INTERVIEW

«Der Intellekt ist oft hinderlich im Zugang zum Kind.»

Wenn das Schreien der Kleinsten chronisch wird, verstummt oft das Wissen um Abhilfe. Anstatt sanft zum Schweigen gebracht zu werden, wollen sie sich lautstark Gehör verschaffen – meist, um ein schmerzhaftes Erlebnis zu erzählen. In ihren Eltern treffen sie nicht immer auf offene Ohren – zu komplex ist das Kraftfeld Eltern-Kind nach der Geburt, vergeblich der Versuch, über den Verstand nach Lösungen zu suchen. Antonin Svoboda ist in Cry Baby, Cry Ansätzen der emotionalen Ersthilfe nachgegangen und hat dafür auch großzügigen Einblick in die Therapieräume der Familien erhalten.  
 
 
 
Waren es alarmierende statistische Daten oder persönliche Erfahrungen, die Sie für das Thema der Schreibabys sensibilisiert haben?
 
ANTONIN SVOBODA: Weder noch. Ich habe vor einigen Jahren einen Dokumentarfilm mit dem Titel Wer hat Angst vor Wilhelm Reich gemacht, in dem es bereits eine kleine Szene mit Thomas Harms, dem Therapeuten, der in Cry Baby, Cry sehr präsent ist, gab. Damals konnte ich beobachten, was er von Eva Reich, der Tochter Wilhelm Reichs, gelernt hat, die in den sechziger und siebziger Jahren weltweit Hebammen ausgebildet hat. Ihr ging es dabei nicht vordergründig um das Handling des Geburtsvorganges, sondern um ein Verständnis der pränatalen Phase. Sie verfolgte die Frage, wie sehr hier die Möglichkeit einer Mitgestaltung besteht und bemühte sich um eine Art von sanfter Geburtshilfe. Thomas Harms hat diesen Ansatz in seiner Bremer Praxis zu einer Form von emotionaler Ersthilfe weiterentwickelt, die er nun seit zwanzig Jahren anbietet. Der grundlegende Wesenszug seines Zugangs liegt darin, dass es nicht um eine Symptombehandlung geht, sondern um das komplexe Verhältnis Kind – Eltern – Geburt. Was ist pränatal passiert? Wie sah die Geburtssituation der Eltern aus? Mit jeder Geburt klopft ja für die Eltern die eigene Kindheit wieder an und es vermischen sich Emotionen und irrationale Zustände von Eltern wie von Kindern. Matthew Appleton, ein Kinder- und Jugendpsychologe aus Bristol, der auch in Cry Baby, Cry zu sehen ist, bringt es sehr gut auf den Punkt, indem er sagt: „Manchmal hat man es nicht mit einem, sondern mit zwei oder drei Babys im Raum zu tun“.
 
 
Einmal mehr hat also Wilhelm Reich Ihnen einen Anstoß zu einer filmischen Auseinandersetzung geliefert?
 
ANTONIN SVOBODA: Der Titel von Reichs letztem Werk lautet Kinder der Zukunft, er hat sich 40 Jahre eingehend mit der Frage beschäftigt, wie man Traumata wieder „reparieren“ kann. Vereinfacht gesagt lautet seine Conclusio, dass es besser wäre, wenn man Kinder präventiv dorthin lenkt, wo es mehr Spielraum für Entfaltung und Wachstum gibt. Von ihm ausgehend zieht sich über Eva Reich und Thomas Harms ein roter Faden durch das Thema Prävention. Darüber hinaus ging es mir auch um das Phänomen und die Frage, was diese schreienden Kinder erzählen. In den seltensten Fällen ist ein physiologisches Leiden die Ursache des Schreiens. Die Babys erzählen ein traumatisches Erlebnis, das sie loswerden wollen. Auf diesen Punkt möchte ich die Aufmerksamkeit lenken und zeigen, dass Babys den Raum dafür brauchen und es nicht zielführend ist, das Schreien durch Stillen oder eine Flasche oder einen Schnuller zu unterbinden. Damit wird ein Phänomen wirksam, das bei Wilhelm Reich ausführlich behandelt wird – die Selbstheilungskraft. Kinder bringen diese von sich aus mit, wenn man ihnen den Raum dafür auftut. Noch folgen sie in ihrem Handeln ihren Bedürfnissen und ihrer Intuition und können dadurch das Trauma überwinden. Wenn man über ein Trauma reden darf, durchlebt man es noch einmal, aber auch schon seine Veränderung. Die Babys setzen von sich aus eine Reaktion und bringen dadurch eine Art Selbstregulierung in Gang.
 
 
Ab wann spricht man von einem Schreibaby?
 
