INTERVIEW

Ulrich Seidl im Gespräch über HUNDSTAGE

«Die Authentizität ist die Stärke dieses Films. Ich glaube dadurch schafft man es auch, den Zuschauer in eine Welt hineinzuziehen. Es wird ihm nicht so leicht gemacht, sich ins Kino zu setzen, um sich eine Welt vorführen zu lassen. Er wird hineingezogen und muss sich dabei mit sich selber konfrontieren.»

 

Bedeutet der Genrewechsel vom Dokumentarfilm in den Spielfilm einen Schnitt in Ihrem Schaffen?

ULRICH SEIDL: Es markiert ein Ende und auch einen Anfang in meiner filmischen Arbeit. Es ist ja so, dass meine bisherigen Filme eher als Dokumentarfilme gegolten haben, auch wenn sie das in diesem Sinne nicht waren. Hundstage wird als richtiger Spielfilm gelten, mit einem richtigen Drehbuch, richtigen Geschichten und richtigen Schauspielern. Obwohl er für manche gar nicht wie ein richtiger Spielfilm ausschauen wird.

 

Was macht Hundstage zum Spielfilm?

ULRICH SEIDL: Es ist ein Spielfilm, weil es vor dem Dreh ein Drehbuch mit genau geschriebenen Geschichten und einer klaren Dramaturgie gegeben hat. Dieses geschriebene Drehbuch wurde dann mit Schauspielern und Nichtschauspielern besetzt. Bisher hatte ich ein Thema, zu dem ich Material sammelte und dann mit den Protagonisten Szenen und Fragmente entwickelte. Für Hundstage ist etwas geschrieben worden, das umgesetzt wurde.

 

 Was war der Ausgangspunkt für die sechs Episoden?

ULRICH SEIDL: Es gab keine Ursprungsidee für den Film. Es ist so, dass ich seit ewig Ideen sammle in Form von Beobachtungen, Notizen, Fotos, Filmen oder Zeitungsausschnitten. Das stapelt sich. Es gibt bei diesem Film Ideen, die 20 Jahre und andere, die zwei Jahre alt sind. Irgendwann sind sie zu einem Film zusammen gewachsen, wobei der wirkliche Rahmen ein örtlicher und ein zeitlicher war: es musste in einer bestimmten Gegend zu einem bestimmten Zeitraum, nämlich über ein Wochenende spielen. Und die Landschaft südlich von Wien, in der wir gedreht haben, gibt es ja überall auf der Welt.

 

Wie war das Drehbuch ursprünglich konzipiert?

ULRICH SEIDL:Es handelte sich um kein Drehbuch im konventionellen Sinn, da die Dialoge ausgespart wurden. Es gab zunächst sechs lineare Kurzgeschichten. Das Konzept sah ursprünglich vor, dass man quasi wie bei einem Staffellauf von einer Geschichte in die andere gerät, dass Figuren eine Art Stabübergabe machen. Das wurde aber beim Schnitt sukzessive eliminiert. Der fertige Film ist jetzt so, dass die sechs Geschichten miteinander vernetzt wurden. Wie finden Sie immer wieder diese außergewöhnlichen Darsteller Ich glaube, dass man für jeden Film die Methode des Castings neu erfinden muss. Man kann selten auf Erfahrungen zurückgreifen. Jede Geschichte verlangt ihre eine Art der Recherche. Das ist natürlich sehr zeitaufwendig und macht er der Filmproduktion schwer. Auch ich habe das bei Hundstage fehl eingeschätzt. Wir haben uns drei Monate für das Casting vorgenommen, es hat aber über ein Jahr gedauert.

 

Wo haben Sie dann konkret gesucht?

ULRICH SEIDL: Das meiste ist sogenanntes Straßencasting. Wenn man beispielsweise einen junge Autonarren sucht, muss man sich Gedanken machen, wo gehe ich hin, damit man solche Jugendlichen findet. In Clubs oder auf Tankstellen oder Discos. Da die Geschichte aber nicht in Wien spielt sondern in Vösendorf oder Wiener Neustadt, muss man dort suchen. Das Schwierigste daran ist dann, dass man einen Zugang zu der Autonarren-Szene findet. Man kann ja nicht auftreten und sagen, ich suche jetzt Leute für einen Film, man muss viel feinfühliger vorgehen, sich in die Szene einfügen, sonst ist man, bevor man überhaupt drinnen ist, schon wieder draußen.

