INTERVIEW

«Ich bewege mich in einem Gemälde.»

In Ludwig Wüsts Aufbruch teilen zwei einander Unbekannte in stillem Einverständnis ein Stück ihres Weges, der sie an einen radikalen Scheidepunkt führt.
 
 
Sie nennen ein japanisches Sprichwort „Die Trauer um den Fluss der Dinge“ als Inspiration  für diesen Film. Die Frau in AUFBRUCH zitiert ein russisches Gedicht, wo vom Ungesehenen, Unhörbaren und Unausgesprochenen im Dasein die Rede ist. Wie sehr sollte es ein filmisches Gedicht oder eine poetische Erzählung werden?
 
LUDWIG WÜST: Ich schreibe meine Filme nicht von der Welt abgeschieden am Schreibtisch. Sie entstehen als Prozess mit meinem Kameramann Klemens Koscher und Claudia Martini, die nun schon in vier meiner Filme mitgewirkt hat. Für Aufbruch bin ich meiner Intuition gefolgt: Ich wollte mich schon lange in einem Film durch Landschaft bewegen und alles über Bilder erzählen, es gibt in Aufbruch kaum Dialoge. Dass ich selbst spiele, war nicht von Anfang an geplant, es ist einer Umbesetzung zu verdanken und auch da bin ich meiner Intuition gefolgt und versuchte, in mein eigenes Universum hineinzuspazieren und mich mir selbst auszuliefern. Das japanische Sprichwort rührt daher, dass ich das mir bis dahin unbekannte japanische Kino entdeckt hatte und sich mir eine völlig neue filmische Welt aufgetan hatte. Nach meinem letzten Film Heimatfilm spürte ich, dass damit etwas zu Ende gegangen war. Ich hätte vor zwei Jahren auch mit dem Filmemachen aufhören können, weil ich das Gefühl hatte, vieles gesagt zu haben. Es herrschte für eine Weile Ruhe, dann drängte sich das neue Projekt auf – ein Roadmovie mit dem Arbeitstitel Die letzte Fahrt. Ich habe mich täglich mit der Frage auseinandergesetzt, wohin die Reise gehen würde. Wenn ich schreibe, habe ich nicht das Ziel vor Augen, sondern nur den Weg. Das japanische Kino eröffnete mir eine völlig radikale Bildersprache und Reduktion. „Die Trauer über den Fluss der Dinge“ ist ein Zitat aus einem Buch über Ozu, das mich wie ein Blitz getroffen. Meine Beschäftigung mit Ozu hat alles auf den Kopf gestellt.
 
 
Der Titel Aufbruch löst Assoziationen mit einem Neubeginn, mit Vitalität, Euphorie aus. Der Film führt allerdings zurück in Erinnerungen und in eine Einkehr nach Innen. Wollten Sie hier mit einem Spiel aus Kontrast und Opposition beim Zuschauer eine Irritation auslösen?
 
LUDWIG WÜST: Mein Arbeitstitel lautete „Die letzte Fahrt“. Das war 2014. Mir war klar, dass diese Fahrt nichts von einer Routine hatte und sich an ihrem Ende das Leben verändert haben würde. Ich hatte als Figuren einen Mann, der in einem unlösbaren Problem Konflikt mit einer Frau lebt, und er trifft auf eine Frau, die auf einer Bank mitten in der Landschaft sitzt und russische Gedichte übersetzt. Die Idee war, dass dieser Mann, der ein Handwerker ist, diese Frau einfach mitnimmt – eine Geste, die heutzutage auch schon selten geworden ist. Er wird eine Art Schutzengel für sie. Ich wollte auch über archaische Dinge reden, so arbeitet dieser Tischler mit einfachen Werkzeugen in einer Werkstatt, wo es weder Wasser noch Strom gibt. Ich suchte nach einer sinnlichen Erfahrbarkeit, wo es darum geht, aus einem Stück Holz etwas zu gestalten oder einen Apfel zu essen. Diese Dinge entstehen im Laufe der Reise, die in einer Sackgasse eines Hafens endet, wo einige wesentliche Dinge transformiert werden: der Koffer, das Holzkreuz werden zerstört, um Feuer zu erzeugen, damit die beiden Figuren essen können. Es entsteht ein zeitloser Moment, so wie der gesamte Film ganz in der Gegenwart ist.
 
