INTERVIEW

Barbara Albert über DIE LEBENDEN

 

Wir müssen versuchen zu verstehen, wie Menschen so weit gehen können. Alle Täter als Monster abzustempeln hilft uns nicht weiter. Barbara Albert über Die Lebenden, der im Wettbewerb um die Goldene Muschel in San Sebastian seine Uraufführung feiert.


Castingshows, asiatische Design-Restaurants, Smartphones - Die Lebenden beginnt als Reise durch die Gegenwart und gerät durch Zufall in die Vergangenheit. Entspricht diese Entwicklung auch dem Entstehungsprozess? Hat Sie die Entwicklung des Stoffes für Ihren vierten Langfilm in eine unerwartete Richtung geführt?
Barbara Albert: Die Arbeit an diesem Film hat sehr lange gedauert, was verschiedenste Gründe hatte - eine lange Finanzierung, ein anderes Projekt, das ich für die USA vorbereitet hatte und ich habe ein Kind bekommen - in dieser langen Zeit hat sich sehr viel verändert. Meine Grundidee war, Zufälligkeit zu beschreiben: Wie bewegt sich jemand von einer Sache zur nächsten, wie lässt er sich treiben? Ich wollte eine Figur, die dramaturgisch nicht einem geschlossenen, konstruierten System folgt, sondern eine Figur, die getrieben ist und die sich treiben lässt, deren Leben von Zufälligkeiten bestimmt ist. Spätestens beim Schnitt mit Monika Willi habe ich wieder einmal erkennen müssen, dass Szenen, die diese Zufälligkeit verdeutlichen sollen, oft nicht funktionieren und habe deshalb auch einige Szenen aufgegeben. Behauptete Zufälligkeit im Film wirkt letztlich immer konstruiert. Dennoch, oder gerade deshalb wollte ich mich der Frage stellen ? wie kann ich von einem Moment in den anderen stolpern und trotzdem eine rote Linie verfolgen und das auch filmisch darstellen?

Wann ist der Zufall in Ihrem Leben passiert, der auch einen thematischen Impuls für diesen Film geliefert hat?
Barbara Albert: Ursprünglich wollte ich einen Film über junge Frauen machen, die sich verstärkt politisch engagieren. Das ist nun zehn Jahre her, d.h. vor der Krise, vor der Occupy-Bewegung, es ging da vielmehr um die ersten globalisierungskritischen Momente wie z.B. der G8-Gipfel in Genua 2001. Über diese Bewegung wollte ich einen Film machen und ihn gleichzeitig auch mit einer persönlichen Geschichte und einer Vergangenheitssuche verbinden. Im Zuge der Recherche zur Vergangenheit habe ich viele Gespräche mit sogannten „Täter-Enkeln“ geführt, einer Generation, der auch ich angehöre. Ich habe viel gelesen und andere Filme zum Thema gesehen. Viele Enkel haben sich mit der Frage nach der Schuld ihrer Großeltern auseinandergesetzt, dieses Material habe ich gesammelt und daraus die Figuren des Films gebaut. So habe ich mich immer tiefer in dieses Thema verstrickt und war davon so stark vereinnahmt, dass die aktuellen politischen Strömungen in den Hintergrund gerieten und diese Suche nach der Vergangenheit der Großeltern mehr Gewicht bekam. Ich habe mich dann darauf konzentriert und mich im Besonderen mit der Vergangenheit der Siebenbürger-Sachsen beschäftigt, weil meine Familie sowohl aus Siebenbürgen als auch aus dem Banat stammt - also zwei deutschsprachigen Minderheiten in Rumänien angehört, deren Geschichte ich aufgerollt habe. Dabei habe ich auch, so wie Sita im Film Michael Weiss findet, tatsächlich einen Onkel von mir gefunden, den ich nicht gekannt hatte und der ganze Romane zum Thema geschrieben hat. Ihn habe ich in Italien besucht. Ich bin auch an die Orte, die im Film vorkommen, gereist. Es sind also durchaus autobiografische Momente im Film vorhanden, ich bin aber nicht Sita. Sie ist 25, gehört also einer jüngeren Generation an. Ich habe versucht, trotz dieses spezifischen Schicksals eine Geschichte zu schreiben, mit der sich auch andere Menschen identifizieren können.


