INTERVIEW

Jessica Hausner im Gespräch über  LOVELY RITA

 

«Was geht in diesem Mädchen vor. Weiß die, was sie da getan hat? Kann sie sagen, dass sie es bereut? Welche Möglichkeiten gibt es, so eine Tat zu beschreiben oder in irgendein Wertesystem einzuordnen? Das ist genau die Frage, die der Film stellt.» Jessica Hausner über Lovely Rita.

 

Ritas Geschichte hat einen durchaus realistischen Hintergrund: Es hat damit begonnen, dass ich einen Fall finden und eine Geschichte machen wollte über ein Mädchen, das einen Mord beging. Es gibt ein Klischee von Mördern, dass es meistens junge Männer sind. Frauen sind seltener Mörder. Mich hat der Gegensatz einerseits junges Mädchen und andererseits extreme Gewalttat interessiert. Wie entstand die Figur der Rita?

JESSICA HAUSNER: Ich hab am Jugendgerichtshof recherchiert und stieß auf diesen Fall, der am ehesten zutraf, von einem jungen Mädchen aus gutem Haus, das in die Klosterschule ging, in einem Einfamilienhaus lebte, eigentlich alles o.k war. Sie hat dann ihre Eltern erschossen. Ich hab die ganzen Unterlagen, die Interviews, die psychologischen Gutachten analysiert, die immer wieder von Umständen in der Familie sprechen – ein autoritärer Vater und eine ziemlich meinungslose Mutter, Pubertät und erster Freund, Schule schwänzen und immer Nein sagen. Dass sie dann ihre Eltern umbringt, ist, glaub ich, zum Teil auch ein Zufall gewesen. Die Waffe vom Vater ist auf der Küchenkredenz herum gelegen, es gab gerade einen Streit und sie hat die Waffe genommen und abgedrückt. Das ist einer der wesentlichen Punkte, worum es mir bei Lovely Rita geht: Diese Mischung aus Absicht und Zufall, dass die Grenzen verschwimmen und dass sich das ganze Geschehen einer Beurteilung entzieht. Es ist nicht mehr einteilbar in Richtig und Falsch.

 

Die Figuren in Ihren Filmen sind meist sehr stille in sich gekehrte Charaktere, mit einer sehr verinnerlichten Gewalt, die sich meist sehr impulsartig und unerwartet nach außen kehrt.

JESSICA HAUSNER: Es hat sehr viel mit unterschwelligen, verborgenen und gezügelten Impulsen zu tun. Der Unterschied zwischen der Oberfläche dieses Kleinbürgerdaseins und dem, was dahinter ist. Ein gutes Beispiel ist die Geburtstagsfeier, die ist für den Vater eigentlich ganz Schön ist, gleichzeitig ist diese Schönheit so gebrochen, dass man spürt wie schon alle Leichen unter dem Teppich liegen. Für die Mutter ist es wichtig, Rituale aufrecht zu erhalten, das ist schon schön und gleichzeitig ist es auch unheimlich leer. Es ist wie ein Escher-Wechselbild. Rita ist eine Figur mit der man in gewisser Weise Mitleid empfinden kann, weil sie einer derartigen Grausamkeit begegnet, "lovely" ist sie aber in keiner Weise – sie lügt, sperrt ihre Rivalin in die Theatergarderobe, entführt den kranken Fexi. Ihre Grenzüberschreitungen steigern sich nach und nach.

 

Hat sie ein Empfinden für unrechtes Handeln?

JESSICA HAUSNER: Ich würde sagen, diese Frage ist die Frage des Films. Was geht in diesem Mädchen vor. Weiß die, was sie da getan hat? Kann sie sagen, dass sie es bereut? Welche Möglichkeiten gibt es, so eine Tat zu beschreiben oder in ein Wertesystem einzuordnen. Das ist genau die Frage, die gestellt wird, wenn sie sich umdreht und sie in die Kamera schaut. Wenn es funktioniert, muss sich der Zuschauer mit dieser Frage herumschlagen. Ich glaube es ist sehr schwer, darauf eine Antwort zu geben. Unweigerlich kommt einem Hanekes Bild von der "seelischen Vergletscherung" in den Sinn. Darüber weiß ich sehr wenig, meine Sachen sind immer sehr persönlich, aus einem Empfinden und einem Bedürfnis heraus geschrieben. Ich kenne diesen Begriff nicht, ich glaube ich bin ganz einfach zu jung dafür. Ich hab selber genug Wünsche und Sehnsüchte. Ich hab nur sehr stark das Gefühl, dass Dinge, die mit Wärme und Nähe zwischen Menschen zu tun haben, oft nicht möglich sind. Man glaubt, für einen Moment, einem Menschen nahe zu sein, was sich aber als eine Illusion erweist oder nur von kurzer Dauer ist. Das ist auch ein Thema in Lovely Rita, diese unheimliche Sehnsucht nach Nähe und dass sie aus verschiedenen Gründen nicht erreichbar ist.