 
Sie haben nun mehrfach auf die Idee einer Reise ins Unbekannte verwiesen, auf die Sie sich mit Ihrer Filmpartnerin Claudia Martini begeben haben. Wie sah die schriftliche Grundlage von Aufbruch vor Drehstart aus?
 
LUDWIG WÜST: Es gab eine schriftliche Grundlage, da wir ja auch eine Förderung für dieses Projekt beantragt haben. In den drei Jahren, die wir daran arbeiteten, hat sich sehr viel geändert. Claudia, die immer mit sehr schnell und unglaublicher Intuition die Biografie ihrer Figur erstellt, hat ihre Figur wahrscheinlich fünfmal neu geschaffen. Ich musste für meine Rollengestaltung einerseits in mir selbst forschen und mir andererseits ein Substitut im Kopf schaffen, um den für die Reduktion nötigen Abstand zu gewinnen. Claudia und ich hatten beim Dreh eine Prämisse: „Nichts spielen. Wir sind da. Das muss genügen.“ Wir haben über viele Wochen an den Original-Locations geprobt und den Film on location Einstellung für Einstellung entwickelt. Ich habe fünf Storyboard-Bücher verbraucht, bis wir uns an den Drehstart wagten. Was wir in diesem Prozess wegwerfen konnten, haben wir weggeworfen. Das war möglich, weil zwischen uns seit langem ein großes Vertrauen besteht und wir immer weiter gehen. Wir müssen nie bei Null beginnen. Im Frühling haben wir mit dieser Entwicklungsarbeit begonnen und mit Anfang November war es soweit, dass wir den Startschuss für zehn Tage Dreharbeit gaben. Es waren intensive Tage – gewiss meine bisher größte Arbeit –, bei der wir ausgereizt haben, wie weit wir gehen können. Dieser Film hat wahrscheinlich die Kraft und Energie der zehn Filme, die ich zuvor gemacht habe, gebraucht. AUFBRUCH ist das Energiefeld von zehn Filmen, die alle hineinspielen.
 
 
Wie gingen Sie mit sich selbst als Darsteller um? Wie konnten Sie bei dieser Intensität der Rollenarbeit den Regieblick bewahren?
 
LUDWIG WÜST: Dafür gab es ein entscheidendes Filmerlebnis. Cristi Puiu spielt auch in seinem Film Aurora selbst. Seinen Minimalismus empfand ich als umwerfend. Ich spürte, dass ich auch irgendwann antreten muss. Ich habe, bevor ich mit dem Filmemachen begann, Theaterregie geführt und auch eine Schauspielausbildung absolviert. Ich habe dieses Handwerk ebenso gelernt wie das der Tischlerei. Diese beiden Aspekte wollte ich unbedingt auf eine sinnliche Weise in AUFBRUCH einbringen. Was die Figur selbst betrifft, ging es darum, mich selbst zu vergessen. Die Analysen der Probeaufnahmen machten es mir möglich, alle Masken und Hüllen fallen zu lassen und nur noch da zu sein, ohne etwas zu empfinden. Es ist mir daher auch wichtig zu betonen, dass es eine Darstellung und kein Schauspiel ist. Im meinem Monolog gibt es Elemente, die von mir kommen, andere von anderswo. In der Vorbereitungszeit zwischen Mai und November habe ich mich völlig zurückgezogen und kaum soziale Kontakte geführt. Es war mir unmöglich, über meine Arbeit mit Außenstehenden sprechen. Am Set musste ich mich in eine Art von Glocke zurückziehen, wenn es darum ging, von der Regie in die Darstellung zu wechseln. Es war ein Akt großer Disziplin und ich habe auch keinerlei Ambitionen, mich nun vermehrt auf meine schauspielerische Karriere zu konzentrieren.  
 
 
Verkehrswege, Verkehrsmittel, – ob Landstraßen, Gleise, Züge, eine Barke zur Überfahrt ... sind sehr präsente Bilder in Aufbruch, sehr im Einklang mit dem Titel. Metaphern für Lebenswege, Lebenskraft, ebenso wie zur Überfahrt in die Totenwelt. Warum bilden diese Bilder die Grundlagen der Erzählung?
 