Haben Sie ein Gefühl des Zwiespalts erlebt, wo Sie sich fragten, ob Sie in der Familiengeschichte weitersuchen oder es lieber sein lassen sollten? Man stößt ja vielleicht auch auf Widerstand, befürchtet, jemanden zu verletzen. Was veranlasst einen weiterzumachen?
Barbara Albert: Natürlich gibt es diese Momente. Man befürchtet, man könnte jemanden verletzen, weil er sich gemeint fühlt. Jeder meiner Filme hat autobiografische Momente, und automatisch spielen Menschen, die mit meinem Leben zu tun haben, in irgendeiner Form darin eine Rolle. In Die Lebenden werden extreme Dinge angesprochen, die sehr stark mit Schuld zu tun haben, dennoch ist es kein Enthüllungsfilm, der die Geschichte meines Großvaters erzählt. Ich habe mit Sitas Großvater eine Figur geschaffen, die stellvertretend für viele Menschen dieser Generation steht. Wenn man einen Familienfilm macht, läuft man immer der Gefahr, dass die Geschichte 1:1 gelesen werden kann. Das war mir bewusst.

Stellt sich die Enkelgeneration unabhängig nun von Ihrem spezifischen Kontext nicht grundlegend die Frage - Soll ich dieses Forschen nun sein lassen oder weitersuchen?
Barbara Albert: Die Angehörigen der Enkelgeneration, mit denen ich gesprochen habe, wollen darüber sprechen und sich mit der Vergangenheit und der Schuld, die Teil der Familie ist, auseinandersetzen. Zunächst schämt man sich, dann will man darüber reden. Deshalb ist man so froh, wenn jemand anderer bereit ist, darüber zu sprechen. Es gibt organisierte Treffen, gemeinsam von Täter- und Opferenkeln, wo Dinge aufgearbeitet und in gewisser Weise, falls das überhaupt möglich ist, verziehen werden, auch wenn man als Enkel nur stellvertretend für die Großeltern stehen kann. Es gibt auf beiden Seiten einen Drang zu reden und Fakten herauszufinden. Die Enkelgeneration, die sich für das Thema interessiert, will sprechen, verarbeiten, verstehen. Daneben gibt es natürlich auch jene, die das gar nicht interessiert, die meinen, dass dieses Thema ausreichend behandelt ist. „Wir wollen das nicht mehr hören“ ist durchaus ein Satz, den ich oft gehört habe. Die Betroffenen selbst sehen das anders.

Sitas Großvater feiert seinen 95. Geburtstag. Die Generation derer, die unter den Nazis Erwachsene waren, bewegt sich dem Lebensende zu. Wir sind an einem Zeitpunkt angelangt, wo es die letzten Momente der Zeugenschaft, der Wiedergutmachung gibt. Und der Film vermittelt auch ein Gefühl, dass es irgendwie auch schon zu spät ist. Hat der Begriff der Vergangenheitsbewältigung in den letzten Jahrzehnten einen Wandel durchgemacht?
Barbara Albert: Ich glaube, er hat sich insofern gewandelt, als die einen das Thema verharmlosen, weil sie sich nicht mehr damit auseinander setzen wollen und die anderen, weg von einer schwarzweißen Opfer/Täter-Perspektive, eine differenziertere Sicht auf die Dinge entwickelt haben. Der Umgang mit den Tätern hat sich geändert. Die Kuratoren des Memorial Museums in Auschwitz beginnen nun auch, die Geschichten der Täter zum Inhalt von Ausstellungen zu machen. Ich halte es für wichtig, dass die Täter enttabuisiert werden, weil wir dann mehr verstehen, die Täter weniger von uns abspalten. So lässt sich vielleicht eher verhindern, dass Ähnliches wieder passiert. Solange man die Täter als Monster und nicht als Menschen betrachtet, kann man nicht verstehen, wie das passiert. Das gilt nun nicht nur für den Holocaust, sondern für all die Genozide und Massaker, die in der jüngeren Geschichte stattfinden und stattgefunden haben. Wir müssen versuchen zu verstehen, wie Menschen so weit gehen können. Alle Täter als Monster abzustempeln hilft uns nicht weiter. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, dass sehr viele, vor allem junge Menschen gar nicht so viel über das NS-Regime wissen. Sie haben zwar in der Schule jahrelang darüber gehört und dennoch gibt es unglaubliche Wissenslücken. In Deutschland war es vielleicht auch ein Zuviel an Information, bis Augen und Ohren der Schüler zugingen. Ich hoffe, dass ein Film wie dieser wieder das Interesse dieser Generation weckt. Es wäre schade, die Geschichte nur meiner Generation zu erzählen, gerade die nächste Generation ist wichtig, jene, die diese Großväter nicht mehr kennt. Wenn man die Geschichte gar nicht ansprechen darf, was in Täter-Familien fast immer der Fall ist, dann kann man nichts aufarbeiten. Dann bleibt es ein Tabu und verschwindet auch mit den Großeltern, wenn sie sterben.