 

Die emotionale Kälte kommt auch in der Farbigkeit des Filmes sehr stark zum Ausdruck, es ist einerseits das weiß-blau-grau der Winterlandschaft im Kontrast dazu sehr kräftige, aber auch sehr kalte Farben.

JESSICA HAUSNER: Wir haben ganz grelle Farbe verwendet. Es war die Absicht das bunt zu machen, gerade in so ABC-Farben – rot, grün, gelb, blau. Das ist der Punkt, wo ich eine gewisse Stilisierung einbringen wollte, auch Teile von der Auflösung, auch die Zooms und die Mehrkameratechniken sind solche Elemente, die eine Art Stilisierung und damit einen Gegensatz zum Realismus schaffen, der daher rührt, dass ich auf Video und mit Laien gedreht wurde.

 

 Der Kameraarbeit kommt eine besondere Rolle zu?

JESSICA HAUSNER:  Ich hab also sehr lange vorher mit dem Kameramann Martin Gschlacht begonnen, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir das lösen werden. Vom Gefühl her ist es darum gegangen, dem Realismus etwas entgegenzusetzen, z.B. die bewusst gesetzten Zooms. Die Kameralösung ist schließlich sehr intuitiv und ich glaube, wenn ich das zu erklären versuche, dann so, dass es der Versuch war, der Realität ihren allgemeinen Charakter zu entlocken. Ich erzähle nicht nur von der konkreten Rita mit ihren konkreten Problemen, sondern auf gewisse Weise etwas Allgemeines, Zeitloses. Man kann den Film ja zeitlich schlecht einordnen, allein die Kostüme und Dekors sind ein Konglomerat aus den letzten 20 Jahren.

 

Welche Rolle spielt das Theaterstück Ein Inspektor kommt, warum fiel die Wahl auf dieses Stück?

JESSICA HAUSNER:  Ich hatte verschiedene Stücke ausgewählt, auch symbolträchtigere - Sartres Die Fliegen z.B. Die Fliegen sind ja noch übrig geblieben, am Schluss in der Szene im Wohnzimmer, das hätte mir gut gefallen, wenn man diesen Zusammenhang gehabt hätte. Aber die Fliegen bei Sartre sind ja die Erinnyen, die Rachegöttinnen, Rita hat aber kein schlechtes Gewissen. Außerdem wollte auch nicht eine allzu philosophische Aussage machen. Es war mir schließlich lieber, ein Stück zu nehmen, das jeder kennt und jeder gelesen hat. Gleichzeitig hat das, was darin vorkommt, mit dem Film zu tun, insofern als es um Schuld im weitesten Sinn geht. Eine Frau begeht Selbstmord, der Inspektor kommt in die Familie, die eigentlich eine weiße Weste hat und zeigt im Laufe des Stückes auf, dass sie alle am Selbstmord schuld sind, weil sie alle machtgierig, egoistisch und gemein sind.

 

Die Sprache ist sehr authentisch Wienerisch.

JESSICA HAUSNER:  Das hängt mit dem speziellen Gefühl für Wirklichkeit zusammen, das ich in einem Film schaffen möchte - dieses uneindeutige, seltsame, vielschichtige Gemisch an verschiedenen Wahrheiten die gleichzeitig passieren. Um das erzählen zu können, hatte ich eben Lust, mit Laien zu arbeiten. Laien sind sich ihrer selbst nicht so bewusst, kontrollieren und stilisieren sich selber nicht so. Professionelle Schauspieler haben eine Präzision, die ich vermeiden wollte. Bei einem Laien kann das einfach eher passieren, dass er in einem Moment etwas sehr Gescheites und im nächsten Moment wieder etwas Dummes sagt. Er ist einerseits lustig, andererseits traurig, er hat den ganzen Fächer an Wahrheiten, die gleichzeitig existieren. Ich hatte das Gefühl, das mit Laien eher erzeugen zu können. Deshalb hab ich denen auch zunächst genügend freien Raum gelassen und die Sprache, die sie haben, die haben sie ganz einfach.

