INTERVIEW

«Am Ende des Lebens bleibt man alleine mit der Frage über „Was habe ich getan?“

... ganz egal, wie Gerichte entscheiden oder wie die Gesellschaft einen beurteilt. Ich habe meiner Figur die Möglichkeit gegeben, sich am Ende damit auseinanderzusetzen.» Elisabeth Scharang über Jack, der auf der Piazza Grande des Festivals von Locarno uraufgeführt wird.

 
 
Über Jack Unterweger existieren jede Menge Fakten, Dokumente ... Man könnte über ihn sehr gut einen Dokumentarfilm drehen. Was hat Sie veranlasst, diesen Stoff zu fiktionalisieren? Anders gefragt: Wie ist aus Jack Unterweger  „Jack“ geworden?

ELISABETH SCHARANG:  Nach eineinhalb  Jahre Recherche wusste ich sehr viel über den Fall Unterweger. Aber die Hauptfigur fehlte; Jack war nicht da. Das war der Punkt. Ich hatte nie geplant, semi-dokumentarisch zu arbeiten, ich wollte einen Spielfilm machen. Ich bin allerdings unter der Last der Fakten eingegangen. Ich brauchte weitere eineinhalb Jahre, um mich davon wieder zu lösen. Die klassische biografische Erzählung der Geschichte blieb immer klein und ich fand keine Meta-Ebene. Die fand ich erst, als ich ganz an den Anfang der Geschichte zurück ging, d.h. bis ins Jahr 1974, wo er seinen ersten Mord begangen hatte – und zu der Frage nach dem Umgang mit der Schuld. Diese Frage zieht sich durch den Film. Was treibt diese Figur? Wie zieht sich die Schleife, in der er hängen bleibt, immer enger zu? So entwickelte sich aus Jack Unterweger  „Jack“...

 
... als ein Mann, der versucht, sich neu zu erfinden und seine Vergangenheit hinter sich zu lassen?

ELISABETH SCHARANG:  Ich glaube nicht, dass man etwas abstreifen kann. Man hat den Rucksack immer dabei,  umso mehr als Jack sich ein Kostüm sucht, das ihn im wahrsten Sinne des Wortes ins Rampenlicht stellt. Er legt sich ein Image als Künstler zu mit einem auffälligen Bühnenoutfit und seiner kriminellen Vergangenheit, die er allen immer wieder vor die Nase hält und gerät so wieder ins Fadenkreuz der Polizei. Das allein ist der Stoff einer griechischen Tragödie. Dazu kommt noch das Thema von Schuld und Sühne, das letztlich jeder mit sich selber ausmachen muss. Wenn man diese Auseinandersetzung allerdings nicht führt, dann kommt das Thema immer wieder. Ein Davonlaufen ist unmöglich.

 
Blickt man auf das Drehbuch, so scheinen die Säulen, auf denen die Geschichte steht,  die Frauen zu sein. Sie haben in Jacks Leben die entscheidenden Weichen gestellt.