Schuld ist ein Thema, das Sie nicht zum ersten Mal in einem Ihrer Filme aufgreifen. Warum bewegt Sie dieses Thema so stark?
Barbara Albert: Ich hielt es in der Auseinandersetzung mit der „Familienschuld“ für sehr wichtig zu zeigen, dass die Enkelin die Last dieser Schuld nicht auf allein ihren Schultern tragen kann. Damit wäre niemandem geholfen. Für mich ist das eine Kernaussage: Wenn Sita diese große Schuld ihrer Familie akzeptieren kann, dann kann sie darüber reden und es verarbeiten und vielleicht auch in gewisser Weise verzeihen. Das ist Sitas Thema. Verzeihen, was da auf Täterebene in ihrer Familie passiert ist, das ist ein sehr großes, heikles Thema, das man nicht verkürzt abhandeln darf. Ich habe vielmehr versucht, Fragen aufzuwerfen, als Antworten zu geben. Eine Lösung anzubieten, ist schwierig ? und auch fragwürdig. In Sita kommt ein Prozess in Gang, durch den sie einen anderen Blick auf die Welt bekommt und sich selbst und die Menschen anders sieht. Das in Bildern auszudrücken, ist nicht immer leicht, weil innere Vorgänge einer Person an sich etwas Un-Filmisches sind. Dafür die richtigen Szenen zu finden, war die große Herausforderung beim Schreiben des Drehbuchs.

Da treffen sich wahrscheinlich auch Form und Inhalt in Ihrem mosaikhaften Erzählen. Ist durch Sitas Weg ein entscheidender Stein für ein Gesamtgefüge gefunden?
Barbara Albert: Sitas Handeln hat auch für die anderen Familienmitglieder Konsequenzen. Auch der Vater ist sehr stark betroffen. Weil die Tochter einem Tabu auf den Grund geht, bricht auch in ihm etwas auf und er wird weicher. Der Vater stellt sich plötzlich seiner Herkunft und das ist Sita zu verdanken. Familiensysteme interessieren mich seit über zehn Jahren, das begann mit der Recherche für Böse Zellen. Was Sita stellvertretend für ihren Vater tut, das ist sehr spannend. Wenn in einer Familie, in der eine nie eingestandene Schuld besteht, jemand kommt wie die Enkelin und erstmals ein Tabu anspricht, dann verändert sich auch automatisch etwas im Leben der Generationen davor. Ein Familienmitglied löst in einer Familie immer etwas auf. Wenn es die Enkel nicht machen, dann ist es an der nächsten Generation gelegen. In den letzten Jahren fiel mir auf, dass viele Enkel diese „Arbeit“ leisten, und zwar auf eine andere Art als die Generation der Söhne und Töchter, weil sie nicht so wütend sein müssen. Die Kinder konnten nicht differenziert hinschauen, weil sie so eine Wut in sich trugen, sie mussten rebellieren und konnten nur einen extremen Standpunkt einnehmen. Wir als Enkel haben schon vielmehr die Chance, mehrere Seiten zu sehen. Für Sita ist es leichter, alles aus einer gewissen Distanz zu betrachten, auch wenn sie ein Naheverhältnis mit dem Großvater verbindet. Es war mir sehr wichtig, dass sie ein positives Verhältnis zu ihrem Großvater hat, weil das viel realistischer ist. Viele Enkel haben sehr liebe Großeltern, die aber möglicherweise bei der SS waren. Ich wollte zeigen, dass es nicht so einfach ist. Der Nazi-Großvater war nicht unbedingt ein strenger, hartherziger Opa.