ANTONIN SVOBODA: Soweit ich als Filmemacher Einblick bekommen habe, wenn das Schreien über einen Affekt hinaus geht und chronisch wird. Wenn die Reaktion mit der Situation in keinem Verhältnis mehr steht, die Kinder sich nicht mehr beruhigen lassen und das Schreien sich verändert, d.h. aus einer Spontanreaktion in eine Schleife übergeht. Da entsteht zwischen Eltern und Kind irgendwann ein Ping-Pong, von dem sie selbst wissen, dass sie falsch, emotional und inadäquat reagieren.
 
 
Was macht es mit den Eltern?
 
ANTONIN SVOBODA: Das reicht von Verzweiflung bis Hoffnungslosigkeit, weil man an den Rand seiner Möglichkeiten gedrängt und mit seinem Latein am Ende ist. Meiner Meinung nach auch deshalb, weil man den Umgang mit solchen Situationen im Familienverbund nicht mehr lernt. Es gab früher mehr Familien, wo drei oder vier Generationen unter einem Dach lebten und Erfahrungen aus der Perspektive verschiedener Generationen betrachtet und damit auch abgefangen werden konnten.
 
 
Ging es Ihnen auch darum, die Aura von Liebe, Bindung, Harmonie, die gerne rund ums Thema Geburt transportiert wird – zu entmystifizieren?
 
ANTONIN SVOBODA: Film verwendet Licht und Schatten, um eben manchmal zu erhellen, wo es dunkel ist – sowohl der Spielfilm als auch der Dokumentarfilm. Dennoch wollte ich eine ermutigende Geschichte erzählen, die Problemsituationen ebenso wie einen konstruktiven Umgang damit vor Augen führen. Das Leben ist täglich ein Kämpfen um jegliche Errungenschaft – ob es sich nun um eine Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen oder mit einem Kind handelt. Man muss sich ständig aufs Neue bemühen. Gewisse Zeitfenster brauchen eine besondere Aufmerksamkeit: den Entwicklungsschub, den ein Neugeborenes bis hin zum dritten/vierten Lebensjahr vollzieht – vom total schutzbedürftigen, allein nicht lebensfähigen Wesen bis zu einem Kind, das sich schon allein durch seinen Alltag bewegen kann – macht man ja kein zweites Mal mehr im Leben. Mir ist wichtig, bewusst zu machen, dass es sich um eine extrem emotionale, psychologische Angelegenheit handelt.


Cry Baby, Cry macht vor allem deutlich, wie sehr ein Baby, das nicht artikulationsfähig ist, zu kommunizieren imstande ist.
 
ANTONIN SVOBODA: Absolut. Wir haben zuvor von Intuition gesprochen, etwas, was in den siebziger oder achtziger Jahren als wesentlicher Bestandteil einer integren Persönlichkeit betrachtet wurde. Ich gewinne den Eindruck, dass dies als Wert auch in Hinblick auf die Kinder verloren geht. Was ist schon eine richtige Geburt? Jeder hat andere Zugänge, Blockaden, Ängste. Um da zu erkennen, was für einen richtig ist, hilft ja auch die Intuition und kein Lehrbuch. In vielen Geburtsvorbereitungskursen geht es wieder vermehrt ums Hineinhören, Hineinspüren.
 
 
Steht für Sie die Perspektive, dass etwas verloren geht, stärker im Vordergrund als eine in den letzten Jahrzehnten gewachsene Bewusstheit und Bereitschaft, Probleme anzusprechen und zu diskutieren? Hat sich im Umgang mit Kindern etwas verschlechtert?
 
ANTONIN SVOBODA: Es ist anders geworden. Ich halte es nicht unbedingt für sehr ratsam und heilsam, möglichst viel zu bereden. Der Intellekt ist hauptsächlich mit dem Ego beschäftigt. Wenn man nicht wirklich gelernt hat, im Denken sehr gut zu dissoziieren, dann ist man in einer Assoziationsfalle und alles kreist – egal wie man es formuliert – um einen selbst. Wer Kinder begleitet, merkt rasch, dass es besonders bei kleinen Kindern, mit Erklärungen kaum etwas zu gewinnen gibt. Da geht es vielmehr um Verführung, Überraschungsmomente, Körperlichkeit, um etwas wie Ausstrahlung – Dinge, die die Kinder mit ihren ganz eigenen Sensoren einfach wahrnehmen. Reden ist bei ihnen oft ergebnis- und fruchtlos.  Wenn man Dinge beredet, versteht jeder etwas anderes. Wenn man es in einer Gruppe vorzeigt, macht jeder seine Erfahrung damit, die dann auch stimmt, weil sie von einem originären Moment ausgeht.
 
