INTERVIEW

«Kinder sind mit einem Fuß immer noch außerhalb der Geografie der Erwachsenenwelt.»

Drei Mädchen spielen im Walde, fast ganz allein. Sie durchforsten das Terrain, ergründen den Teich, experimentieren mit der Kunst und begegnen dem Tod. Unbeschwert und unheimlich zugleich ist das Universum, das Luz Olivares Capelle poesievoll zu erzeugen und konsequent zu hinterfragen versteht. Wald der Echos, der Kurzfilm der aus Argentinien stammenden, an der Wiener Filmakademie sowie an der Akademie der bildenden Künste ausgebildeten Filmemacherin, ist ein Resonanzraum für den Vielklang des filmischen Erzählens und die trügerische Wirkkraft des Bildes. Wald der Echos ist der österreichische Beitrag der von der European Film Promotion initiierten Nachwuchsplattform Future Frames, die beim Festival Karlovy Vary präsentiert wird.
 
 
Der Einstieg in Wald der Echos ist ein schnelles Travelling durch einen Wald: Fangenspiel oder Verfolgung, Spaß oder Ernst, Traum oder Wirklichkeit? Der Film nimmt sich keine Zeit, den Zuschauer langsam zu verunsichern. Kann man sagen, sich in einen Film von Luz Olivares Capelle zu begeben, heißt von Beginn an, sich in eine Welt ohne Gewissheiten einzulassen?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Ich sehe die Filmmaschinerie als ein Werkzeug, damit wir die Pseudostabilität, mit der wir in dieser erfundenen Realität leben, auseinandernehmen und umordnen können. Mich hat in Wald der Echos die Frage beschäftigt, wie sich die Figur des Erzählers zwischen dem Publikum und dem Filmemacher aufsplitten lässt. Was muss ich als Filmemacherin gleich am Anfang tun, um das Publikum darauf aufmerksam zu machen: „Achtung, hier ist ein Erzähler, dem man nicht vertrauen darf, hier ist eine Geschichte, der man nicht vertrauen darf“. Hier muss man sich in seiner eigenen Wahrnehmung den Film selbst produzieren. Wie lässt sich das Publikum in die Produktion der Geschichte inkludieren? Mich interessiert es, im Film zu hinterfragen, wer die kohärente Instanz ist, die eine Geschichte erzählt. Wie kann man das Publikum von einem Erzählkonzept emanzipieren, das den Anspruch stellt, dass jeder dasselbe sehen soll. Ich wollte genau das Umgekehrte erreichen. Ich wollte, dass es am Ende des Films im Publikum eine möglichst unterschiedliche Wahrnehmung von dem gibt, was gerade auf der Leinwand passiert ist. Das entspricht viel stärker unserer Alltagswahrnehmung. Man braucht nur mit jemandem zu vergleichen, der den gleichen Zwischenfall wie man selbst gesehen hat. Es gibt so viele Realitäten wie Menschen.
 
 
Apariciones heißt ein Film von Ihnen, der davor entstanden und im Bereich des Experimentalfilms einzuordnen ist. Es geht um Sichtbar-Werden und Verschwinden. Was sehen wir physikalisch mit den Augen, was sehen wir „über-sinnlich“ in unserer Vorstellung? Die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und ihre Transformation in Film scheint Sie als Filmemacherin sehr grundlegend zu beschäftigen?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Ich glaube, man kann es so lesen. Andreas Spiegl, ein Medientheoretiker, hat einmal gesagt, dass man die Immaterialität nicht von der Materialität trennen kann. Es sind nur zwei Seiten einer Münze. Appear/disappear kommen aus der gleichen Materie. Wir und die Erscheinungen gehören alle zusammen in diese Welt und man kann nichts voneinander trennen. Dasselbe gilt für „real“ und „irreal“. Es ist nicht so, dass die Irrealität außerhalb der Realität liegt, Irrealität ist nur die andere Seite der Münze. Ich habe mich mit dem physikalischen Aspekt des Sehens und dem chemischen des Sichtbar-Machens beschäftigt. Ich möchte da auch das Wort „Alchimie“ einbringen. Ich habe bei Apariciones mit Almut Schilling, einer Restauratorin für zeitgenössische Kunst, zusammengearbeitet. Wir haben eigenhändig anhand von alten Rezepturen, aber mit aktuellen Materialien Emulsionen hergestellt und auf die Bilder aufgetragen. Das Bild ist ja schon da, bevor es in der Dunkelkammer sichtbar wird. Es braucht nur die richtige Chemie, um für meine Augen sichtbar zu werden. Die Frage ist – bestimme ich, weil ich Augen habe, was real ist? Oder war es schon da, bevor ich es gesehen habe? Die Chemie, die das Bild sichtbar macht, reicht noch nicht aus. Es braucht eine weitere Substanz, die das Sichtbar-Gewordene auch fixiert. Nur weil etwas zu einem Zeitpunkt sichtbar ist, bedeutet es noch nicht, dass es stabil ist. In Wald der Echos spielen die Mädchen ein Statuen-Spiel. Die Posen, die sie einnehmen, erzeugen Assoziationen zu bekannten Gemälden. Wenn die Mädchen beginnen, sich zu bewegen, ist das Bild weg, weil es durch die Bewegung zu Film wird. Ein Bild muss fix sein, Film darf sich bewegen. Die Bewegung geht erneut auf eine Illusion zurück, nämlich den Unterschied zwischen den Zeitframes. Eigentlich ist alles instabil. Wir erzählen uns die Geschichte, dass alles kategorisierbar und greifbar ist, das ist aber nur eine Fiktion.
 