ELISABETH SCHARANG:  Jack ist ein Mensch, der wegen des Mordes an einer Frau ins Gefängnis kommt, der dank der Hilfe von Frauen sich in Freiheit wieder eine finanzielle Basis schafft, der viele Affären und Liebesgeschichten mit Frauen hat und dann auf Grund einer Anklage wegen der Morde an elf Frauen wieder aus dem Leben kippt. Es liegt auf der Hand, dass die Frauen in seiner Geschichte die Hauptrollen spielen. Es ist ja ein interessantes Phänomen, dass Frauen Brieffreundschaften mit Häftlingen pflegen. In der Regel sind das Brieffreundschaften mit Häftlingen, die eine sehr lange Strafe absitzen, also Beziehungen, die nie eingelöst werden können oder müssen. In den seltensten Fällen entstehen daraus Beziehungen, die in der Freiheit weiter existieren. Auch bei Jack ist es so; mit der Ausnahme von Susanne, die ihm tatsächlich nach der Entlassung aus dem Gefängnis hilft und mit der eine reale Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens im Raum steht.
Die Männer empfinden Jack bis auf wenige Ausnahmen immer als Bedrohung oder als Provokation. Verständlicherweise. Nur wenige Männer können behaupten, dass sie zu Jack Unterweger ein freundschaftliches Verhältnis hatten. Es war auch in der Arbeit am Film so, dass sich viele Männer mit der Figur sehr schwer getan haben.  Sein Auftreten scheint ein Angriff auf deren Männlichkeit zu sein. „Warum stehen so viele Frauen auf so einen Typen?“, ist eine Frage, die dann im Raum steht. „Jack war ein guter Zuhörer, der nicht ständig über sich geredet hat“, erzählten mir Frauen, mit denen Unterweger befreundet war. Die einen haben ihn  bemuttert, die anderen fanden seine Vergangenheit aufregend. Und Groupies gibt es auch unter den intelligentesten Frauen. Hier geht´s ja nicht darum, eine Familie zu gründen oder eine Partnerschaft zu leben. Das ist ja ein Spiel.

 
War er auch für Johannes Krisch eine problematische Figur?

ELISABETH SCHARANG: Diese Frage müssen Sie ihm selbst stellen. Ich glaube, dass es nicht immer einfach für ihn war. Er sagte mir, dass er für die meisten Rollen etwas aus sich selbst holen kann. In diesem Fall ging das nicht, weil Johannes in keinem Punkt so ist wie Jack. Es war sicherlich nicht einfach, diese Figur so lange mit sich herumzutragen – diese permanente Unberechenbarkeit, das Wissen, zumindest diesen einen Mord begangen zu haben; diese Grenze überschritten zu haben. Aber wir haben nie besprochen, ob er als Jack einen Serienkiller spielt. Das hat er mit sich selbst ausgemacht.

 
In einem gemeinsamen Radiointerview sagten Sie, sie hätten beide Jack schon seit vier Jahren im Kopf. Wenn nur die Finanzierung nicht so lange gedauert hätte.  Hat die gemeinsame Arbeit an der Figur so früh begonnen?

ELISABETH SCHARANG: Wir wussten nach unserer gemeinsamen Arbeit bei meinem Spielfilm Vielleicht in einem anderen Leben, wir würden das Projekt gemeinsam machen. Nachdem das Projekt zum dritten Mal abgelehnt worden war und mein Produzent Dieter Pochlatko und ich uns dachten, vielleicht ist die Zeit nicht reif für diesen Film, war es Johannes, der uns ein langes Mail schrieb, dass es mit dem Projekt weitergehen müsse. Und wir haben uns am nächsten Tag wieder hingesetzt und weiter gemacht. Wenige Monate später war es so dann soweit. Es waren allerdings sieben lange Jahre. Für das Projekt auch gut:  Dem Drehbuch hat die lange Zeit gut getan und ich habe alle Leute vor und hinter der Kamera bekommen, die ich wollte. Der Dreh ist deshalb so phantastisch gelaufen, weil ich so gut vorbereitet war. Die üblichen Kompromisse, die oft entstehen, weil man so rasant einen Dreh auf die Beine stellen muss, fielen dieses Mal fast weg. Johannes und ich waren so tief in der Materie, dass wir uns nicht orientieren mussten. Wir wussten, was wir tun.

 
Warum war Jörg Widmer der Wunsch-Kameramann?