 
Ist man heute nicht eher schneller bereit, Probleme beim Namen zu nennen und nach Hilfe zu suchen?
 
ANTONIN SVOBODA: Ich möchte die heutige Zeit nicht schlecht reden. Es gab früher gewiss beides: Einerseits Unverständnis, wo Eltern angesichts ihres Schreibabys panisch und ablehnend reagiert haben; die gibt es heute ebenso. Und es gab und gibt jene, die ihrer Intuition folgen und es gar nicht zu einem Schreibaby kommt. Durch Craniosacral-Therapie oder Osteopathie kann man heute schneller intervenieren und bei Kleinstkindern schon mit ein, zwei Behandlungen sehr viel auslösen. Gerade kleine Traumata beim Geburtsvorgang selbst, die in der Folge beim Baby immer wieder ein Schmerzecho auslösen, können durch solche Therapien schnell behoben werden. Das ist ein Vorteil von heute. Gleichzeitig schafft das Sprechen, das Wissen, das Analysieren, die intellektuelle Beschäftigung damit oft erst das Problem. Einer der Therapeuten im Film sagt sehr treffend: „Oft ist es besser, das Falsche auf die richtige Art zu tun, als das Richtige auf die falsche Art.“ Der Intellekt ist oft hinderlich im Zugang zum Kind.
 
 
Es war gewiss nicht so einfach, Menschen zu finden, die bereit waren, sich in einer Therapiesituationen filmen zu lassen. War es schwierig, genügend Material für einen Film zu bekommen?
 
ANTONIN SVOBODA: Wir haben mit zwei Kameras gedreht und sind daher mit 2x hundert Stunden in den Schnitt gegangen. Von Beginn weg bis zu Drehschluss haben wir mit fünf Familien gedreht. Mir war wichtig auch aufzuzeigen, was nicht geht –  Blockaden, Situationen, wo auch ein Therapeut nicht helfen kann. Es kann ja nur eine Lösung gefunden werden, wenn alle mitmachen. Dementsprechend hat viel Material dann nicht in den Film Eingang gefunden, weil es nicht sehr ergiebig war. Der Dreh war sehr anstrengend, weil jede Sitzung sehr intensiv war. Als Beobachter, der sich auch interessantes Filmmaterial wünscht, sitzt man dabei und denkt sich innerlich: „Jetzt lass endlich dieses Gefühl zu“, „Spring doch endlich über deinen Schatten.“ In so einem kleinen Raum wurden für mich als Beobachter die Emotionen oft sehr stark. Die wunden Punkte scheinen einem von außen so sonnenklar, leider nicht den Betroffenen. Fürs Filmteam war es alles andere als einfach, weil wir den Therapieraum, der natürlich für eine Drehsituation sehr klein war, praktisch nie verlassen haben.
 
 
Wie kann man sich die Kameraarbeit vorstellen, die einerseits der Enge des Raums und auch der Augenhöhe der sehr kleinen Kinder gerecht werden musste? Darüberhinaus wird man wohl das Gefühl  des Eindringlings in einer sehr persönlichen Situation nicht los?
 
ANTONIN SVOBODA: Wenn ich nicht selber als Patient Therapieerfahrung gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich eine falsche Scham gehabt. Ich wusste von mir selbst, dass das, was in einer Sitzung rauskommt, wenn es positiv verläuft, für alle Beteiligten gut ist. Dann kann man zu Dingen die einen zuvor belastet oder in einem selbst Scham ausgelöst haben, mit einer gewissen Erleichterung gegenüberstehen. Man wünscht das jedem Menschen. Mit dieser Erfahrung im Rücken konnte ich etwas ungenierter im Therapieraum sitzen, eher mit einer Haltung „Zeigt es mir!“, damit ich es über den Film weitergeben kann. Ich weiß, dass es für alle ein Gewinn sein kann. Natürlich muss ich mich als Regisseur den kritischen Fragen stellen, ob man so persönliche Therapiesitzungen filmen darf. Gerade in Deutschland ist die Situation heikler als in Österreich, weil Patienten trotz Einverständniserklärung am Ende des Drehs es ablehnen können, dass das Material gezeigt wird. Das wäre ein Totschlag für das Projekt. Ich habe daher ganz bewußt vor Schnittende den Film meinen ProtagonistInnen gezeigt und ihn absegnen lassen. Der Therapieraum ist ein wohlweislich sehr geschützter Raum. Um einen Film zu diesem Thema drehen zu können, braucht es aber diesen Einblick: Was passiert mit den kleinen Kindern, wie läuft die Interaktion? Welche Räume können in den Situationen geschaffen werden? Natürlich gibt es auch Filme wie Baby Baby Baby, die weltweit ein lustiges Bild von Babys, wie sie z.B. krabblen lernen, vermitteln. Das ist dann nett anzuschauen. Wenn man es schwerwiegend mit unseren westlichen Alltagsproblemen zu tun hat, dann halte ich es für unabdingbar, dass man in einen Therapieraum hineinschaut.
 