 
Wald, das dunkle Wasser des Teiches – Wald der Echos zeigt Welten, die gerade in der Kindheit unheimlich sind und jede Menge Hirngespinste generieren. Was hat Sie in die Phantasiewelt der Kindheit geführt? Wie würden Sie die Faszination der kindlichen Welt beschreiben?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Der Wald ist ein interessanter Ort, weil er durch die Zeit existiert, 100 Jahre zuvor ebenso wie 100 Jahre danach und es ist ein Ort, der außerhalb aller Orte oder innerhalb aller Orte liegt. Der Wald ist eine Bühne außerhalb von Raum und Zeit, die sehr viel möglich macht. Zu den Mädchen hat die Anthropologin Elisabeth von Samsonow einen interessanten Ansatz – sie betrachtet das Mädchen als die Außenstehende. Da es noch nicht Frau und kein Mann ist, bricht es das binäre System. Es, das Mädchen, ist noch nichts geworden und trägt alle Möglichkeiten in sich, noch alles zu werden und ist demnach auch in sich instabil. Was mir an Kindern gefällt – ob Mädchen oder Buben – sie haben unser Erwachsenenspiel noch nicht gelernt. Sie sind mit einem Fuß immer noch außerhalb dieser Geografie der Erwachsenenwelt. Insofern sind sie für mich anarchische Elemente, die unsere Systeme durchbrechen können.
 
 
Ein weiteres Thema ist die kindliche Auseinandersetzung mit dem Tod. Wohin geht der Körper? Wohin geht die Seele? Die Zeremonie des Bestattens, das Kinder wie ein Theater erleben.
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Das ist ein Thema, das mich auch in Apariciones beschäftigt hat. Es war ein Film, mit dem ich zu verstehen suchte, was Film sein kann. Film hat viele Arten, sich zu äußern. Eine davon ist das Spiel mit dem Sterben. Der Unterschied zwischen einem Frame und dem nächsten ist die Illusion von Bewegung, von Leben. Die Möglichkeit, Tote zu erwecken, das Leitmotiv des Danse macabre ist für mich im Film eingeschrieben. Ob das nun ein Mensch oder ein fixes Bild ist, es wird in der Animation aufgeweckt. Es ist eine der filmischen Möglichkeiten, mit dem Tod zu spielen. Ich sehe unsere alltägliche Existenz zwischen zwei Säulen – man wird geboren und man wird gestorben. Film widerspricht dem. Was ist, wenn man mit diesem Spannungsfeld zu spielen beginnt und den Tod nicht mehr als etwas unumstößlich Fixes betrachtet. Vor kurzem ist mein lieber Professor Gunter Damisch gestorben und ich frage mich, wo ist das... tot? Er ist in so vielen meiner Gedanken präsent, dass ich nicht sagen kann, dass er weg ist. Er ist dort und nicht weg. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist nicht so klar, wie wir uns das einreden.
Eine weitere grundlegende Frage beschäftigt mich – mit welchem Zeitbegriff ist meine Arbeit unterlegt? Man kann Zeit als Linie betrachten, man kann dies aber auch verneinen und sich sagen, es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, man kann Zeit als Synchronizität betrachten oder andere Formen von Zeit entwerfen. Das Ritual ist für mich etwas, das die Zeit bricht. Wenn ich ein Begräbnisritual vollziehe, dann nehme ich die Rolle ein, die meine Mutter, Großmutter und Vorfahren über hunderte Jahre zuvor eingenommen haben. Es gibt plötzlich eine Anordnung, die die Linearität der Zeit kaputt macht, denn heute und vor 500 Jahren wird das gleiche Ritual vollzogen. Also Synchronizität verstanden als ein Nebeneinanderstehen ohne historischen Kontext. Die Linearität der Zeit ist nicht mehr da. Die Wiederholung eines gleichen Moments weist vielleicht darauf hin, dass wir mit einer zeitlichen Fläche zu tun haben. Es gibt Dinge, die sind miteinander verbunden, ohne dass es sich zeitlich oder durch eine Kausalkette erklären lässt. Das Ritual ist interessant, weil man einerseits eine Rolle in vorgegebenen Formen spielt, andererseits beschwört es etwas herauf, was abwesend war. Ich unterlege die Erwachsenenwelt mit dem System und die Kinder mit der Möglichkeit, dieses zu dekonstruieren. Wir haben immer die Macht, das, was wir gelernt haben, umzulernen. Das halte ich für eine unserer großen Aufgaben. Film ist ein gutes Vehikel, um all die bestehenden Systeme umzubauen oder zu entkoppeln.
 
