INTERVIEW

«Die Menschen sind aufgrund ihrer extremen Abwesenheit umso präsenter.»


Nikolaus Geyrhalter richtet in Homo Sapiens seinen Blick auf Orte von geisterhafter Leere und lässt eine Meditation über die Fragilität unseres Daseins entstehen.
 
 
 
Homo Sapiens thematisiert – eher untypisch für einen Dokumentarfilm – etwas, was nicht mehr ist. Er zeigt etwas, was sich zur Zukunftsvision ausweiten könnte. Der Mensch, der in den meisten Ihrer bisherigen Arbeiten im Mittelpunkt steht, ist nicht mehr da. Was hat Sie in diese radikale Thematik geführt?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Ich würde zuallererst bei Homo Sapiens nicht von einem Dokumentarfilm sprechen. Es ist ein Film. Filmbranche und Festivals brauchen die Kategorisierung. In diesem Fall stimmt sie für mich nur zum Teil. Der Film liegt vielleicht dem Dokumentarfilm etwas näher als dem Spielfilm. Aber ich habe das Gefühl, dass Homo Sapiens auch deshalb eine sehr fiktionale Angelegenheit ist, weil wir stark eingegriffen und viel verändert haben. Die Bäume, die Gebäude oder auch der Wind waren für mich eine Art Darsteller. Ich habe nie den Anspruch erhoben, hier eine dokumentarische Wirklichkeit zu erzählen. Für mich ist es eine Vision, die näher an einer Fiktion liegt. Das Dokumentarische an diesem Film ist der Umstand, dass die Gebäude, die Landschaften jetzt in unserer Gegenwart so zu finden sind oder es zumindest bis zu ihrem Abriss waren.
 
 
Filme wie Unser Täglich Brot oder Über die Jahre erzählen davon, wie die Maschine in der Arbeitswelt überhand nimmt und den menschlichen Aspekt in der Arbeit immer mehr hinausdrängt. Homo Sapiens thematisiert einen Zustand nach dem Menschen, nach der Maschine. Wie lässt sich dieser Zustand beschreiben?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Das ist nur eine mögliche Leseart des Films, der natürlich so angelegt ist, dass das sehr plausibel funktioniert. Ich will den Film aber nicht auf dieses eine postapokalyptische Szenario reduziert gedacht wissen. Denn auch in dieser möglichen retrospektiven Betrachtung auf die Menschheit bleibt es für mich ein Film, der sehr stark von der Gegenwart erzählt. Die Menschen sind aufgrund ihrer extremen Abwesenheit umso präsenter. Insofern ist es ein Film über die Menschen, auch wenn sie fehlen.
 
 
Unter diesem Aspekt wird Homo Sapiens zu Ihrem fiktivsten Film, weil sich jeder verlassene, verwitternde, verrottende, verwildernde Ort mit einer Vorgeschichte auflädt. Jeder Betrachter ist allerdings damit allein gelassen, seine eigenen Hypothesen wirken zu lassen.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: So soll es auch sein.
 
 
Im Jahr 2000 haben Sie mit Elsewhere eine filmische Weltreise gedreht, um Lebensformen aufzuspüren, die von der westlichen Zivilisation unberührt sind. 15 Jahre später legen Sie einen Film vor, der dorthin blickt, wo die westliche Zivilisation zu einem Ende gekommen ist. Besteht für Sie ein inhaltlicher Bogen zwischen Elsewhere und Homo Sapiens?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Nein. Je mehr Filme man macht, umso mehr Menschen gibt es, die mit ihrem Blick von Außen nach Verbindungen suchen. Das ist mir klar. Ich arbeite da aber nicht hin. Ich habe immer die Filme gemacht, die mich zum gegebenen Zeitpunkt interessiert haben. Man kann nun sagen, dass sich mit zunehmendem Alter und einem sich verändernden Blick auf die Welt, Bögen ergeben. Ich selber plane das aber nicht bewusst.
 
