INTERVIEW

«Sehen immer wieder neu lernen»

Von Winter auf Winter hat Othmar Schmiderer in Die Tage wie das Jahr eine kleine Biolandwirtschaft in seinen Fokus genommen, um aus nächster Nähe auf einen Arbeitsprozess in seinen Details und Wiederholungen einzugehen und sich mit einem selten gewordenen Arbeitsbegriff auseinanderzusetzen, der von Autonomie und Unabhängigkeit bestimmt ist.
 
 
 
Der Film Im Augenblick. Die Historie und das Offene aus dem Jahr 2013 ist eine philosophisch essayistische Entgegnung auf unsere Lebensweise, die die Frage nach den essentiellen Bedürfnissen anreißt und mit dem Schriftsteller Bodo Hell, jeden Sommer sehr zurückgezogen mit seinen Tieren in den Bergen lebt, auf ein alternatives Lebensmodell verweist. Wie sehr entstand Die Tage wie das Jahr als Konsequenz dieses Films?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Der Film Im Augenblick. Die Historie und das Offene war in Zusammenarbeit mit Angela Summereder entstanden und knüpft an eine frühere Arbeit an, nämlich an den Film Am Stein, den ich in den neunziger Jahren gemacht habe. Die neuere Auseinandersetzung mit dem Komplex Almwirtschaft hatte den Arbeitstitel „ziegen denken“. Bodo Hell hatte einmal gemeint: „Die Ziegen sind kurz vorm Sprechen“. Wenn sie dich anschauen, meint man, es ist so. Was (fragt man sich) geht in ihnen vor? Wir haben damit experimentiert, ihren neugierigen und sehr präsent wirkenden Blicken Texte zuzuschreiben, philosophische, denn diese Ziegen, mit denen wir zu tun hatten, schauen sehr philosophisch in die Welt. Jedenfalls war das unser Eindruck. Die Ziegen haben sich, als wir sie für Im Augenblick… filmten, in ihrem Habitus und ihrer Neugier, in ihrer Mimik und Bewegung wie Diven benommen. Dementsprechend haben wir einerseits nach Texten gesucht, die zu ihrer „Performance“ passen und andererseits die philosophischen Positionen zur Mensch-Tier-Beziehung ins Auge fassen. Deswegen auch der Titel: Im Augenblick. Der Blick der Ziegen war phänomenal. Es passiert etwas sehr Spezielles, wenn man sich wirklich darauf einlässt.
So viel zu diesem Anknüpfungspunkt. Die Tage wie das Jahr haben wir darüber hinaus aber auch als dokumentarische Antwort gesehen auf Filme, die die Thematik Landwirtschaft und Agrarindustrie behandeln. Es sollte ein Film werden ohne Statements, Interviews, Kommentar, es sollte eine Konzentration auf das Sehen geschaffen werden. Impulsgebend waren dafür auch die wunderbaren Essays über das Sehen von John Berger.
 
 
Welche zusätzlichen Überlegungen brachte die Begegnung mit dem Ehepaar Neuwirth und ihrer Lebensform in der Entstehung des Films ins Spiel?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Nachdem wir die beiden kennengelernt hatten und entdecken konnten, mit welcher Konsequenz sie ihre Arbeit verfolgen, war das für mich ein weiterer Beweggrund, meine eigene Konsequenz zu überprüfen. Wenn ich mir diese beiden Menschen anschaue, die seit dreißig Jahren ihre Landwirtschaft betreiben, ohne einen Tag Urlaub zu machen und eine vollkommene Identifikation mit ihrem Schaffen und Tun erreicht haben, dann wirft das eine sehr grundlegende Frage zum Begriff von Arbeit auf. Mir waren daher auch unkommentierte Bilder so wichtig, damit sie wirken können und man sich fragen kann, wie man selber mit dem Thema umgeht. Wie kann man so einem Arbeitsprozess filmisch gerecht werden, war eine der grundlegenden Fragen, die uns bei der Konzeptentwicklung beschäftigt haben. Daher arbeitet der Film z.B. sehr stark mit seriellen Sequenzen und dem Wiederholungsprinzip. Eine weitere Frage war dann auch, wie man eine dokumentarische Praxis erreicht, die in die Tiefe geht und andere Räume öffnet. Ich nehme im gegenwärtigen Produktions- und Vertriebsgeschehen eine starke Tendenz zur Info-Doku wahr und bedauere, dass ein cineastisches Dokumentar-Film-Kino zunehmend eine seltene Spezies mit sehr eingeschränkten Präsentationsplattformen wird. Obwohl wir gerade in Österreich bemerkenswerte VertreterInnen des Kino-Dokumentarfilms neben all den journalistischen Beiträgen hätten!
 
