INTERVIEW

«Online-Begegnungen haben viel mit eigenen Projektionen zu tun.»

In Gregor Schmidingers Spielfilmdebüt Nevrland verlieren sich zwei junge Männer in einem Labyrinth zwischen Kindheit und Erwachsen-Werden, zwischen Virtualität und Wirklichkeit, bis er seine Protagonisten Jakob und Kristjan, beide Sprosse der Generation Y, auf einen angsteinflößenden Tauchgang in die eigenen Tiefen schickt.
 
 
Arbeiten von Ihnen sind mit dem Label Irrational Realm signiert, im Vorspann bezeichnen Sie NEVRLAND nicht als Irrational Realm film, sondern als Irrational Realm experience. Welchen Unterschied macht diese Nuance? Was bedeutet dieser Begriff der „experience“ grundsätzlich für Ihren Ansatz zum Filmemachen?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Ich glaube, dass gerade das Medium Film die Möglichkeit hat, im Zuschauer eine multisensorische Erfahrung, die über das rein Emotionale hinausgeht, zu provozieren. Ein Feedback, das nach der Weltpremiere in Saarbrücken mehrfach zurückkam, ging in die Richtung, dass NEVRLAND mehr ist, als „nur“ ein Film. NEVRLAND beginnt als Sozialdrama, gegen Ende hin wird es nicht-sprachlich, wirft klassische Konventionen der Dramaturgie über Bord und wird zum Erlebnis. Es ging mir zum einen darum, die ästhetische Erfahrung einer künstlerischen Arbeit herauszuarbeiten, zum anderen spielt auch meine eigene Lebenserfahrung in diesen Film hinein. Auf diesen beiden Ebenen bewegt sich NEVRLAND. Auf der sensorischen Erfahrungsebene im Filmemachen zu arbeiten, ist jedenfalls etwas, was mich interessiert und was ein Charakteristikum für meine persönlichen Arbeiten sein könnte.
 
 
Mitte Jänner 2019 haben Sie Ihren ersten Langfilm NEVRLAND beim Max Ophüls Preis-Festival in Saarbrücken präsentiert und dafür den Preis der Jugendjury bekommen. Wie haben Sie diese Begegungen mit dem Publikum bei den ersten Screenings von NEVRLAND erlebt?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Für mich war es zunächst eine spannende Erfahrung, Menschen mit dem Film zu konfrontieren, die gar nichts mit dem Projekt zu tun hatten und den Film völlig unvoreingenommen gesehen haben. Auffallend war, dass es mit zunehmender Dauer des Films immer ruhiger im Publikum wurde. Nach der Szene am Ende, in der Jakob seinen Atem anhält, hatte man das Gefühl, dass es erst mit dem Einsetzen des Abspanns ein kollektives Ausatmen gab. Der Film geht vielen sehr nahe, manche haben gegen Ende hin den Saal auch verlassen, weil er punkto Lautstärke, stroboskopisches Licht und schnelle Schnitte, sehr intensiv ist. Die Resonanz war sehr positiv. Leute kamen auf mich zu, wollten über eigene Erfahrungen sprechen, erzählten, wie sie Verbindungen zum eigenen Leben herstellen konnten oder wie sehr der Film unter Freunden Gesprächsstoff lieferte. NEVRLAND ist für manche gewiss ein ermutigender Film und die Menschen, die sich nicht mit Jakob identifizieren konnten, bekamen ein Gefühl dafür, wie sich solche Angstzustände anfühlen können. Sehr berührend war eine ältere Frau, die von ihrem Enkel erzählte, der sich das Leben genommen hat und die wünschte, ihr Enkel hätte den Film gesehen, um zu entdecken, dass er mit seinen Empfindungen und Ängsten nicht allein war. Bei all den Rückmeldungen war immer sehr viel Energie dahinter. Es scheint ein Film zu sein, der einen nach der Vorstellung noch länger begleitet und in einem noch weiterwächst.
 
 
Der Einstieg in den Film ist sehr knapp und intensiv: der kraftvolle Lauf durch den Wald, der einem Ausbruch gleichkommt, der befreiende wie waghalsige Sprung ins Wasser und das Eintauchen in die Tiefe: Ist hier verknappt in wenigen Bildern das Wesen des Films vorweggenommen?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Ich denke, ja. Einerseits werden hier Jakobs Sehnsüchte etabliert – sein Wunsch nach Freiheit und Lebendigkeit. Das Wasser repräsentiert sehr stark das Emotionsbehaftete, das, wovor er immer davonlaufen muss und er springt in den Gefühlssee hinein. In das, was das Leben zum Leben macht und auch den Schmerz zulässt. Diesen Sprung hat Simon Frühwirth übrigens selbst gedreht. Er ist aus fünf Meter Höhe in den See gesprungen und das für den Dreh gleich mehrere Male. Das war sehr bezeichnend für Simon. Er war beim Dreh 17, hatte noch nie zuvor in einem Film mitgespielt und stand am zweiten Drehtag bereits in einem Schlachthof vor der Kamera. Es gab immer wieder Momente, wo wir das Gefühl hatten, eine Grenze zu erreichen, aber die konnte in kleinen Schritten immer wieder ausgeweitet werden.
 