LUWIG WÜST: Der Zug ist ein Motiv, das seit meiner Kindheit bestimmend ist. Ich stamme aus einem Dorf, wo der Zug durchgedonnert ist und die Gleise ein Ort des Spiels waren. Gleichzeitig erfuhren wir täglich die Gefahr und die Kraft dieser Maschinen, die nicht aufzuhalten waren. Der Zug, der über einen Übergang (wie in der Anfangseinstellung von Aufbruch) hinwegdonnert, ist für mich eine Lebensmetapher. Die Zeit rast und kümmert sich nicht darum, ob man mitfahren möchte. In Aufbruch rast das Leben an diesem Mann vorbei, weil er sich von einem unlösbaren Konflikt aufhalten lässt. Irgendwann muss er aufbrechen und etwas davor abbrechen. Der Zug bildet eine starke Klammer – am Beginn mit dem Schrei auf den Zug hin (eine Szene, die nicht ungefährlich zu drehen war) bis zum Ende mit den toten Gleisen am Hafen und dem vorbeifahrenden Güterzug. Die Straßen im Film sind kleine, nicht mehr benutzte Straßen, quasi übrig gebliebene Straßen, wie meine beiden Figuren im Film übrig gebliebene Menschen sind. Irgendwann müssen sie zu Fuß weiter, dass die Frau mit einem leeren Koffer reist, hat etwas Surreales. Die Bootsfahrt hat in der Tat schon Anklänge von Jenseits, was auch in der Musik durch die Trommeln und die Totenglocke transportiert wird. Das seltsame gelbe Gefährt hat ja auch etwas von einer Raumkapsel, die den Eindruck einer Mission erweckt, die der Mann erfüllt und wieder weiter geht. Ich will nichts genau erklären, nur Vermutungen in den Raum stellen. Ich bin Dingen gefolgt, die mir stimmig erschienen. Wichtig war mir, dass es sinnlich erfahrbare, zum Teil auch verlorene Dinge waren.
 
 
Das skurrile gelbe Gefährt, das ohne Führerschein fahrbar ist, bringt eine clowneske Note ein.
Wie wichtig war es Ihnen, dem Humor einen Platz einzuräumen?
 
LUDWIG WÜST: Absolut wichtig. Ich wollte keinen depressiven Film machen, sondern auch Farben hineinbringen. Das Auto per se hat schon den entsprechenden Effekt, die Fahrt der beiden, wo sie stolz am Steuer sitzt oder die Szenen, wenn sie in der Werkstatt ihre Jause essen. Sehr viel ist da gemeinsam mit Claudia Martini aus der Probenarbeit entstanden.
 
 
Die Natur in Aufbruch ist eine vom Menschen regulierte Natur – Äcker, regulierte Bäche, Felder, der Hafen, die Schleuse. Andere Menschen sind völlig absent, die menschliche Umwelt ist nur durch menschengeschaffene Konstruktionen und Maschinen zu sehen. Wie wollten Sie die Natur für Ihren Film nutzen?
 
LUDWIG WÜST: Erst als am Ende der Mann alleine ist, beginnen Autos aufzutauchen, eine Art Alltag, ein Außen kommt in Gang. Ich wollte in einer vollkommen menschenleeren Gegend mit Äckern, Bäumen, der Bank und verlassenen Wegen, wo sonst niemand geht,  die Erzählung beginnen und niemanden sehen. Die Landschaften kannte ich sehr gut. Das einzig mir unbekannte, war der Albaner Hafen, wo sich auch der Friedhof der Namenlosen befindet. Wir drehten auch in dem Haus, wo wir Das Haus meines Vaters gedreht haben, das inzwischen unbewohnt und verwahrlost ist. Es war interessant, diese alten Wege neu zu begehen. Für die Szene am Flussufer hatte ich zunächst eine sehr idyllische Stelle und schließlich entschied ich mich für eine, wo Betonröhren von regulierten Bächen im Bild sind – also für einen Ort, wo niemand bleiben mag und jeder vorbeigeht. Das riesige Hafenbecken stellte einen surrealen Ort dar, umso mehr, als sich der Wasserstand in kürzester Zeit um vier Meter änderte. Ich habe im Sommer vor Drehbeginn den Hafen zum ersten Mal besichtigt und ich sah sofort ganz deutlich die Bilder, die ich brauchte.
 