 
Stand somit eine formale Herausforderung am Beginn dieses Filmprojekts?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Ja, ich wollte es für mich selber wissen. Und ich wollte formal einen Kontrapunkt zu den letzten Filmen mit einer ähnlichen Thematik setzen. Es motivierte mich, auf eine Filmsprache zu vertrauen und auf Kommentare, Interviews und Erklärungen zu verzichten. Ich denke, es passiert im Publikum etwas anderes, wenn man mehr Raum zur Betrachtung, zum Sehen, zur eigenen Assoziation und Interpretation lässt. Meiner Ansicht nach gibt es derzeit zu viele Filme, die einem die Welt erklären! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, über das Sehen und das Sich-Einlassen eine andere Wahrnehmung herzustellen und auch ein anderes Rezipieren ermöglichen. In gewissem Sinne einen Kontrapunkt zu einer vordergründigen Fernsehästhetik setzen.
 
 
Wie kam es, dass Sie Ihren Fokus nur auf dieses Paar setzen wollten?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Wir sind dank Bodo Hell auf sie gestoßen, haben sie besucht und waren sofort von diesem Mikrokosmos fasziniert. Die Einfachheit der Produktionsmittel, die Ernsthaftigkeit, mit der die beiden ihre Arbeit verrichten hat uns beeindruckt. Es war dann ein längerer Prozess, die beiden zu überzeugen und für dieses Filmprojekt zu gewinnen. Sie waren anfangs eher skeptisch, haben dann aber zugestimmt und es entstand eine relativ lange Zusammenarbeit und letztlich auch Freundschaft. Sowohl das Thema als auch unser Zugang haben einen großzügigen Umgang mit Zeit verlangt.
Gottfried Neuwirth, 1986 österr. Meister im Marathonlauf und Elektromeister, hat aus seinem damaligen Leben eine Konsequenz gezogen und den Wunsch nach einem unabhängigen Leben in die Tat umgesetzt. Er hat ein altes, ziemlich verfallenes Bauernhaus gekauft und renoviert, sich tiefgreifend mit der Materie des Landwirtschaftens auseinandergesetzt und gemeinsam mit seiner Frau Elfi über 30 Jahre hinweg diese Art von Landwirtschaft aufgebaut. Abgesehen von der formalen Herausforderung, ging es uns auch darum zu zeigen, dass es auch „anders“ geht. Kleinbauern können entgegen offizieller Behauptungen sehr gut überleben. Unsere Protagonisten wurden z.B. lange im Dorf belächelt, jetzt sind sie diejenigen, die unabhängig von Bankkrediten sehr gut und einträglich leben können. Eine kleinteilige Landwirtschaft, wenn sie clever gemacht ist, ist definitiv individuell und global eine Alternative.
 
 
Die Lebensweise, wie man sie in DIE TAGE WIE DAS JAHR entdecken kann, bringt eine alte, archaische Welt mit einer modernen, maschinenunterstützten Welt zusammen. Hier sind auch interessante Spannungen entstanden.
 
OTHMAR SCHMIDERER: Es war uns von Beginn an wichtig, niemals in eine falsche Idylle oder in ein Aussteigerepos abzugleiten. Es gilt zu zeigen, wie viel Arbeit das bedeutet, darüber hinaus soll es ein Beispiel dafür sein, dass man mit knappen Ressourcen und einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie auf eigenen Beinen stehen kann und einen Kontrapunkt zur industriellen Agrarwirtschaft setzen kann, von der man weiß, wie schädlich ihre Auswirkungen langfristig sind. Die kleinteilige Landwirtschaft ist selbst heute noch weltweit die am weitesten verbreitete. Studien beweisen, dass man in Österreich und auch weltweit mit Biolandwirtschaft überleben und nachhaltige positive Effekte auf die Menschen und den Planeten erzielen könnte.
 