 
Am Anfang gibt es Sequenzen einer Musiktherapie, bei der sich die akustische Wahrnehmung der Musik immer wieder ändert. Worauf beruht diese Therapieform?
 
ANTONIN SVOBODA: Es ist eine Hörtherapie, die vom französischen Ohrenarzt Alfred Tomatis entwickelt wurde. Sein Ansatz hat mit der Vorstellung aufgeräumt, dass man im Wasser gedämpft hört. Was der Fötus in der Fruchtblase hört, ist ein Hochfrequenzhören, das bis 8000 Hz geht, während wir auf ca. 2500 Hz begrenzt sind. Um diese pränatalen Zustände zu unterstützen, manipuliert Dirk Beckedorf in seiner Hörtherapie das Gehörte bis zu 8000 Hz, er nimmt immer mehr Frequenzlagen heraus und evoziert dadurch ein Erinnerungsmoment. Das bewirkt, dass man selbst in einen pränatalen Zustand gelangt. Wenn es in dieser Phase Erfahrungen gegeben hat, die es aufzuarbeiten gilt, dann können diese hochkommen. Daher gibt es am Beginn des Films diese akustische Verfremdung – es war zu erwarten, dass man diese als Zuschauer auf ein technisches Problem zurückführt. Auch das ist eine leichte Provokation meinerseits: Sie soll uns darauf aufmerksam machen, wie sehr wir davon ausgehen, dass alles einen perfekten Klang hat. Ich versuche da gleich von Beginn an, subkutan mit einer Erwartungshaltung zu brechen, die rein auf die Technik abzielt. Man versucht, diese Irritation auf die Technik zu schieben, anstatt sich darauf einzulassen, dass sie etwas mit dem Film zu tun haben könnte. Ich habe das ganz bewusst sehr früh ohne Erklärung eingesetzt.
 
 
Wie ließ sich eine Kamerahöhe zu den Kindern finden?
 
ANTONIN SVOBODA: Ich bin oft am Boden gelegen, um auf Augenhöhe der Kinder zu sein. Es ging mir ja darum, zu erfassen, wie diese ganz kleinen Kinder interagieren. Ich habe immer mit zwei Kameras gedreht, mal hat Lisa Ganser gedreht, mal meine Assistentin Gabriela Schild, mal hatte ich einen dritten Kameramann. Ich bin zwischen zwei Kameras gependelt. Technik war in diesem Raum nur begrenzt einsetzbar, sonst wäre aus dem Therapieraum ein Studio geworden. Entsprechend sind Licht und Ton immer in einem sehr fragilen Zustand. Ich musste mich auf den 12/14m2, die den Familien und dem Therapeuten vertraut waren, nach den verfügbaren Möglichkeiten richten.
 
 
Abgesehen von Thomas Heims kommen Therapeuten aus England und den Niederlanden zu Wort. Ist in diesen Ländern die Therapie mit sehr kleinen Kindern stärker verankert?
 
ANTONIN SVOBODA:  Ich habe mit sehr viel mehr Menschen gesprochen als im Film zu sehen sind: Die Soziologin Annelie Keil kommt schon in meinem Film über Wilhelm Reich vor. Matthew Appleton ist ein englischer Kinderpsychologe. Sehr leid tut es mir um Jaap van der Wal, er ist Embryosoph, also jemand, der sich dem embryonalen Stadium philosophisch annähert, ein Ansatz der schon sehr stark ins Esoterische hin neigt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass, wenn man zu viele Stimmen kombiniert, auch etwas, das man in der Montage aufgebaut hat, wieder kaputt gehen kann. Vielleicht haben wir vor allem im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum eine eher intellektuelle Kultur darüber nachzudenken und zu forschen. Aber die holländische Kinderpsychologin Paulien Kuipers wiederum trifft sehr einfache und umso eindringlichere Aussagen über Bindungsprobleme und ist verantwortlich, das eine psychologische Begutachtung in Holland in Bezug auf Bonding verpflichtend im Mutter Kind steht. Dorthin müssen wir erstmal kommen.


Interview: Karin Schiefer
Oktober 2017
«Ich bin oft am Boden gelegen, um auf Augenhöhe der Kinder zu sein.»