 

Wie aufwändig war es, die richtigen Leute zu finden?

JESSICA HAUSNER:  Ja unglaublich, wir haben sehr lange gesucht. Rita haben wir ewig gecastet, ich glaub sie war die 559. Bei ihr war es besonders wichtig, den richtigen Typ zu finden, die den komischen Wahnsinn spielen kann. Bei den Erwachsenen ging es eher darum, überhaupt jemanden zu finden, der spielen kann.

 

Wie habt ihr gesucht?

JESSICA HAUSNER: In erster Linie bin ich unterwegs gewesen und hab die Leute auf der Straße angesprochen. Die meisten haben natürlich gesagt, sie interessieren sich nicht oder hätten keine Zeit. Den Vater hab ich auf einem Schulball gefunden, wo ich eigentlich wegen der Kinder war, die Mutter kam auf eine Annonce hin. Es hat jedenfalls unheimlich viel Zeit und Energie gekostet. Es hieß für mich, monatelang solche seltsamen Events aussuchen. Messen und so. Schrecklich.

 

Es war immerhin Ihr erster Langspielfilm, das Arbeiten mit Laien stellt sicherlich besondere Ansprüche an die Schauspielführung.

JESSICA HAUSNER: Ein sehr wesentlicher Punkt ist diese Art von Realismus. Eigentlich probe ich nicht viel. Ich bin so vorgegangen, dass ich versucht habe, alle die Leute zusammenzufinden, die von vornherein mitbringen, was ich benötigte. Dann ist es möglich, die einfach aufeinander loszulassen und in dem Augenblick kann etwas entstehen. Darum ist es gegangen, dass ich als Regisseurin diese Leute nicht von Anfang an in eine bestimmte Bahn lenke, sondern es sollte so eine Art Urknall sein, was da zwischen denen passiert. Natürlich ist es dann schon so, dass wir jede Szene sehr oft gedreht haben, um die Sachen, die sie eingebracht haben, auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir haben alles mitgedreht, das war einer der Gründe, dass wir alles auf Video gedreht haben, der zweite, weil Video auch viel kälter ausschaut als Film.

 

Drehen Sie gerne?

JESSICA HAUSNER:  Ich drehe gern, für mich ist das der Hauptspass. In der Drehbuchphase mag ich am meisten das Sammeln des Materials. Niederschreiben ist immer eine Mischung, da braucht man viel Sitzfleisch, das hab ich nicht immer. Beim Drehen da ist Action, das mag ich.

 

Was für ein Gefühl ist es nun, mit dem ersten Langfilm in Cannes zu landen?

JESSICA HAUSNER: Man muss das natürlich trennen, ich persönlich und ich als Produzentin. Persönlich bin ich total neugierig, wie dieser Film bei einem mir vollkommen unbekannten Publikum funktioniert. Wir haben viele Previews auch in Deutschland gemacht, das war aber immer eine überschaubare Gruppe, wo sehr genau über die dramaturgische Seite geredet wurde. Aber zu sehen wie Leute reagieren, die als Zeitvertreib ins Kino gehen, das ist sehr spannend und natürlich ist es toll für mich, dass er auch international auf einem Festival läuft.

 

Ist internationales Arbeiten aufgrund der budgetären Situation in Österreich eine Notwendigkeit geworden?

JESSICA HAUSNER: Dass man gezwungen ist, international zu arbeiten, das ist ja gut, das sollte man auch tun, wenn man in Österreich die Budgetmittel nicht so drastisch kürzen würde. Man streckt die Fühler in andere Gebiete aus. Als coop 99 haben wir es gut, weil wir nichts zu verlieren haben. Wir haben noch keine Angst, denn wir fangen erst einmal an und es war gut, gleich von Beginn an mit Leuten aus dem Ausland zusammenzuarbeiten. Aber das muss unbedingt Rückwirkung auf Österreich haben, und zwar in den nächsten Jahren passieren. Das, was Nordrand für den österreichischen Film geleistet hat, das muss einfach rückwirken, um diese seltsam blutleeren Strukturen zu beleben.

 

Interview: Karin Schiefer

2001