INTERVIEW

Andrea Maria Dusl im Gespräch über BLUE MOON

 

Als dann der Eiserne Vorhang fiel, war es blitzartig möglich, diese fremde Welt zu betreten. Es waren Menschen wie du und ich dort in ihrer funktionierenden Welt. In den Geschäften sind aber andere Sachen verkauft worden, die Menschen hatten andere Sehnsüchte und andere Paradiese in ihren Herzen. Es war sehr aufregend, diese völlig andere Welt, zu entdecken.

 

Inwiefern gab der Fall des Eisernen Vorhangs Anstoß zu Blue Moon?

ANDREA MARIA DUSL: Unsere Generation ist aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass da drüben das Reich des Bösen ist. Da war der Eiserne Vorhang und dahinter der Kommunismus und die Raketen und alles war gefährlich. Als dann der Eiserne Vorhang fiel, war es blitzartig möglich, diese fremde Welt zu betreten. Es waren Menschen wie du und ich dort in ihrer funktionierenden Welt. In den Geschäften sind aber andere Sachen verkauft worden, die Menschen hatten andere Sehnsüchte und andere Paradiese in ihren Herzen. Es war sehr aufregend, diese völlig andere Welt, zu entdecken. Am ersten Tag, wo es möglich war, ohne Visum hinüberzufahren, fuhren wir nach Bratislava, es war November, regnerisch und neblig und in ihrer ganzen Hässlichkeit war das eine sehr romantische Welt. Wir beschlossen, sofort wieder zu fahren, jedes Mal ging es weiter in den Osten. Es war faszinierend, eine völlig intakte Welt zu entdecken, die nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und ich bekam das Gefühl, einen Film über die Entdeckung dieser anderen Welt machen zu müssen, eine Geschichte von Sehnsucht und der Erfüllung von Sehnsüchten.

 

Diese Reisen waren also die Grundlagen für das Drehbuch?

ANDREA MARIA DUSL: Das Drehbuch sah am Anfang anders aus. Der ursprüngliche Reisebogen ging gar nicht so weit in den Osten. Allein das südliche Polen war schon absurd exotisch. Als die Realisierung konkret wurde, machte ich noch ein paar Motivreisen. Aber die Welten, die ich beim Drehbuchschreiben in mir gehabt hatte, weil ich sie von den vorhergehenden Reisen gekannt hatte, die existierten nicht mehr. Krakau schaut jetzt wie Florenz aus, ist mondän und elegant und es hat nichts mehr von dieser versunkenen Welt. Ich habe die Bilder immer wieder nachjustierten müssen, das war manchmal sehr schmerzlich, weil wunderbare Sachen nicht mehr funktionierten.

 

Hat Blue Moon auch dokumentarische Elemente?

ANDREA MARIA DUSL: Es sind viele echte, erlebte Geschichten, die mir Menschen erzählt haben ins Drehbuch eingeflossen. Die Ziegelstein-Geschichte ist eine wahre Geschichte und auch die von der Lehrerin mit ihrem kleinen Mädchen. Ich hab dann auch aus dem Internet noch sehr viele Geschichten herausgeschält. Es gibt viele Reportagen von ganz normalen Menschen, die im Internet über ihr Leben berichten. Die hab ich exzessiv gesucht und Bilder und Situationen gefunden, die mir sehr halfen, die Wirklichkeit nachzubilden. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsste mich immer wieder von diesen Bildern entfernen, um sie klarer zu sehen. Ich habe sehr viele Fotos und Videoaufnahmen gemacht. Unendlich viele. Wenn ich an den Orten war, hab ich die Wirklichkeit aber nicht so deutlich gesehen wie aus der Entfernung. Das ist ein komischer Effekt. Ich hab mir deswegen beim Recherchieren die Arbeitstechnik angewöhnt, die Dinge nicht auf ihre Wichtigkeit zu überprüfen. Ich hab' sie nur wahrgenommen und eingefangen und erst später auf ihre Wichtigkeit überprüft. Hätte ich dort am Ort entschieden, hätte mich irgend etwas getäuscht. Das ist sozusagen antidokumentarisch, obwohl es ja eigentlich hyperdokumentarisch ist. Die Geschichte spielt sehr stark auch mit Klischees. Erstens hab ich Angst vor Klischees, zweitens passierten sie mir ununterbrochen. Nichts ist so gefährlich wie Klischees, weil sie ununterbrochen passieren und sich auch ununterbrochen bewahrheiten. Wir finden es unmoralisch, Klischees zu haben, aber Klischees sind eigentlich Verdichtungen von Wahrheit. Es tut ja auch weh zu sagen, im Osten sind die Leute arm und es gibt viele Mafiosi. Aber es ist wahr. Es gibt arme Leute, es gibt Mafiosi, es gibt Korruption. Man kann das Klischee brechen und sagen, das will ich jetzt nicht und sagen, ich will etwas anderes und hinter die Menschen schauen. Das kann man auch machen, aber die Klischees existieren trotzdem. Es ist eine Gratwanderung, zwischen dem, wie viel ich zu lasse und dem, wie viel ich künstlich abwerfen muss.