 
Der Titel des Films entstammt der wissenschaftlichen Nomenklatur der menschlichen Spezies, die in diesem Film ausgestorben zu sein scheint. Was hat Sie zu dieser Titelgebung bewogen?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: „Irgendwann“ war ein Arbeitstitel, den wir lange mitgeführt hatten, wissend, dass wir eine bessere Lösung finden mussten, weil dieser Titel im Hinblick auf das in die Zukunft weisende Szenario, dass es keine Menschen mehr gibt, zu viel vorwegnimmt. Ich wollte diesen Blickwinkel offen lassen, aber nicht zur alleinigen Sichtweise erklären. Für mich ging es immer mehr um den Menschen, um das, was wir hier tun, um das, was wir hier übrig lassen. In jedem Fall geht es um eine Verantwortung der Umwelt gegenüber. Deswegen war es wichtig, den Menschen in den Titel hineinzukriegen und da haben wir sehr lange überlegt und gesucht. Ich finde, das ist eine schöne Variation des wissenschaftlichen Begriffes Homo sapiens geworden, da man in diesem Zusammenhang eben nicht mit der Abwesenheit des Menschen rechnen würde und darüber hinaus trägt es auch etwas Archäologisches und Historisches in sich.
 
 
Die Bilder deuten oft auf ein abruptes kollektives Verschwinden hin, das Gedanken in Gang bringt, wie es wohl dazu gekommen ist. Nach welchen Kriterien hat das Recherche-Team nach geeigneten Drehorten gesucht?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Recherche ist immer spezieller geworden. Am Anfang haben wir nur nach verlassenen Orten gesucht. Verlassen im Sinne von aufgegeben. Die findet man schnell, wir merkten aber auch, wie schnell sich das als Motiv erschöpft. Was wir brauchten, waren Orte, die in sich Geschichten trugen und denen man ansah, was sie einmal waren. Eine leere Fabrikhalle, ein Abbruchhaus, das war uninteressant. Es war wichtig, dass die Orte eine Seele hatten, ohne dass man unbedingt Mitleid empfand. Wir suchten zunehmend nach Orten, deren Geschichte ohne Erklärung ablesbar war, die aufgrund ihrer Dimension oder der fortgeschrittenen Überhandnahme der Natur beeindruckend waren. Es wurde im Schnitt auch schnell klar, dass der Film sich in irgendeiner Weise immer wieder aufs Neue steigern musste. Graffitis waren z.B. ein Ausschließungsgrund, sie hätten die ganze Stimmung zerstört. Nicht zuletzt funktioniert der Film ja auch über eine stilisierte Ästhetik dieser Orte, und Gebäude, die vollgesprayt sind, haben in diesem Zusammenhang nie funktioniert. Der wichtigste Punkt war, Orte zu finden, die unserer Prämisse, dass wir eine kritische Rückschau auf den Menschen machen wollten, gerecht wurden.
 
 
In den Ruinen ist sehr rasch urbane Infrastruktur, Institutionelles erahn- und identifizierbar.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Ja, es geht sehr stark um das System Mensch und um die Frage, wie sich der Mensch organisiert hat. Es gibt ganz bewusst keine Privaträume. Die Identifizierbarkeit liegt natürlich an unserer Auswahl. Es hat Unmengen an Orten gegeben, die das nicht geboten haben. Daher war es so entscheidend, dass die Orte und Bilder von ihrer Vergangenheit erzählen können. Wir haben Schnittpassagen, wo wir verschiedene Objekte zu inhaltlichen Sequenzen zusammengeschnitten haben, bei denen es nicht wichtig war, wo sie gedreht wurden. Später gibt es dann auserzählte Orte, die als zusammenhängende Struktur oder z.B. als Insel zu erkennen sind. Da ging es wieder um etwas anderes – etwa um eine geographische Bandbreite der kompletten Zerstörung.
 