 

Wie groß ist der Anteil an nicht-professionellen Schauspielern?

ULRICH SEIDL: Es hält sich ungefähr die Waage. Verlangen Sie von Ihren Darstellern, etwas von ihrem Leben mitzubringen. Sie müssen. Das ist ein Kriterium bei der Besetzung der Profis wie der nicht-professionellen Darsteller. Ich achte darauf, ob sie bereit sind, von ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Privatheit etwas einzubringen. Das war auch genau das Wagnis bei Hundstage: eine Mischbesetzung, in der Profis und Nicht-Profis innerhalb einer Episode zusammengespannt sind.

 

Wissen die Darsteller, was sie erwartet?

ULRICH SEIDL:  Ich beschreibe ihnen die Figur, die ich suche und erzähle die ungefähre Geschichte. Aber Drehbuch bekommen sie keines. Es geht einerseits um Alltag, andererseits kommen sehr grenzgängerische, exzentrische Typen vor. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Die Geschichte mit den Jugendlichen glaube ich, ist sehr normal und durchschnittlich. Der Mann für die Sicherheit auch. Das geschiedene Paar steht für eine bestimmte Schicht. Ja, die Autostopperin ist eher ungewöhnlich. Und die extremste Geschichte ist die mit der Lehrerin, die ist sicherlich nicht alltäglich. Wobei ich sagen muss, dass wir beim Schreiben auf Leute zurückgegriffen habe, die wir kannten.

 

Gab es grundlegende Unterschiede in der Arbeitsweise im Vergleich zum Dokumentarfilm?

ULRICH SEIDL: Nein, für mich war der Wechsel nicht so groß. Ich hab einfach Erfahrungen aus meiner Dokumentarfilmarbeit in den Spielfilm übernommen und sie noch weiter und extremer betrieben. Es wurde bei diesem Film natürlich viel improvisiert, weil die Dialoge kreiert werden mussten. Ich hab zum Großteil chronologisch gedreht, was bei einem Spielfilm sehr unüblich ist, da man aus Gründen der Ökonomie einen Schauplatz abdreht, auch wenn es sich um Szenen handelt, die am Anfang und am Ende des Films liegen. Das hab ich nicht gemacht. Die chronologische Vorgangsweise gab mir die Möglichkeit, Geschichten weiter zu entwickeln. Wenn ich schon etwas vorwegnehme, was am Schluss kommt, kann ich nicht mehr zurück.

 

Wie wurde die Kamera eingesetzt?

ULRICH SEIDL: Sehr viel Handkamera, im Vergleich zu meinen bisherigen Arbeiten wurde hier prozentuell sicherlich am meisten Handkamera eingesetzt und die war sehr reportagenhaft. Wenn ich in früheren Filmen die Handkamera einsetzte, dann war die auch choreografiert, sie war besprochen, geplant, geprobt, das war bei Hundstage nicht der Fall, hier gibt es Szenen, wo der Kameramann völlig auf sich selbst gestellt ist. Ihre offene Arbeitsweise stellt sicherlich eine Herausforderung an die Produktion und das Team dar. Die Episode mit dem geschiedenen Ehepaar ist da ein gutes Beispiel. Es geht nämlich um Fragen wie "Was ist jetzt geschrieben?", "Was steht im Drehbuch?", "Wie wird improvisiert?", "Wie werden Locations ausgewählt?". Die Szene im Swimmingpool und die, wo beide auf der Schaukel sitzen, hat es beispielsweise im Drehbuch nicht gegeben. Wir hatten gar kein Haus mit Swimmingpool gesucht, erst durch die konkrete Situation, die ich vorfand. Durch das Haus mit dem leeren Swimmingpool bin ich auf die Idee zu dieser Szene gekommen. Dasselbe war mit den Kinderschaukeln. Man stellt sich immer vor, dass die Dinge, die am stärksten sind, von langer Zeit geplant sind. Diese beiden Szenen sind ein gutes Gegenbeispiel.

 

Warum haben Sie eine Atmosphäre der Hitze gewählt in einem Land, wo alle unter der Kälte leiden?

