenjobs. Mustafa, z.B., der vor einigen Jahren den Wettbewerb gewonnen hat, will vom Friedhof, bei dem er arbeitet, nicht weg, weil er dort gut dazu verdienen kann.

Wie haben Sie Ihre Protagonisten ausgewählt und grundsätzlich die Erlaubnis erhalten, in den Moscheen zu drehen?
Sebastian Brameshuber: Der erste Schritt war eine Fahrt nach Ankara, wo ich beim Diyanet, dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten, vorsprechen und das Projekt vor dem versammelten Kreis der Obersten präsentieren musste. Es hat ihnen offensichtlich auf Anhieb gefallen und ich hab quasi Carte blanche bekommen. Ich musste zwar im Drehverlauf auf lokaler Ebene weitere Genehmigungen einholen, mit dem Papier der obersten Behörde war alles klar erleichtert. Ich war auf Misstrauen eingestellt und hab erfahren, dass es de facto nicht vorhanden war.  Wobei es von vornherein klar war, dass die Gesprächsthemen unverfänglich bleiben müssen. Muezzins sind Beamte, es kann sie den Job kosten, über Politik zu sprechen. Es gibt in der Türkei ziemliche Defizite in Bezug auf Meinungsfreiheit. Vor allem ist es ein Sakrileg, Atatürk und seine Politik in Frage zu stellen,  z.B. ist youtube.com in der Türkei mittlerweile seit Jahren gesperrt, weil es irgendwann Videos zu sehen gab, auf denen sich jemand über Atatürk lustig machte. Andererseits gelingt es einem Sektenführer und Kreationisten namens Adnan Oktar, verschiedene Websites per Gerichtsbeschluss gesperrt zu halten, weil sie seine kreationistischen Lehren in Frage stellen, z.B. die Website richarddawkins.com. Diese Beispiele sind nur die Spitze eines Eisberges.
Es war also wichtig, die Behördenwege einzuhalten – das osmanische Reich hat ganz offensichtlich auch eine Bürokratie hinterlassen – aber dann war es nicht so schwierig, zu drehen, wo wir wollten. Wir haben mindestens 150 Stunden Material gedreht, das erste Bild im Film stammt aus Februar 2007 und das letzte habe ich im Mai 2009 gedreht, der Wettbewerb hat sich von April bis September 2007 erstreckt, 2008 haben wir einen Drehblock im Mai gemacht und dann habe ich ein Jahr geschnitten. Wir bekamen einen Muezzin empfohlen, der uns dann auf den letzten Sieger verwiesen hat, der wiederum an den Sieger im Jahr zuvor und schließlich trafen wir Habil Öndes und mit ihm waren wir im Zentrum des Geschehens.

Habil Öndes ist die zentrale Figur in der Muezzin-Szene und wesentlicher Protagonist, gleichzeitig verkörpert er ein sehr paternalistisches, traditionsverbundenes Familienbild. Er ist eine sehr vielschichtige Figur.
Sebastian Brameshuber: Deshalb ist er so interessant, weil er genau diese Zweidimensionalität – ich sage jetzt ganz bewusst nicht Widersprüche – der türkischen Gesellschaft in sich trägt. Einerseits übt er einen religiösen Beruf aus, andererseits hat er eine professionelle Ausbildung am Konservatorium genossen wie seine Studienkollegin Bülent Ersoy, die man kurz im Fernsehen in der Jury eines Starmania-ähnlichen Wettbewerbs sieht. Das war eine lustige Parallele im Film, die diese Zweidimensionalität erneut zum Ausdruck bringt. Und dann wird sie  auch in seiner Familie sichtbar, wo seine jüngste Tochter kein Kopftuch tragen will und es auch nicht machen wird, ihre ältere Schwester hatte die Aufnahmeprüfung am Konservatorium geschafft, ihr Vater verbot ihr allerdings das Studium zu absolvieren. Die letzten Neuigkeiten aus der Öndes-Familie sind so, dass die jüngere Tochter, bei der zentralisierten Aufnahmeprüfung auf die Unis nicht sehr gut abgeschnitten hat, aber die Möglichkeit hätte, da sie sehr talentiert ist, aufs Konservatorium zu gehen. Und wahrscheinlich wird sie gehen dürfen. Der Ausblick, den wir im Film angedeutet haben, könnte sich bewahrheiten.