 
Ein weitere Preis beim Max Ophüls Preis-Festival ging an Simon Frühwirth als besten Nachwuchsdarsteller. Was war ausschlaggebend, dass er die Rolle bekam? Wie hat er sich im Laufe der Dreharbeiten entwickelt?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Es gibt kaum eine Einstellung, wo Simon Frühwirth nicht dabei war. Wir haben im nicht-professionellen Bereich sehr breit bei 15 bis 19/20-Jährigen über Facebook und Instagram zum Casting aufgerufen und eine starke Rückmeldung bekommen. Das erste Casting bestand aus einer Improvisationsübung, wo auf einem Zettel kurz die Situation und die Gefühlslage der Figur beschrieben wurde. Es hat sich dabei rasch herauskristallisiert, dass Simon ein unheimliches Talent hatte, sich in Situationen und Figuren hineinzuspüren. Ich glaube, dass ist seine besondere Stärke, außerdem geht er sehr unbeschwert an die Sache heran und er ist Schlagzeuger, er hat somit nicht nur ein gutes Rhythmusgefühl, sondern versteht es auch, auf andere zu hören und mit ihnen in Dialog zu treten. Wir haben weniger szenische Proben durchgeführt, sondern sehr viel über die Figur gesprochen. Am ersten Drehtag hat ihn der Umstand mit 30 Leuten am Set zu sein, schon ziemlich nervös gemacht, das war aber sehr schnell vorbei. Dinge wie auf Anschluss zu spielen, sich in der Bewegung vor der Kamera auf verschiedene Einstellungsgrößen anzupassen, das hat er sich sehr schnell angeeignet. Ob aus 5m Höhe ins Wasser zu springen, im Schlachthof zu spielen, war alles kein Thema für ihn, allein das Füttern des Leguans hat ihn einige Überwindung gekostet.
 
 
Jakob, die Hauptfigur in NEVRLAND, hat gerade maturiert und hat vor, Astronomie zu studieren. Als Ferienjob arbeitet er bei seinem Vater im Schlachthof? Was hat Sie bewogen, diese beiden außergewöhnlichen Bereiche in die Erzählung einzubauen?
 
GREGOR SCHMIDINGER: In meinem ersten Drehbuchentwurf vor ca. sechs Jahren hat Jakob noch in einem Buchladen gearbeitet ... Jakob leidet an einer Angststörung, die aber keine physiologische Grundlage hat, sondern sich durch ein nicht aufgearbeitetes Kindheitstrauma begründet: Angst verlassen zu werden, Angst vor Gefühlen. Das wiederum erklärt seine Faszination fürs Intellektuelle und Abstrakte und damit die Astronomie. Das Weltall ist ein Ort, den kaum ein Mensch kennt und es steht auch für Jakobs Sehnsucht, möglichst weit weg von zu Hause zu sein. Es verbindet den Wunsch nach Weite und Freiheit mit dem Intellektuellen, das nichts mit dem Körper zu tun hat. In diese Überlegung spielt dann auch der Schlachthof hinein, der nicht nur ein extrem körperlicher Ort ist, auch der Tod ist allgegenwärtig und verweist auf die menschliche Urangst schlechthin. Durch den Schlachthof wollte ich Jakob mit einer Situation konfrontieren, die ihm kein Entkommen erlaubt. Dazu kommt noch die Erfahrung, dass mein Vater Fleischhauer war und ich diese Atmosphären in meiner Kindheit erlebt habe.
 
 
Ein weiteres wesentliches Thema des Films geht auf den Konflikt zwischen Virtualität und Realität ein, in dem diese Generation zu sich finden muss.
 