 
Bild und Raum kann man als etwas wie zwei Säulen Ihres filmischen Arbeitens nennen. In diesem Projekt scheint es, Sie konnten sich beinahe ausschließlich darauf konzentrieren und in einer geradezu puren Form dem Nehmen des Gegebenen nachgehen?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Es ist nicht mein erster Film, der sich nur über Bilder erzählt. Es ist nur der erste, in dem die Bilder menschenleer sind. Homo Sapiens ist vielleicht von allen meinen bisherigen Filmen der fotografischste. Das Bild war mir immer wichtig und wird mir immer wichtiger und spielt hier fast eine Hauptrolle. Das Filmen von Homo Sapiens war ein Umgang mit Gegebenem, aber wir haben das Gegebene manipuliert, wo immer wir es für notwendig erachtet haben. Wir haben z.B. Wind gemacht. Irgendwann hat sich im Schnitt herausgestellt, dass sich in vielen Innenräumen gar nichts bewegt und diese Leblosigkeit auch mit Tongestaltung allein nicht in den Griff zu kriegen ist.  Wir haben zum Teil Licht gesetzt und oft digital nachgeholfen, um die Dinge zu perfektionieren und die Konzentration zu erhalten. Es durfte absolut nichts Menschliches zu hören sein, was dazu geführt hat, dass wir fast keinen Originalton aufnehmen konnten. Der Ton, den wir hören, wurde für jedes Bild behutsam gebaut – aus Archivmaterial und auch aus vielen extra aufgenommenen Tönen.
 
 
Wie sehr haben Sie die Dreharbeiten durch die ganze Welt geführt?
NIKOLAUS GEYRHALTER: Wir haben viel in Europa und in den USA gedreht. In Argentinien haben wir den Ort gedreht, der von einem Salzsee verschluckt wurde und wo nun das Wasser wieder abgesunken ist, sodass nun vom Salz alles weiß ist. Da sind wir exakt zum richtigen Zeitpunkt hingekommen, wo noch keine Fußspuren da waren und auch der Himmel genau gepasst hat. Das ist im Film eine fünfminütige Sequenz, die wir an einem Nachmittag gedreht haben. Wir haben auch viel in Japan gedreht, zum einen wegen dieser verlassenen Insel am Ende des Films und auch wegen Fukushima. Der Film beginnt mit den Mosaiken aus dem bulgarischen Buzludzha-Monument und dann folgt eine Strecke mit Bildern aus Fukushima, wo man lange nicht merkt, was eigentlich los ist, weil der Verfall noch nicht sehr weit vorangeschritten ist. Wir haben ca. vier Kilometer vom Kraftwerk entfernt gedreht.
 
 
Der Zufall trägt dann auch vollkommen surreale Bilder zu:
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Eines dieser Geschenke war gewiss das kommunistische UFO in Buzludzha. Wir sind im Winter dorthin gefahren und hatten nur drei Tage Zeit. An einem Tag war Nebel, am zweiten Tauwetter mit Sonnenschein, am dritten ein Eisregen. Im Film sieht es aus, als ob die Bilder ein halbes Jahr auseinander liegen. So ein Glück hatten wir manchmal.
 
 
In einem Film, der ohne Sprache und Menschen auskommt, wird der Rhythmus umso wichtiger. Variiert die Einstellungsdauer intuitiv schon in der Aufnahme oder ist das ausschließlich Aufgabe der Montage?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Wir haben uns sehr früh auf einen langsamen Rhythmus geeinigt und jedes Bild ungefähr eine Minute gedreht. Im Film liegen wir nun bei ca. einer halben Minute. In der Montage haben wir zunächst die Bilder thematisch geordnet und uns gar nicht um den Rhythmus gekümmert, um zu sehen, wie die Bögen funktionieren. Von diesem Schnitt ausgehend hat Michael Palm dann begonnen, die Bilder zu rhythmisieren. Bilder, bei denen man länger braucht, sie zu erfassen, wo man gerne länger hinschaut oder der Wind einen anderen Rhythmus vorgibt, stehen dann länger als andere. Michael Palm hat zum ersten Mal einen Film von mir montiert. Grundsätzlich ist es bei meinen Filmen so, dass ich die Bilder mache, und in der Montage gibt es sehr viele Freiheiten. Es geht darum, für die Bilder den passenden Rhythmus, den richtigen Atem und den passenden Kontext zu finden. Das ist nicht meine Stärke und das lagere ich sehr gerne aus. Es ist zweifellos ein Film, der in einem sehr ruhigen Rhythmus angelegt ist und das offenbart sich von den ersten Minuten an. Das Publikum weiß von Beginn an, worauf es sich einlässt.
 