 

Wie fiel die Wahl auf Odessa?

ANDREA MARIA DUSL: Hinter Odessa steht die Idee, einen Punkt zu finden, der das Ende der Welt markiert. Ein Ort, wo ein Hafen ist, wo man nicht mehr weiter kann, ohne ein Schiff zu nehmen oder ins Meer zu springen. Das ist für mich ein Symbol für das Ende der Welt. Der naheliegendste Punkt im Osten war Odessa. Wir fuhren 1995 hin, dieser Ort hat seine Magie behalten und es spannte sich ein Reisebogen zwischen Wien und Odessa auf. Dazwischen liegt Lviv, das frühere Lemberg, das ein Flair hat, wie ich es vor zehn Jahren in Krakau empfunden habe. Kiew, wo wir auch gedreht haben, ist die zweitgrößte ehemalige sowjetische Stadt, in der wollte ich, drehen, um eine urbane Situation zu haben.

 

Die Geschichte des Filmprojekts Blue Moon begann somit schon Anfang der neunziger Jahre?

ANDREA MARIA DUSL:  Ursprüngliche habe ich eine Geschichte in vielen kleinen Teilfragmenten geplant, jedes davon wollte ich privat finanzieren, wie Werbespots ins Kino bringen und dafür zahlen. Ich habe sechs solcher Folgen auf 35 mm mit je zwei Minuten Länge gedreht. Das Projekt hieß In 80 Tagen um die Welt. Mit Jules Verne hatte das gar nichts zu tun, ich wollte 80 kleine Geschichten erzählen. Bis mir bewusst wurde, dass ich einen anderen Weg gehen musste. Ich packte die Geschichten alle in eine und so entstand Blue Moon.

 

Was hat es mit diesem Titel auf sich?

ANDREA MARIA DUSL:  Ich wollte einen Titel, der in allen Sprachen funktioniert. Es gibt den Mythos von "Blue Moon" – die Situation, wo ein Monat zwei Vollmonde hat. Für mich war es die Metapher für die Begegnung des Helden und der Heldin, deren Wege sich auf ganz bizarre Weise zweimal innerhalb eines Monats kreuzen. In der ersten und letzten Einstellung kann man, wenn man sich nur auf den Himmel konzentriert, den Vollmond sehen.

 

Welche Funktion haben die aus dem Off erzählten Erinnerungen an die Kindheit?

ANDREA MARIA DUSL: Die Großmutter hat die Funktion, dem Helden, Johnny Pichler, mehr zu geben als seine Gegenwart. Er hat ja keine sichtbare Geschichte. Ich wollte ihn ja vom Ort seiner Herkunft loslösen und zu einem völlig neuen Menschen machen, der die Geschichte abgelegt hat und deswegen fähig ist, eine neue Geschichte zu erleben. Die Kindheitserzählungen sind kleine Fetzen an provinzieller Erinnerung. Ich glaube, wir alle haben solche Geschichten und Mythen im Kopf, die dann auftauchen, wenn wir versuchen, uns Situationen begreifbar zu machen. Jeder Mensch hat solche eigenen Märchen, die im Kopf herumliegen.

 

Die Eröffnung mit einer Einstellung auf die Treppe von Odessa ist ein Statement?