GREGOR SCHMIDINGER: Gerade schwule Männer haben mir bestätigt, wie oft sie diesen ersten Chatverlauf, so wie er in NEVRLAND gezeigt ist, erlebt haben. Da läuft praktisch ein Skript ab, das sich ständig reproduziert. Online-Begegnungen haben viel mit eigenen Projektionen zu tun. Man bekommt ja nur vereinzelte Informationsfetzen von einer Person und alle Blindflecken füllt man mit dem aus, was man gerne hätte. In NEVRLAND wird zu Beginn vermeintlich diese Sehnsucht erfüllt, was in der Realität nur sehr selten der Fall ist. Die Fallhöhe wird im Film erst später spürbar, wenn der Traum platzt und nur mehr der existentielle Alptraum bleibt, durch den Jakob durch muss. Ich habe das Gefühl, dass dieser Gap zwischen Realität und Phantasien ein großes Thema unter jungen Leuten ist. Ich denke nur an Tinder, wo man sich innerhalb von Sekunden entscheiden muss, ob man an einer Person interessiert ist; diese Person hat sich aber dargestellt, wie sie sein möchte und nicht unbedingt, wie sie wirklich ist. Das Ziel dieser Apps ist ja nicht, das Partner zueinander finden, sondern die Suche möglichst lange aufrecht zu erhalten. Im Grunde ist es eine Dopaminmaschine, an der man hängen bleibt. Es könnte ja immer noch besser werden. Man ist nicht daran interessiert, einen Menschen wirklich kennenzulernen, sondern an der Frage „Was kann der Mensch für mich in körperlicher, emotionaler oder sozialer Hinsicht?“ Die Persönlichkeit des Menschen selbst wird nicht mehr wahrgenommen, weil alles so flüchtig ist. Um jemanden kennenzulernen, müsste man sich Zeit nehmen. Kristjan, den Jakob bei einem Chat kennenlernt, ist ein äußerlich vollkommen perfekter Typ. Er ist von Jakobs Feuermal, also von einem Makel, total fasziniert. Das Bemühen, konstant perfekt zu sein, ist sehr anstrengend und wenn man in diesem Prozess gefangen ist, ist die Sehnsucht da, einmal loslassen zu können. Jakob kann das. Er hat z.B. keine Berührungsängste, mit seinem kranken Großvater umzugehen.
 
 
Sie bewegen sich im Verlauf von NEVRLAND vom narrativen Erzählen in einen eher introspektiven Teil, weg von einer Handlungsfolge zu inneren Zuständen. Wie kann man sich dafür die Bildersuche vorstellen?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Ich gehe da sehr konzeptuell heran und versuche, Übersetzungen in Symbole zu finden wie z.B. das brennende Wohnzimmer. Für mich ist Feuer ein Symbol für die Wut, die Jakob sich selbst nicht zugesteht und die konstant unterdrückt wird. Am liebsten würde er seinen Vater anschreien und sagen: „Nimm mich endlich wahr!“ Das überquellende Wasser im Badezimmer steht ebenfalls für die aufgestauten Gefühle, die ihn plötzlich überschwemmen. Das Vibrieren in den Bildern hat mit dem Beginn einer Angstattacke zu tun, wenn der Körper zu zittern anfängt. Ich versuche Metaphern zu finden, die diese Zustände zum Ausdruck bringen. Vieles stand bereits im Drehbuch, mit meinem Kameramann Jo Molitoris ging es dann um die detailliertere Ausarbeitung, d.h. praktische Umsetzung einerseits, Komposition andererseits. Es war eine Schicht-für-Schicht-Arbeit, wo nach und nach Dinge hinzugefügt worden sind; manches hat sich erst am Set ergeben, wo ich auch gelernt habe, dass ein gewisses Maß an Vertrauen notwendig ist und ich nicht alles zu 100% kontrollieren muss. Es gefallen mir jetzt Dinge, die am Set nicht unbedingt funktioniert haben und für die wir kurzfristig umdisponieren mussten. So konnte etwas organisch entstehen. Grundsätzlich haben wir uns vorgenommen, einen Film über die Dunkelheit zu machen, das bestimmte auch unseren sparsamen Einsatz von Licht, es spielten auch sehr viele Szenen abends oder nachts. Unsere visuelle Referenz war David Finchers Seven. Ich habe die Dunkelheit für notwendig befunden, um die Wahrnehmung der Schichten und Nuancen zu ermöglichen und auch, um einen Kontrast zu den Bildern aus der Natur zu schaffen.
 
 
Geht mit den ersten Screenings von NEVRLAND auch schon die Arbeit am nächsten Projekt los?
 
GREGOR SCHMIDINGER: Es gibt ein paar Möglichkeiten. Auf alle Fälle möchte ich meine Zusammenarbeit mit der Orbrock Filmproduktion weiterführen, die für NEVRLAND ganz außergewöhnlich gewesen ist. Ich möchte sehr gerne weiter im Kinospielfilm arbeiten. Thematisch beschäftigen mich mehrere Dinge. Das ist zur Zeit noch ein Puzzlespiel. Ich denke, es wird sich im nächsten halben Jahr entscheiden.


Interview: Karin Schiefer
Jänner 2019
Ich habe das Gefühl, dass der Gap zwischen Realität und Phantasien ein großes Thema unter jungen Leuten ist. Ich denke nur an Tinder, wo man sich innerhalb von Sekunden entscheiden muss, ob man an einer Person interessiert ist; diese Person hat sich aber dargestellt, wie sie sein möchte und nicht unbedingt, wie sie wirklich ist. Das Ziel dieser Apps ist ja nicht, das Partner zueinander finden, sondern die Suche möglichst lange aufrecht zu erhalten. Im Grunde ist es eine Dopaminmaschine, an der man hängen bleibt.