 
In einem Text zum Film verweisen Sie auf John Berger und die Frage, wie man als Filmschaffender der Konsequenz des Handelns der Protagonisten gerecht werden kann? Inwiefern hat das Ihre Bildersuche geprägt, zunächst auch in der Entscheidung den Jahreszyklus als Grundstruktur zu wählen?
 
OTHMAS SCHMIDERER: Die Jahresstruktur hat mit Rhythmus zu tun. Will man sich mit dieser Form der Landwirtschaft aus nächster Nähe auseinandersetzen, dann muss man sie in ihrer rhythmischen Struktur begreifen. Der Film beginnt mit der Geburt der Tiere im Winter und am Ende kehren wir wieder zum Winter zurück. Formal filmisch hat mich das Prinzip der Wiederholung fasziniert: Es muss täglich gemolken, alle zwei Tage gekäst werden usw. Alle Handgriffe sind Teil von sich wiederholenden Tätigkeiten. Wer stellt sich heute noch die Frage, was es bedeutet, Milchprodukte in dieser Qualität herzustellen? Für mich war von Beginn an klar, dass ich die Arbeitsabläufe unserer Protagonisten ein Jahr lang beobachte und über die Jahreszeiten hinweg mitgehe, um auch die Faktoren Zeit und Raum entsprechend zu erfassen. Es war eine intensive Erfahrung und Auseinandersetzung für mich, Menschen zu begleiten, die eine Arbeit haben, mit der sie vollkommen ident sind. Wie viele Menschen können das heute von sich sagen?
 
 
Arbeit bedeutet in diesem Fall manuelle Tätigkeit. Wie sind Sie unter der Prämisse der Konsequenz in der Bildersuche vorgegangen, wo es sehr viel darum ging, den Handgriffen, die oft mit bloßen Händen ausgeübt werden, zu folgen?
 
OTHMAR SCHMIDERER: In erster Linie habe ich mich in diesen Wiederholungsrhythmus eingegliedert, verbrachte sehr viel Zeit im täglichen Ablauf. Das Prinzip der Wiederholung verlangte differenzierte Perspektiven, die gefunden werden mussten. Wie wählt man die richtige Cadrage? Wie rhythmisiert man die Abläufe? Das waren die Fragen, mit denen wir uns beim Dreh und speziell in der Montage beschäftigt haben. Die zahlreichen Wiederholungen, die den Film bestimmen, sind immer wieder aus anderen Blickwinkeln aufgenommen. Ich habe sehr viel Zeit dort verbracht, ohne meine Kamera einzuschalten, sondern nur um zu schauen. Das Sehen immer wieder neu zu lernen, war eine entscheidende Aufgabe. Wie erfasst man etwas? Wie schaut man hin?
 
 
Wie sind Sie den Tieren begegnet? Welche Faszination übt die Physiognomie der Tiere aus?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Das ist eine ganz eigene und ganz besondere Sache. John Berger sagt, „der Mensch wird sich erst in der genauen Betrachtung des Tieres seiner selbst bewusst“. Die Kommunikation und die Prozesse, die zwischen Elfriede und Gottfried und den Tieren non-verbal ablaufen, sind etwas sehr Besonderes, neben den Tätigkeiten des Alltags. Blick in Blick mit einem Tier zu sein, bedeutet, wie gesagt, in eine ganz eigene Sphäre zu gelangen, die schwer zu beschreiben ist. Es ist eine Art von Dialog da, man spürt etwas, es eröffnet einen archaischen Raum. Das hat viel mit Konzentration und der Bereitschaft zu tun, sich einzulassen. Wenn dieser Moment eintritt, in dem man das Gefühl bekommt, mit Tieren im Dialog zu sein und sie vielleicht sogar zu verstehen. Das sollte im Film immer wieder durchblitzen. Besonders auch im Montageprozess ging es darum – niemals vordergründig aber doch – ein Augenmerk auf die Kommunikation zwischen den Menschen und Tieren zu setzen.
 