Es geht im Film viel um Erinnerungen und auch die Verzerrungen der Erinnerung. Was macht das Gedächtnis aus der Wirklichkeit ist eine Frage, die Sie auch losgelöst vom historischen Kontext in Die Lebenden mehrfach stellen?
Barbara Albert: Fotos zeigen immer wieder, dass es die Vergangenheit gegeben hat, auch wenn es nur Momentaufnahmen sind. Sie zeigen die Vergänglichkeit, die Erinnerung an etwas Vergangenes, egal ob es beschönigend ist wie die Erinnerung des Großvaters an Mühlenthal oder die Schrecken der Konzentrationslager: Es ist immer etwas Vergangenes und immer mitten unter uns. Alles Vergangene lebt durch uns Menschen weiter, alle Dinge, die passiert sind, haben ihre Auswirkungen. Wie auch meine anderen Filme, ist Die Lebenden ein Film über Vergänglichkeit, Endlichkeit, das Vergehen der Zeit, über den Tod. Unser aller Grundthema, umso mehr, je älter wir werden.

Das verdeutlichen Sie sehr stark mit den Bildern aus Rumänien gegen Ende, die in eine Vergangenheit weisen, die schon fast versunken scheint.
Barbara Albert: Rumänien ist deshalb im Film, um zu zeigen, wie anders die Welt war, aus der der Großvater stammt. Ich wollte zeigen, dass diese Welt nur zwei Flugstunden von Wien entfernt im Jetzt noch existiert, auch wenn sie am Verschwinden ist. Es geht mir sehr stark ums Verschwinden. Würde die Enkelin nicht in den Fotos stöbern und das Vergangene zutage holen, dann wäre es einfach irgendwann mal weg. Dieses Rumänien der Siebenbürgen wird irgendwann mal weg sein und vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Ich will da nicht sentimental sein, aber darauf hinweisen, dass an einem Ort noch 22 Seelen in einer verschwindenden Welt leben. Vieles im Film ist gerade im Begriff zu verschwinden. Die Geschichte des Großvaters ist mit seinem Tod zu Ende, Sita lässt das nicht gleich zu, sie will sich seiner Geschichte stellen, aber wenn sie einmal alle Dokumente gefunden haben wird, dann ist es für sie in gewisser Weise abgeschlossen. Sie muss durch diese Geschichte durch und kommt verändert heraus.

Die bewegendsten und stärksten Momente im Film sind die Videoaufzeichnungen der Gespräche mit dem Großvater, wie entstanden diese Bilder?
Barbara Albert: Ich habe selbst viele Interviews von Tätern und Opfern als Tondokumente gehört. Nach Schindler’s List habe ich Berichte von Zeitzeugen gelesen und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man diese Erfahrungen nicht szenisch darstellen kann. Ich finde, man muss die Leute selbst sprechen lassen. Das ist stärker, weil die Bilder im eigenen Kopf entstehen. Bilder davon wären kitschig oder falsch und nie der Realität gerecht geworden.
Ich wollte, dass jemand authentisch erzählt und gleichzeitig nicht so ganz greifbar ist, bei dem man nicht immer sicher sein, dass das alles stimmt, was er erzählt. Die Videobilder flimmern sehr stark und der Großvater selbst bekommt etwas Entfremdetes. Er ist nur mehr schemenhaft vorhanden, aber seine Schilderungen sind so intensiv, dass man sich als Zuschauer die Bilder machen muss. Seine Texte basieren auf einer Mischung aus verschiedenen Berichten, einiges habe ich selbst erfunden.

Wie haben Sie den Darsteller des Großvaters gefunden?
Barbara Albert: Lisa Oláh hat das Casting gemacht und sehr lange recherchiert. Ich wollte unbedingt jemanden, der aus Siebenbürgen stammt, weil ich diese Sprachfärbung, die ich aus meiner Kindheit so gut kenne, im Film haben wollte. Hanns Schuschnig war selbst Regisseur an mehreren Theatern, er ist heute 86 und in den sechziger Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland gekommen. Obwohl er bisher selbst nicht viel gespielt, hat er sofort zugestimmt und sich sehr für die Geschichte interessiert. Er hat schnell verstanden, worum es mir ging, nicht nur weil er die Geschichte der Siebenbürger-Sachsen kennt. Wir haben ihn auf 95 Jahre geschminkt, was ihn sehr gefreut hat, weil wir immer sagten „Du schaust zu jung aus, wir müssen dich älter machen.“