 
Der Film enthält eine ganze Reihe an Referenzen an die Malerei, die von den Mädchen im Spiel nachgestellt werden. Warum dieser klare und auch humorvolle Verweis an die bildende Kunst.
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: In meiner Vorstellung wird der Film von sehr vielen thematischen Vektoren durchkreuzt. Ich fand die Idee lustig, wenn Kinder große Emotionen und pathetische Momente nachmachen. Ich wollte den Film nicht ins Drama kippen, aber es hat mich interessiert, Momente zu erzeugen, wie man z.B. ohne Drama über den Tod reden kann. Das war eine Art entdramatisiertes Drama. Dazu kommt die Idee des Films als Zeitmaschine. Wenn jemand die Bewegung stoppt und plötzlich wieder beginnt, sich zu bewegen, entspricht das dem, was Film tut. Der Film macht ein Bild und setzt es wieder in Bewegung. Diese Kinder stoppen den Film: die Erzählung läuft nach vor. Es ist eine filmische Selbstreflexion. Im Inhalt dieser Malereien, Statuen oder Skulpturen sind die Elemente kondensiert, die der Film auf einer anderen Ebene verarbeitet: der Kleine besiegt den Großen, die Freiheitsstatue, die Pietà und die Erlösung, die Wiederauferstehung. Der Film gibt die Möglichkeit der Auferstehung  durch eine Statue, die lebendig wird. In diesem Element kreuzen sich sehr viele Ideen, auch jene vom Bild. Ein Wesen, das stirbt, wird zum Bild. Der Körper als Fleisch ist nicht mehr da, aber in den Köpfen von allen taucht ein Bild auf. Wer stirbt, hört auf, sich zu bewegen, wird zum Bild. Und „Bild werden“ ist für mich ein starkes Thema. Eine der Konsequenzen des Todes ist, in den Köpfen der anderen ein Bild zu werden.
 
 
Wald der Echos wurde mit dem Thomas Pluch Drehbuchpreis für den Besten Kurzspielfilm ausgezeichnet. Ihre Bildsprache ist voller Poesie, wohl schwierig in Worte zu fassen.  Wie kann man sich ein Drehbuch vorstellen?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Ich bin keine erfahrene Drehbuchautorin. Wald der Echos war das erste Drehbuch, das in „üblicher“ Form geschrieben wurde. Ein Beispiel – der Wald. Der Wald stand als Eröffnungsbild fest und ich wollte, dass man sogleich mitten in der Aktion ist. Es brauchte einen Wald ohne grüne Äste, sehr klare vertikale Strukturen, damit das junge Mädchen mit dem roten Kleid und den langen Haaren hineinfließt. Ich wollte also die gestreifte Struktur und einen Rhythmus. Ich komme durch das Bild hinein. Andere Autoren beschäftigen sich mehr mit der Psychologie und finden da ihren Zugang. Ich habe viele Fotografie-Kurse belegt. Eine Aufgabenstellung dabei war – man sollte zehn Objekte fotografieren und damit eine Geschichte erzählen. Ich stand in Wald der Echos vor der Frage: Wie kann ich mit Objekten wie – ein Wald, drei Mädchen, eine Ertrunkene, ein Teich, Lehm, Sterben, Statuen... wie kann man mit zehn Elementen ein Feld aufmachen. Wie kann man zehn Objekte in einer Konstellation arrangieren, sodass plötzlich alles beginnt, eine Resonanz zu produzieren. Mir fällt ein Fahrrad mit seinen Speichen ein: Man hat ein Epizentrum, davon ausgehend kommen Bilder und andere Elemente zum Einsatz und man lässt sie einander kreuzen. Der Film schafft nicht die Erzählung, die Erzählung ist der Vorwand, um dieses Zentrum zu schaffen, das nicht mit einem der Objekte identisch ist, sondern das der Kreuzungspunkt von allen ist.
 