ELISABETH SCHARANG: Er stand schon drei Jahre vor dem Drehstart fest und sagte sogar ein Projekt mit Wim Wenders ab, weil er diesen Film mit mir drehen wollte. Und ich wollte Jörg, weil es für mich reizvoll ist, bei jedem Projekt mit einem anderen Kameramann oder -frau zu arbeiten, der/die eine große Erfahrungswelt einbringt. In diesem Fall waren das Jörgs letzte drei Filme mit Terence Malick und seine Arbeit an Pina mit Wenders. Er ist einer der weltbesten Steadicam-Operators. Ihn als DOP am Set zu haben, bedeutete, technisch alle Möglichkeiten zur Verfügung zu haben, weil er alles kann. Er tanzt mit der Kamera. Und man merkt besonders an der Lichtsetzung, dass er viel in Amerika arbeitet. Wir wollten optisch in die Vollen greifen: Wenn deine Hauptfigur im Film zum Star aufsteigt, dann muss auch die Optik groß sein. Das ging mit Jörg sehr gut und ein weiterer Vorteil war, dass er Jack Unterwegers Geschichte nicht kannte. Corinna Harfouch übrigens auch nicht. Das hat mich noch mehr freigespielt.

 
Zur Arbeit an der inneren Figur kam gewiss jene an der äußeren Figur hinsichtlich Kostüm und Maske dazu. Was gab es da zu tun?

ELISABETH SCHARANG: Die ersten Maskentests gab es eineinhalb Jahre vor dem Dreh. Wenige Monate vor Drehbeginn wurden dann Unmengen an Perücken ausprobiert und schließlich angefertigt. Viel Arbeit wurde in den Zeitsprung – junger Jack 1974 und 15 Jahre später – hineingesteckt. Es war nicht wichtig, hier mit Silikonteilen Wunder zu bewirken, sondern die Energie eines Menschen herzustellen, der in einem Art Rauschzustand ist. Bei Birgit Minichmayr entschieden wir ebenfalls, sie stark zu verändern. Wir haben bei der Optik unserer Figuren nicht einfach in die Funduskiste gegriffen, um eine Zeit zu erzählen. Vielmehr wollten wir einen Zeitrahmen abstecken, der sich nie in den Vordergrund spielt, weil es für die Geschichte nur am Rande wichtig ist. Im Vordergrund stand, Coolness zu erzählen mit Zeitzitaten, die immer wieder aufblitzen. Die Kostüme von Corinna Harfouch und Johannes Krisch sind deshalb fast ausschließlich angefertigt.

 
Der Film wird zum Ende hin sehr elliptisch. Er verweigert eine kriminalistische Aufklärung  und zeigt auch nie Jacks dunkle Seiten. Das bleibt in den Köpfen der Menschen. Warum?

ELISABETH SCHARANG:  Ich wollte an meiner Figur dranbleiben. „Der Fall Jack Unterweger“ wäre ein anderer Film und die Frage der Schuld muss, davon bin ich zutiefst überzeugt, jede Zuschauerin und jeder Zuschauer mit sich selbst klären – ich kann sie nicht beantworten. Am Ende des Lebens bleibt man alleine mit der Frage über „Was habe ich getan?“ ; ganz egal, wie Gerichte entscheiden oder wie die Gesellschaft einen beurteilt. Ich habe meiner Figur die Möglichkeit gegeben, sich am Ende damit auseinanderzusetzen.

 
Haben Sie das Gefühl, dass der Fall symptomatisch war für eine liberale Gesellschaft Anfang der neunziger Jahre, die sich in ihrer geübten Toleranz gefiel?