 
„Ich bin ein Hirte. Ich behüte mein Land“, sagt Gottfried eingangs im Film. Was trägt dieser Satz alles in sich, um ihn so prominent an den Anfang zu stellen?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Die beiden Protagonisten in Die Tage wie das Jahr haben sich sehr intensiv mit biologischer Landwirtschaft auseinandergesetzt und haben ein sehr breites Wissen, was Anbau, Tierhaltung etc. betrifft. Ihre Beziehung zur Natur, zu den Tieren sprechen für sich, sie sind ident mit ihren Handlungen und insofern auch im wahrsten Sinne Behüter ihres Landes!
Der Satz verdichtet den Anspruch und die Ausrichtung ihrer Arbeits- und Lebensweise.
Es ging uns im Film nicht um Biographisches oder speziell die Bio-Landwirtschaft, sondern um den Mikrokosmos dieser speziellen Arbeit.
 
 
Schaut man auf Ihre letzten filmischen Arbeiten, so lässt sich feststellen, dass Sie sich in Ihrer Themenwahl oft mit dem Nahe-Liegenden auseinandergesetzt haben. Wie kommt es zu dieser Wahl?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Das ist eine zutreffende Beobachtung, die etwas mit meiner eigenen Sehnsucht zu tun hat. Es fasziniert mich, ein mehr oder weniger unabhängiges Leben zu führen. Meine beiden Protagonisten leben das vor. Sie sind weitgehend autonom mit einem kleinen Hof mit zehn Hektar und einigen Schafen und Ziegen. Ein Kontrapunkt zur Agrarindustrie, deren ressourcenzerstörende Folgeschäden vielerorts inzwischen unumkehrbar scheinen.
Ich habe zuvor sehr viel in Afrika gedreht, bin dort auch an meine Grenzen gestoßen und an die Frage gelangt, wie weit man letztlich trotz aller Reflektiertheit schnell in eine gar nicht intendierte postkolonialistische Rolle als FilmemacherIn gerät? In diesem Film wollte ich mich mehr damit auseinandersetzen, was im eigenen Umfeld, vor Ort ein sinnvolles und nachhaltiges filmisches Sujet sein könnte.
 
Sie haben mehrfach auf das Thema des Seriellen in dieser Beobachtung hingewiesen und auch auf die Bedeutung des Faktors Zeit. Waren dies auch die bestimmenden Faktoren im Schnittprozess?
 
OTHMAR SCHMIDERER: Ich habe mich beim Drehen sehr diszipliniert, statt einfach draufloszudrehen, sondern sehr genau überlegt, wie und was ich drehe. Erstaunlich schnell ist dann die Montage mit Arthur Summereder vorangegangen. Er war mir ein konstruktiver Dialogpartner und gutes Regulativ mit seinem jungen, erfrischenden Blick von außen auf das Material. Wir sind sehr schnell in einen guten Rhythmus gekommen. Eine lange Diskussion ergab sich noch, ob das eine oder andere Zitat oder Essay in den Film sollte oder nicht. Braucht man noch eine Erklärung, einen Hinweis, oder erzählt sich das ohnehin. Letztlich blieben wir konsequent und vertrauten der Bildsprache und Montage. Für diese Auseinandersetzung bin ich meinem Cutter Arthur Summereder auch dankbar. Weniger ist mehr.
 
 
Der Film ist in einem sehr kleinen Team entstanden und vertritt somit beinahe ein paralleles Modell zu dem, was der Film erzählt.
 
OTHMAR SCHMIDERER: Ja, das war von Beginn an klar, dass dieser Film nur in einem kleinen Team entstehen konnte; ganz oft habe ich überhaupt alleine gedreht. Es macht einen großen Unterschied, und es wird einem bewusst, wie sehr man alleine mit der Kamera einen anderen Raum, eine andere Atmosphäre schafft, als wenn ein größeres Team am Drehort ist. Rein ökonomisch betrachtet, kann man länger drehen, wenn man alleine oder mit kleinem Team arbeitet. Es ist ja ein „kleiner“ Film, der in sich stimmen muss. Will man speziell bei einer dokumentarischen Arbeit weiter in die Tiefe vordringen, dann ist meines Erachtens dieser Zugang unumgänglich bzw. Voraussetzung –‚ für mich zumindest.

Interview: Karin Schiefer
Oktober 2018
 
 
 
«Es war eine intensive Erfahrung und Auseinandersetzung für mich, Menschen zu begleiten, die eine Arbeit haben, mit der sie vollkommen ident sind. Wie viele Menschen können das heute von sich sagen?»