Anna Fischer spielt Sita, die Hauptfigur, die dennoch auch Züge von Ihnen trägt. Wie stellt sich die Suche nach einer Protagonistin dar, wenn sie auch von einem selbst etwas verkörpern soll?
Barbra Albert: Das war eine sehr intuitive Entscheidung. Ich hatte Anna vor mehreren Jahren in einem Fernsehfilm gesehen und den Eindruck gewonnen, dass sie sehr emotional und direkt spielt. Sie hat eine Kraft und eine Energie, die mir gefielen. Wenn jemand wie Anna praktisch an jedem Drehtag dabei ist und den Film tragen muss, dann muss es zwischen der Regisseurin und der Protagonistin auch intuitiv stimmen, weil man sich ganz nahe kommt und weil ich mich mit ihr identifizieren muss. Ich hatte ohne sie zu casten schon nach unserem ersten Treffen ein gutes Gefühl und hab‘ sie dann in Ruhe gelassen und mich erst zwei Jahre später wieder gemeldet. Anna ist vor einem ganz anderen Hintergrund groß geworden als ich, sie gehört einer anderen Generation an, dennoch hat sie sehr schnell erfasst, worum es geht. Sie hat sehr konzentriert und sehr präzise gearbeitet, obwohl sie acht Wochen lang noch dazu an den verschiedensten Orten und unter den verschiedensten Bedingungen jeden Tag im Einsatz war.

Oft werden Namen genannt, denen ein Vergleich folgt, Sita wie Sita und Ram, Silver like Gold, Jocquin like Phoenix, so als müsste man Identität immer doppelt bestätigen. Die Frage der Identität scheint im Film eine sehr wichtige.
Barbara Albert: Im Grunde ist es ein Entwicklungsroman oder eine Coming-of-Age-Geschichte, in der es um Sitas Identitätssuche geht. Eine junge Frau ist auf der Suche nach sich selbst, weiß am Anfang noch gar nicht so genau, wonach sie sucht und wird eher von außen mal hierhin, mal dorthin durchs Leben getrieben. Es hat mir immer ganz gut gefallen, die Namen der Figuren zu hinterfragen und ihnen eine symbolhafte Bedeutung zu geben. Silver hat zunächst einen Glanz, der Sita fasziniert und anzieht, am Schluss ist sie enttäuscht von ihr. Das sind Spielereien von mir.

Was hat Sie dabei veranlasst, der Hauptfigur einen indischen Namen zu geben?
Barbara Albert: Der Name Sita weist stärker auf ihre Mutter hin, die im Gegensatz zum Vater eher der Hippie-Generation angehört. Bei ihr hat Sita auch viel mehr Freiheit genossen als bei ihrem Vater. Und dann soll dieser historische Name auch die Frage, woher komme ich und andere Fragen nach der Identität aufwerfen.

Ein drittes Alter Ego ist dann noch Seda. Welche Rolle kommt ihr zu?
Barbara Albert: Seda ist namensverwandt, beide Namen haben ihre Wurzeln im Osten. Seda ist heimatlos und muss sich als Flüchtling durchschlagen, Sita ist aus Zufall in Westeuropa geboren und kann dieses westliche Leben führen. Im Prinzip besteht kaum ein Unterschied zwischen den beiden Frauen und ein Zufall besiegelt ihre Schicksale.

Sie haben für Die Lebenden mit einem neuen Kameramann zusammengearbeitet. Zwei Dinge sind mir an den Bildern aufgefallen - ihre Farbigkeit und auch ihre Bewegtheit. Wie entstanden die Bilder von DIE LEBENDEN.
Barbara Albert: Ich wollte für diesen Film eine sehr nahe, sehr direkte und sehr bewegte und moderne Kamera. Bogumił Godfrejów erschien mir dafür die richtige Wahl. Ich wollte bei diesem Thema keine getragenen Bilder. Wenn etwas im Film getragen ist, dann ist es die Musik, aber das darf manchmal auch so sein. Ich wollte Frische, Lebendigkeit, Energie vermitteln. Ich wusste, dass diese Art der Bilder Bogumił sehr liegen. Dazu kam, dass der Film eine österreichisch-polnisch-deutsche Koproduktion ist, und es sich anbot, mit einem Kameramann aus Polen zu arbeiten. Ein wesentlicher Punkt war die Entscheidung, auf Super-16 mm zu drehen, das macht durch seine Körnigkeit stark diesen „filmischen“ Look aus, der ein wenig „old school“ wirkt. Die Super-16 mm Kamera machte es Bogumił auch leichter, mit Handkamera zu drehen und somit die Schauspieler noch besser zu begleiten. Gleichzeitig gefiel mir gut, dass in einem Film, in dem es um Vergangenheit geht, diese deshalb präsent ist, weil er mit dem Medium spielt. Der Film wird in Die Lebenden zu einem Medium, das vergangen ist. Filmmaterial hat für mich immer noch einen physischen Aspekt. Die Gesichter und die Körper wollte ich sehr nahe zeigen, auf Film wirkte das einfach besser und es war auch mit Filmmaterial einfacher, den Stil dieses Films zu finden.