 
Wie kann man sich nach einer so akribischen Vorbereitungszeit den Dreh selbst vorstellen. Funktioniert dies meist mit One-Takes? immerhin gibt es ja sehr lange Plansequenzen und auch 360°-Schwenks?
 
LUDWIG WÜST: Die langen Plansequenzen in meinen Filmen rühren gewiss von meinen künstlerischen Ursprüngen in der Malerei. Mein Film Tape End besteht aus einer einzigen Einstellung. Für Das Haus meines Vaters habe ich mit Klemens Koscher, meinem Kameramann wie eine Choreografie den Weg einstudiert, den er eine Stunde lang mit der Handkamera auf der Schulter, zurücklegen sollte. Die Schauspieler mussten sich seinen Bewegung anpassen. In dieser Hinsicht versuche ich immer Grenzen auszureizen. Das Nicht-Wiederholen hat in meinen Filmen etwas mit dem Setting zu tun, aber auch damit, dass wir ein eingespieltes Team sind. Ich schneide nicht gern. Ich bin Maler. Ich bewege mich in einem Gemälde. Es ist wie ein großer Atem, wenn Claudia sich auf die Bank setzt und dann nimmt eine Serie von Gesten ihren Lauf. Das braucht Zeit. Irgendwann kommt der Mann vorbei und sie fragt ihn: „Nehmen Sie mich bitte mit?“ Ich sehe da keinerlei Veranlassung zu schneiden. Die Szenen in Aufbruch waren nicht unkompliziert. Erstmals haben wir auch auf Tracks gedreht. Wir haben so lange geübt, bis es perfekt lief, immer wissend, dass wir maximal die Chance auf einen zweiten Take hatten.
 
 
Sie gehen demnach mit sehr wenig Material in den Schnitt?
 
LUDWIG WÜST: Wenn ich zu drehen beginne, sehe ich vollkommen klar, wohin es geht. Da alles vorgedreht ist, gibt es ja bereits vorab eine Schnittfassung. Die korrigiere ich noch. Beim Dreh selbst gibt es praktisch keinen Zufall. Es wird am Set sehr wenig gesprochen. Wir tun, was zu tun ist.
 
 
Ihre Arbeitsweise erweckt den Eindruck, dass Sie für eine gewisse Zeit von einem Filmprojekt völlig absorbiert werden. Wie sieht Ihre Verfassung am Ende eines solchen Projektes aus? Wie oft schafft man eine solche Verausgabung?
 
LUDWIG WÜST: Im Fall von Aufbruch war es extrem. Ab dem Zeitpunkt, wo klar war, dass ich selbst vor der Kamera stehen würde, das war ein halbes Jahr vor Drehbeginn, war ich nicht mehr Teil des  „normalen“ Lebens. Ich war nur noch Teil des Films. Ich hatte meine täglichen Rituale, traf praktisch nur die Leute, die am Film mitwirken. Auf alle Fälle spreche ich mit Außenstehenden nie gerne über den Film. Das habe ich noch nie so konsequent durchgezogen, es hat auch noch nie ein Projekt für einen großen Zeitraum so sehr meine komplette Aufmerksamkeit abgezogen. Auch in den Wochen nach dem Dreh habe ich gar niemanden getroffen. Erst dann bin ich langsam wieder nach außen. Ich habe in dieser Zeit sehr stark das Schweigen gelernt. Ich glaube, die Leute begannen mich im Nachhinein anders zu sehen. Es war ihnen ein bisschen unheimlich. Ich wusste, dass der Film es brauchte, weil ich meine Sprache für den Film finden musste. Ich erlebe es so, dass es mit jedem Film schwieriger und nicht leichter wird, die Richtung des neuen Films zu definieren. Das Schweigen war essentieller Faktor. Eine radikale Lebensform. Wie wenig geht?, war die zentrale Frage.
 
 
Interview: Karin Schiefer
January 2018
 
«Die Straßen im Film sind kleine, nicht mehr benutzte Straßen, quasi übrig gebliebene Straßen, wie meine beiden Figuren im Film übrig gebliebene Menschen sind.»