ELISABETH SCHARANG: Die Toleranz ist immer nur so lange da, solange man nicht selbst betroffen ist und einen Abstand wahren kann. Diese Spielregeln muss man kennen. Im Kunst- und Kulturbereich muss man schon gut auf dem Boden stehen, um mit Erfolg und Misserfolg umgehen zu können. Es ist nicht einfach, dass man Applaus bekommt, dieser dann wieder verstummt und beides nie etwas mit der eigenen Person zu tun hat. Jack erliegt dem Irrglauben, das wohlgesonnene Umfeld für Freunde zu halten. Auf der anderen Seite gab es eine breite Unterstützung von Künstlerinnen wie Elfriede Jelinek für eine vorzeitige Haftentlassung von Jack Unterweger. Aber das darf man nicht als Unterstützung seiner Person missverstehen, sondern als ein politisches Statement für einen gelockerten Vollzug und eine Justizreform. Unterweger stand stellvertretend für eine gelungene Resozialisierung. Und es stellte sich zurecht die Frage, ob man jemand, der fünfzehn Jahre im Gefängnis gesessen und sich dort etwas aufgebaut hat, nicht besser dabei unterstützt, in der Gesellschaft draußen ein Leben zu führen anstatt ihn im Gefängnis durchzufüttern. Reinschauen kann man in die Leute nie, ein Risiko bleibt immer bestehen. Menschen sind grundsätzlich ein Risiko.

 
Optisch dringen immer wieder Bilder aus der Natur, besonders des Waldes in die Erzählung.

ELISABETH SCHARANG: Die Natur wird da sein, wenn wir nicht mehr da sind. Sie bleibt völlig unbeeindruckt von Tod und Leben. Der Wald ist für mich einerseits der Tod, der Ort, an dem die Leichen der Mordopfer gefunden wurden und gleichzeitig ist er das Leben. Die Naturbilder sind eine wichtige Ebene, um eine andere Perspektive auf die Geschichte zu werfen.

 
Warum optierten Sie für eine Musik von Naked Lunch?

ELISABETH SCHARANG: Es war für mich klar, dass ich Musik von Naked Lunch wollte. Die Stimme von Oliver Welter bringt eine Dimension von Jack ein, die ich nicht visualisieren kann. Olivers Stimme bringt die innere Zerrissenheit meiner Figur zutage und öffnet einen Raum, den wir  sonst nicht betreten könnten. Soweit hatten wir die Musik gemeinsam besprochen. Was sie dann gebracht haben, ging weit über das hinaus, was ich mir hatte vorstellen können. Ich war unglaublich glücklich über das Ergebnis, es hat den Film noch einmal auf eine andere Ebene gebracht. Den Schluss-Song, in dem Oliver Welter und Johannes Krisch gemeinsam singen, haben wir erst gestern aufgenommen – das war der krönende Abschluss für mich. Ich arbeite grundsätzlich gerne mit Menschen, von denen ich ein großer Fan bin. Ich bin auch ein großer Fan von Birgit Minichmayr und von Sarah Viktoria Frick. Sarah habe ich zweimal mit Johannes Krisch im Theater gesehen und war hingerissen. Jack ist ihr erster großer Film und es freut mich besonders, wenn ich jemanden ganz toll finde und es mir gelingt, diese Person in meine Geschichte einzubinden.

 
Sie lassen durchklingen, dass die Arbeit für Jack eine ganz außergewöhnliche und befriedigende Arbeit für Sie war.

ELISABETH SCHARANG: Absolut. Freispielen hieß der Grundsatz. Ich habe gelernt, was ich in früheren Spielfilmprojekten als sehr beengend und anstrengend erlebt habe, anders zu gestalten. Es ist kein Zufall, dass mein Dokumentarfilmprojekt über alternative Arbeitsformen Kick Out Your Boss parallel dazu gelaufen ist. Ich habe dabei viel darüber erfahren, wie man in einem Team arbeiten und Verantwortung abgeben kann. Wie kann man das ganze Potenzial eines Menschen in ein Projekt holen? Was braucht er dafür? Freiheit und Vertrauen. All das konnte ich gleich für Jack einsetzen. Und ich habe das Gefühl, der Flow setzt sich fort. Es ist immer das gute Gefühl da, zu wissen, was man tut. Und wenn man’s einmal nicht weiß, macht es auch nichts.
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juli 2015
«Die  Frage nach dem Umgang mit der Schuld zieht sich durch den Film. Was treibt diese Figur? Wie zieht sich die Schleife, in der er hängen bleibt, immer enger zu?»