Eine sehr starke Präsenz gilt der Musik. Warum haben Sie ihr diese wichtige Rolle gegeben?
Barbara Albert: Ich wollte zum einen, dass Sita durch schnelle Songs etwas Heutiges bekommt. Ihre Familie hingegen ist sehr stark der alten Musik verbunden. Der Vater ist Musikprofessor und singt im Chor. Lorenz Dangel, der die Filmmusik gemacht hat, hat von Henry Purcells Cold Song ausgehend Musik für den Film entwickelt. Das Original ist im Auto zu hören und ist schließlich in Rumänien ganz modern und zeitgeistig adaptiert. Diese musikalische Variation des Themas ist dann in gewisser Weise die neue Variation der alten Familiengeschichte, die Sita zu verdanken ist. Die musikalische Ebene ist eine ganz starke Erzählebene. Der Anfangssong ist von Gustav. Dieser Song kommt noch aus einer anderen Welt, wo Sita noch gar nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun hat, in diesem Song singt Eva Jantschitsch von „... the living and the dead“, dann gibt es noch einen Song von Anja Plaschg, also Soap & Skin, wenn Sita Warschau verlässt.  Ein anderer, wichtiger Song ist von The Base, ebenfalls einer österreichischen Gruppe, mit einer Cover-Version von The End of the World. Ich wollte unbedingt mit österreichischen KünstlerInnen zusammenarbeiten und habe nach Musikstücken gesucht, die für mich und die Hauptfigur atmosphärisch stimmen. Mit Charlotte Goltermann und Tina Funk hatte ich tolle Musikberaterinnen in Berlin.

Der Film heißt im Englischen The Dead and the Living, im Deutschen nur DIE LEBENDEN, nachdem auch der deutsche Arbeitstitel lange Die Lebenden und die Toten gelautet hatte. Gab es außer verleihtechnischen Überlegungen auch inhaltliche Beweggründe für diese Entscheidung?
Barbara Albert: Die Toten schwingen dennoch, wenn auch unausgesprochen, mit, die „Lebenden“ verweisen aber stärker auf Sita. Ich wollte mir die Lebenden, d.h. jene, die jetzt Verantwortung übernehmen müssen, anschauen. Die Toten haben im Deutschen eine andere Schwere als im Englischen, The Dead and the Living klingt leichter. "The Living" im Englischen heißt dann auch noch „das Leben“, diese doppelte Bedeutung wollte ich nicht, ich wollte, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen. Und vor allem Sita, die jetzt lebt, die sich heute anschaut, welche Verantwortung sie trägt und was sie mit der Vergangenheit ihrer Familie macht.

Würden Sie DIE LEBENDEN als Ihren persönlichsten Film betrachten? Haben auch Sie durch die Arbeit an diesem Film einen neuen Blick auf die Welt gewonnen?
Barbara Albert: Ich glaube, ich habe viel gelernt aus der langen Zeit, in der ich mich mit diesem Film beschäftigt habe. Man kann meine Filme vielleicht so unterteilen: da sind zum einen die inneren Filme, wo es mehr um meinen inneren Kosmos geht, und zum anderen die äußeren Filme, wo die Welt um mich herum im Mittelpunkt steht. Somit sind Böse Zellen und DIE LEBENDEN für mich artverwandt, auch wenn jeder ganz anders gemacht ist. Nordrand und Fallen würde ich eher der äußeren Welt zuordnen. Insofern könnte man die beiden „inneren“ Filme als meine persönlicheren Filme bezeichnen, wobei mir die anderen mindestens genauso nah sind.

Interview: Karin Schiefer
August 2012