 
Wie haben Sie ihre drei Protagonistinnen gefunden. Wie sehr haben Sie mit ihnen gemeinsam Szenen erarbeitet?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Die Kinder brachten ihre Offenheit und Experimentierfreude mit. Die Offenheit, sich zu verwandeln, ist die wichtigste Eigenschaft eines Schauspielers. Bei den Kindern ging es auch darum, in der naivsten Bedeutung des Wortes zu spielen. Der Dreh war für die Kinder sehr anstrengend, manchmal war es heiß, manchmal kalt, manchmal gab es zu viele Gelsen, manchmal dauerte es sehr lange. Ihr Einsatz war wie der großer, professioneller Schauspieler. Sie zu finden war ein langer Prozess. Ich habe über tausend Zettel verteilt, drei Wochen lang Schulen besucht und Kinder von sechs bis zwölf zum Casting eingeladen. Dabei habe ich mir eine Regel auferlegt: Ich nahm mir für jedes Kind mindestens eine halbe Stunde Zeit, um beobachten zu können, was das Kind mitbringt. Das hat sich wirklich bewährt. Eines der Mädchen konnte zu Beginn überhaupt nicht sprechen. Und als ich ihm vorschlug, das Kamerastativ als ihre beste Freundin zu betrachten, dann tat sich plötzlich etwas in ihr auf. Das war auch für mich ein Aha-Erlebnis. Umgekehrt gibt es Kinder, die kommen herein und man weiß sofort, dass die Chemie passt. Als die drei Mädchen dann feststanden, lag es an mir herauszufinden, welche Art von Schauspielerinnen sie waren. Jede von ihnen brauchte eine andere Art von Anweisung. Ich habe so viel von ihnen für meine weitere Arbeit gelernt und nun auch meine Diplomarbeit über den Umgang mit Kindern am Set geschrieben.
 
 
Von der ersten Einstellung weg ist klar, welch große Rolle bei Ihnen die Tonebene spielt. Hier im Besonderen die parallele Existenz von Natur und den sphärischen, ans Unheimliche appellierenden Klängen.
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Als ich mich mit der technischen Auflösung beschäftigt habe, hatte ich auch grobe Ideen, welche Geräusche, welche Art von atmosphärischen Klängen ich wollte. Und da habe ich mit Rudolf Pototschnig und Konrad Glas – das Dream-Team – kennengelernt. Sie haben meine Skizze genommen, die kleinen Wünsche von mir aufgegriffen, damit experimentiert und mir immer mehrere Möglichkeiten aufgezeigt. Für einen Regisseur ist es der Idealzustand, mit einem Team zu arbeiten, das im Pingpong-Modus funktioniert. Sie haben Ideen weitergesponnen oder widersprochen. Wenn sie widersprochen haben, dann kamen sie mit neuen Vorschlägen. Der zweite Glücksfall war, dass zu jenem Zeitpunkt Alexander Koller und Marko Zinz ein neues Studio gegründet haben und einiges testen wollten. Wir kamen wie gerufen, durften experimentieren und sogar in Dolby Atmos mischen. Sound bewirkt jenen filmischen Moment, wo man angegriffen wird, ohne dass man es merkt. Das ist höchst manipulativ, gefährlich, aber natürlich extrem spannend. Es war eine echte Freude mit so begeisterungsfähigen Leuten das Sounddesign zu machen.
 