 
Der Film ist durch Schwarzblenden in Kapitel strukturiert, die zu Beginn thematisch leichter zu lesen sind, und dann rätselhafter werden. Was waren (ohne zuviel Interpretation vorwegzunehmen) Leitgedanken, die diese narrativen Bögen bestimmt haben?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Es gibt verschiedene Blöcke – wo z.B. kriegerische Auseinandersetzungen oder Umweltzerstörung ein Thema sind. Gegen Ende hin steht nur noch der kollektive Verfall im Mittelpunkt, wie z.B. mit der Insel in Japan oder die argentinische Villa Epecuén, die aus einem See heraustaucht. Da ist nichts mehr im Detail zu erkennen. Da haben wir es nur noch mit einer Dimension zu tun, die immer größer und breiter wird. Der Grad der Zerstörung und der Naturgewalt nimmt immer stärker zu.
 
 
Der Film vollzieht auch eine Bewegung aus dem urbanen Raum heraus in eine immer größere Weite, Unwirtlichkeit und Ödnis.
 
NIKOLAUS GEYRHALTER: Die Natur wird immer stärker. In ihrer zerstörerischen Kraft, aber auch mit der Gewissheit, dass alles gut wird.  
 
 
Dieser Film ohne Menschen und Sprache brauchte eine starke Tonebene. Dafür haben Sie mit Peter Kutin zusammengearbeitet. Wie sah die Tonarbeit aus?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Ich weiß nicht, wer es besser hätte machen können als Peter Kutin, weil ich niemanden kenne, der so sehr mit Tönen lebt. Peter Kutin hat für mich schon öfter Sounddesign gemacht. Im Fall von Homo Sapiens ist das allerdings ein Sounddesign in extremer Dimension, weil praktisch alles offen war. Peter hat, abgesehen von ganz wenigen locations, einen Stummfilm bekommen, bei dem nur provisorische Atmos aus dem Schneideraum angelegt waren. Wir haben ganz genau analysiert, was man jeweils hören könnte – ein Blatt Papier im Wind, ein Stück Metall, das quietscht, einen Vogel. Es war, als ob man einen Stummfilm mit Musik beleben würde. Das war ein Weg, der Jahre gedauert hat und zum Zeitpunkt, wo wir das Interview führen, sind wir noch immer vor der Tonmischung und es ist spannend bis zum Schluss.
 
 
Seit wann arbeiten Sie an Homo Sapiens?
 
NIKOLAUS GEYRHALTER:  Das sind bestimmt vier Jahre. Nicht ausschließlich, aber immer wieder. Es hat sich permanent etwas verändert. Orte sind uns rausgefallen, weil sie noch vor dem Dreh abgerissen wurden, andere sind dazu gekommen. Wir sind auch immer wieder an Orte gefahren, um zu drehen und haben nur noch flachen Boden vorgefunden. Das ging oft sehr schnell. Die Radarschüssel, die im Film zu sehen ist, hat am nächsten Tag schon nicht mehr existiert. Manchmal hatten wir eben großes Glück. Der Schlachthof wurde, als wir dort noch drehten, am anderen Ende bereits abgerissen. Sehr oft haben wir im Internet Orte gefunden, die ich sehr gerne gedreht hätte und es gab sie schon nicht mehr. Die Insel in Japan, eine ehemalige Bergbauinsel, die irgendwann nicht mehr rentabel war, wiederum steht unter Denkmalschutz. Sie wird verfallen, bis sie nicht mehr da ist. Bei solitären Gebäuden, die in der Stadt stehen, sind entweder die Eigentumsverhältnisse ungeklärt und deshalb geschieht nichts mit ihnen oder sie stehen nicht lange. Die Recherche ist im Hintergrund jedenfalls ständig weitergegangen und es hat sich ständig viel getan. Der Film hat auch kein natürliches Ende. Man könnte ewig drehen.
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
Januar 2016
«Für mich ging es immer mehr um den Menschen, um das, was wir hier tun, um das, was wir hier übrig lassen.»