ULRICH SEIDL:  Es war sehr wichtig, dass der Film in einer Atmosphäre der Hitze stattfindet, weil in der Hitze die Aggression steigt und die Scham fällt. Die Leute sind außer sich und sie entkleiden sich auch äußerlich. Das war eine grundsätzliche Idee für die Geschichte.

 

War es auch wirklich heiß beim Drehen?

ULRICH SEIDL: Nein, nicht immer. Aber wenn es nur 25 Grad hatte, ließ ich einheizen. Das Wetter war tatsächlich ein großes Problem. Ich hab die Order ausgegeben, nur bei wolkenlosem Himmel zu drehen und allein das war sehr schwer vorauszusagen. Wir sind mit der Zeit draufgekommen, dass alle Wettervorhersagen Scharlatanerie sind. Wenn man weiß, was vorausgesagt wurde, und darauf tatsächlich wartet, merkt man erst, dass es praktisch nie stimmt. Insgesamt haben wir dann in einem Zeitraum von vier Monaten gedreht.

 

Was waren die Gründe für die lange Postproduktion?

ULRICH SEIDL:  Der Grund dafür, dass sie eineinhalb Jahre dauerte, lag darin, dass der Film nach dem Dreh so viele Möglichkeiten offen ließ. Es war mit Beginn des Schnitts so, als würde man das Drehbuch neu zu schreiben beginnen. Es waren 80 Stunden Material vorhanden. Das ist einfach meine Art, an Dinge heranzugehen. Es gab anfangs 14 Geschichten, in der zweiten Stufe haben wir sie auf neun reduziert, dann waren es sieben. Während der Dreharbeiten ist noch eine ganze gestrichen worden, jetzt sind es sechs. Dieses Material wurde dann im Schnitt sukzessive gefiltert und reduziert. Als erstes lag eine achtstündige lineare Episodenfassung vor. Die vernetzte Fassung stellte den nächsten Schritt dar, sie dauerte drei Stunden. Die endgültige Fassung beträgt jetzt nur zwei Stunden. Der Schritt von drei auf zwei Stunden war der schwierigste. Zu reduzieren, kompakt, flüssig und auch im Detail genau zu bleiben und dabei noch eine Stunde herunterzukommen, das hat sehr lange gedauert.

 

Ist Hundstage ein typisch österreichisches Gesellschaftsportrait?

ULRICH SEIDL: Obwohl der Film, glaub ich, sehr österreichisch ist, spricht er hoffentlich für alle Menschen in der westlichen Hemisphäre. Es geht um die Sehnsucht nach Glück und Liebe und um die Enttäuschung dabei, um den immer neuen Versuch, geliebt zu werden und um den Tod. Die Figuren sind sehr ambivalent, aber ich hoffe, man versteht sie und darum geht es mir – zu verstehen, warum jemand in seiner Welt so agiert.

 

Hundstage ist wie auch Ihre vorangegangen Arbeiten, ein sehr provokanter, verstörender Film?

Ulrich Seidl: Ich denke nicht darüber nach, ob ein Film provokant ist. Kunst war immer provokant, wenn sie gut war. Insofern ist es kein Nachteil, wenn etwas provokant oder verstörend ist, weil das ja heißt, dass man beim Zuschauer etwas in Gang setzt. Ich glaube, dadurch schafft man es auch, den Zuschauer in eine Welt hineinzuziehen. Es wird ihm nicht so leicht gemacht, sich davon abzusetzen und nur im Kino zu sitzen, um sich eine Welt vorführen lassen. Er wird hineingezogen und muss sich dabei mit sich selbst konfrontieren. Die Stärke dieses Films ist seine Authentizität, ich denke die ist mir auch gelungen. Es gibt vieles, was mir nicht so gelungen ist. Gottseidank sind wir immer noch unzufrieden. Vieles, was man sich vornimmt, funktioniert einfach nicht. Ich glaube, dass der Film wirklich richtig besetzt wurde, die Authentizität der Schauspieler und der Surrealismus des Films sind wirklich gelungen. Diese Atmosphäre stimmt und ich glaube, es ist auch die Kraft, die den Film ausmacht.

 

Interview: Karin Schiefer