 
Es gibt Kindergesten wie Kaugummi-Teilen, auf das ein Schnitt auf Regenwürmer in einer erdigen Hand folgt. Den Zuschauer immer wieder aus der Komfortzone zu schubsen, verweist direkt an Ihren Lehrer Michael Haneke. Wie stark hat er Sie beeinflusst? Wo sehen Sie weitere Inspirationsquellen?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Michael Haneke ist auf alle Fälle ein wichtiger Begleiter in meiner Entwicklung, auch deshalb weil er so erfahren ist und dem Medium Film und dem Filmemachen gegenüber immer eine sehr kritische Haltung hat. Der Film funktioniert definitiv besser durch seine Betreuung. Ich arbeite gerade an einem neuen Film und auch hier war sein Feedback extrem bereichernd, man lernt jedes mal unheimlich viel von ihm und ich bin sehr dankbar dafür. Es gibt viele Leute, auch aus dem Bereich der Theorie, die mir sehr wichtige Impulse gegeben haben. An der Akademie der bildenden Künste waren es Andreas Spiegl, Ruth Sonderegger, Elisabeth von Samsonow oder eben Gunter Damisch. Auf der Filmakademie gehört auf alle Fälle auch Kathrin Resetarits dazu, die in Wald der Echos die Mutter spielt. Sie ist ein eine sehr selbstreflexive Person, die auch das Filmemachen per se immer wieder hinterfragt. Wenn ich in die Filmgeschichte zurückgehe, dann entdecke ich sehr viele Begegnungen. Ich denke an Eisenstein, der sagt, was mit dem „Meißel des Objektives“ aufgebrochen werden soll, ist die Welt in ihrer Totalität. Solche Zugänge finde ich sehr interessant. Luis Buñuel hat so ein grundlegendes Misstrauen in unsere sozialen Spiele und Lügen. Es fällt mir auch Björk und ihre Art, Musik zu produzieren oder Ton zu betrachten ein, oder Pina Bausch mit ihren Choreografien, in denen sie Bewegung durch Ausprobieren und dem Zerlegen von Konstellationen plant. In der Literatur denke ich an Jorge Luis Borges als großen Denker. Man wird von so vielen Vektoren und Menschen durchkreuzt, solchen, die da sind und solche, die nicht mehr unter uns weilen.
 
 
Sie stammen aus Argentinien, haben dort auch Ihr Filmstudium begonnen. Wo sehen Sie den lateinamerikanischen Einfluss in Ihrer Arbeit, wo den österreichischen?
 
LUZ OLIVARES CAPELLE: Mein Filmstudium in Buenos Aires betrachte ich eher als technisches Training: ein Bewusstwerden der Positionen am Set, die Entstehung eines Films als technisches Objekt ... ein bisschen wie Torte-Backen. In gewisser Weise ist Filmemachen immer wie Torte-Backen – man vermischt Dinge, machte etwas daraus und jeder Mensch nimmt den Geschmack dann anders wahr. Ich habe in Argentinien die Technik erlernt, das Eingangstor zum Filmemachen hat sich erst in Wien aufgetan. Das hat sehr viel mit meinem Studium bei Gunter Damisch an der Akademie der bildenden Künste zu tun. Durch die Ateliererfahrung in seiner Klasse mit Kollegen – wir haben auf Papier, am Objekt, mit Installationen gearbeitet – habe ich dort ein Machen gefunden, das ich vorher nicht gekannt habe. Ich hatte immer gezeichnet und gemalt, Film war für mich eine andere Welt. Dadurch dass ich hier an zwei Orten Kunst und Film studieren und von so vielen Menschen lernen durfte, ist es zu einem geworden. Durch Gunter und Veronika Dirnhofer habe ich die Begleitung eines künstlerischen Prozesses erlebt. Man ist immer in einem Balanceakt, des sich Verlierens und sich Findens, egal in welchem Medium man sich ausdrückt. Meinen Zugang zur Kunst habe ich eindeutig hier gefunden. Das heißt nicht, dass mich mein Leben in Südamerika nicht auch wesentlich geprägt hat, diesen Einfluss für die künstlerische Arbeit zu aktivieren, habe ich gewiss hier gelernt. Ich habe in der Grafik-Klasse sehr viel mit Erde und Stoff gearbeitet. Wenn ich jetzt Wald der Echos sehe, dann erkenne ich die Bildersprache meiner Installationen. Das ist nicht bewusst geschehen. Es ist mir bewusst, das die Filmwelt diesen künstlerischen Anspruch nicht unbedingt positiv aufnimmt. Ich spreche von Kunst nicht als etwas Höherstehendem, sondern als Raum, der sich von anderen Bereichen wie Wirtschaft oder Wissenschaft abgrenzen kann, wo man alles noch einmal umbauen kann und darf. Gunter Damisch sagte immer: „Kunst kann alles und muss nichts.“ Das gilt auch für den Film (zumindest für Kurzfilme). Das Problem ist, wenn man in den Langfilm einsteigen will, wird aus ökonomischen Gründen der Druck höher und daher darf man Vieles nicht. Das wird eine meiner Herausforderungen sein.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juni 2016
 
 
 
«Eigentlich ist alles instabil. Wir erzählen uns die Geschichte, dass alles kategorisierbar und greifbar ist, das ist aber nur eine Fiktion.»