Ist das Verbot für die ältere Tochter auf die verbreitete Haltung zurückzuführen, dass die Musik, wenn sie nicht im den Dienst der Religion gestellt wird, Sünde ist?
Sebastian Brameshuber: Das lässt sich nicht so eindeutig beantworten, einerseits geht es in Bezug auf seine Tochter viel mehr um Tradition, Ehre und Anstand. Da war die Religion ein willkommenes Mittel, eine wenn auch fadenscheinige Erklärung zu liefern. Habil Öndes betont ja an anderer Stelle wieder, dass er die Musik und das Geldverdienen damit nicht unbedingt als Sünde betrachtet. Er selbst wollte es halt nicht. Er vertritt diese Underground-Attitüde und das ist ein Punkt, der für mich wiederum so interessant war, weil das eine Haltung ist, die ich aus dem HipHop kenne: Berühmt sein und Geld damit verdienen hat nicht unbedingt einen hohen Stellenwert. Man kokettiert damit ein bisschen – die Musik  als Berufung für einen höheren Zweck zu machen, ist etwas, was man im HipHop auch sehr stark wieder findet. Habil Öndes meint, dass auch sehr viel an musikalischem Wissen verloren gegangen ist, durch die negative Haltung gegenüber der Musik. Er betrachtet es jetzt als eine seiner Missionen, den Leuten die Musikalität wieder beizubringen. Er erläutert am Schluss in einer sehr vagen Formel seine Philosophie – wenn die Musik zum Guten anstiftet, dann ist sie gut, wenn sie zum Schlechten anstiftet, dann ist sie schlecht. Der Interpretationsspielraum ist da sehr breit, was mitschwingt, ist die althergebrachte Ansicht, dass Entertainment Sünde ist.

Der Film enthält mehrere Porträts von Muezzins, die Dreharbeiten eröffneten dabei auch Einblicke ins Familienleben und damit ergab sich wohl auch der zweite Aspekt des Films  – nämlich Lebensformen in einer Gesellschaft zu zeigen, die einen Mittelweg zwischen laizistischen Ansprüchen und dem gleichzeitigen Festhalten an religiösen Traditionen reflektieren.
Sebastian Brameshuber: Es war zu Beginn schon klar, dass man nicht 90 Minuten lang dem Gesang der Muezzins lauschen kann ?  das ginge, glaube ich, nicht einmal mit einem türkischen Ohr, insofern war es klar, dass wir versuchen würden, den Leuten in ihrem Alltag näher zu kommen. Mir war wichtig, mit meinem Film auf keinen Fall die Vorstellung zu bestärken, dass es auf der einen Seite die moderne säkulare und auf der anderen die rückwärts gewandte muslimische Türkei gibt. Ich habe versucht, dieses Klischee, ein bisschen zu unterwandern. Ich möchte vermitteln, dass auch die islamischen Türken moderne und säkulare Türken sind. Wenn man stets daran festhält, dass Laizität und Islam einander widersprechen bzw. ausschließen, wird man auf sehr auf verlorenem Posten stehen und jede Diskussion würde sich erübrigen. Gerade die Türkei ist ein Beispielland, wo man hoffen kann, dass sich die beiden Aspekte vereinen lassen. Einige meiner Protagonisten sind auch sehr gute Beispiele dafür. Vielleicht ist die Türkei manchen Ländern einiges voraus, vielleicht irgendwann einmal sogar europäischen Ländern, weil es dort in der Koexistenz beider Ansätze eine Tradition und Erfahrung gibt. Das erste, was ich in der Türkei lernen musste, war, dass es kein Schwarzweiß gibt. Es gibt nur ein Dazwischen, alles bewegt sich im Graubereich. Es gibt weder ganz säkular oder anti-säkular, es gibt weder modern noch konservativ in seiner reinen Form.
Es gibt alles in einer Mischform, aber in der Hysterie, die nicht nur in Europa, sondern eigentlich weltweit stattfindet und immer eine West/Ost-Konfrontation heraufbeschwört, gehen die Grauwerte oft verloren. Es findet zurzeit eine sehr interessante Entwicklung in der Türkei statt. Fethullah Gülen ist z.B. für Isa Ayden, einem unserer Protagonisten, ein großes Vorbild. Er lebt im amerikanischen Exil, von der säkularen Elite in der Türkei wird ihm vorgeworfen, das säkulare System in der Türkei zu unterwandern, von liberalen Stimmen im Westen wird er eher als moderater Reformer betrachtet, der versucht, Modernität und Islam zu vereinen und für den Austausch zwischen den Konfessionen eintritt. Mein Eindruck ist positiv, es herrscht sicher kein Idealzustand, aber ich halte die aktuelle Situation für eine sehr angenehme Variante des Möglichen.

Interview: Karin Schiefer
Juli 2009