ANDREA MARIA DUSL: Diese Treppe in Odessa ist uns so bekannt, weil Eisenstein dort seine berühmte Szene gefilmt hat. Ich hab mir diese Szenen sehr genau angeschaut, der Mythos, den wir von dieser Treppe und dem Kinderwagen haben ist im Grunde viel stärker als wenn wir diese Bilder jetzt frisch sehen würden. Es war zu seiner Zeit filmisch großartig. Heute würde das niemanden mehr vom Hocker reißen. Das einzige, was wir sehen ist ein Mythos, der sich verselbständigt hat und es war mir klar, dass ich ihn nicht auslassen darf. Nur hab ich die Treppe reduziert auf das, was sie ist. Eine Verbindung von oben nach unten. Wenn ich zu zitieren angefangen hätte, hätte das nicht funktioniert. Das wäre sehr platt, kindisch und billig gewesen. Aber diese riesige Treppe hat eine stille Würde, sie ist weder spektakulär noch ein architektonisches Experiment – einfach eine Treppe, relativ lang und breit, man geht von der Terrasse, auf der die Stadt liegt, zum Hafen und genau das macht meine Heldin: sie geht da hinunter. Sie ist in einer schlimmen Situation und weiß, wenn sie da runtergeht, wird sie etwas erleben. Es ist wie das Überschreiten einer Grenze. Für mich ist die Treppe von Odessa der Ersatz für den Eisernen Vorhang. Man kann wieder von einem Ort an den anderen gehen und deshalb hab ich das an den Anfang des Filmes gestellt. Es gibt drei sehr starke Figuren und auch drei sehr starke Schauspielerpersönlichkeiten.

 

Wie sind Sie zu diesem Casting gekommen?

Andrea Maria Dusl: Der Film hat aber eine sehr starke männliche Figur gebraucht, der man das abnimmt. Ich habe die Rolle ursprünglich für Rainer Egger geschrieben. Ich hab das Drehbuch später Josef Hader geschickt, er sagte zu und wir haben einige Wochen gemeinsam die Figur und einige Situationen weiterentwickelt. Es war sehr angenehm, mit Josef zu arbeiten, weil er auf eine sehr gute Art und Weise kein Schauspieler ist. Seine Art zu arbeiten ist sehr spontan und impulsiv. Es gab immer wieder etwas Neues, das Arbeiten mit ihm war spannend und auf eine sehr erfrischende Art aus dem Boden gestampft. Detlev Buck, der sehr früh auf meiner Wunschliste war, hab ich auch das Drehbuch geschickt. Die Figur des Ignaz Springer ist die des entwurzelten Ostdeutschen, der drüben hängen geblieben ist. Es gab früher viele Ostdeutsche, die Russisch konnten und sich in den zerberstenden kommunistischen Systemen gut zurechtfanden, die zog es nach dem Fall der Mauer gar nicht in den Westen. Ich hielt es erst für eine utopische Idee, weil Detlev in Deutschland ein wirklicher Star ist. Eines Tages rief er mich an, bizarrerweise aus Hollywood, von einem Dreh mit Arnold Schwarzenegger und schlug vor, dass wir uns treffen. Unser erstes Mal, unser erstes Treffen hatten wir in Kiew.

 

Wie kamen Sie auf Viktoria Malektorovych?

ANDREA MARIA DUSL: Für die Jana, die weibliche Hauptdarstellerin machten wir Castings in Kiew. Viktoria ist einfach heraus gestochen aus allen Castingbändern. Sie ist in der Ukraine ein Star, das wusste ich erst gar nicht, für mich war wichtig, was sie transportiert. Sie hat gleichzeitig Zerbrechlichkeit und Kraft ausgestrahlt, das war die Kombination, die diese Figur gebraucht hat. Für Blue Moon hat sie Deutsch und auch Autofahren gelernt. In der Ukraine gibt es keine Filmindustrie mehr. Ich fürchtete, es würde mit den Schauspielern für die Nebenrollen nicht leicht sein, da habe ich mich gründlich getäuscht, die haben phantastische Schauspieler. Die Schauspieler kamen immer aus den Städten, wo wir gedreht haben. Die verschiedenen Sprachen waren etwas sehr Faszinierendes.

 

Das Drehbuch enthält auch Dialoge in anderen Sprachen als Deutsch?

ANDREA MARIA DUSL: Ja. Dialoge in Slowakisch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch. Ich spreche kein Russisch und nur sehr wenig Slowakisch. Ich hab das Drehbuch auf Deutsch geschrieben, Szenen, die ich auf Russisch oder Slowakisch haben wollte, hab ich übersetzen lassen. Es ging mir darum, dass es Dinge gibt, die man nicht versteht. Wir sind ja so überspachtelt mit Dauerverständnis, alles wird ununterbrochen übersetzt oder untertitelt. Das Leben ist ja gar nicht so. Wenn wir jetzt da rüber fahren, verstehen wir nichts, alles kann alles bedeuten und die Missverständnisse, die sich aus dem Nichtverstehen ergeben, sind das Salz in der Suppe der Erinnerung. Eine interessante Spannung schaffen die beiden Ebenen von Film und Video ... Mein Held, Johnny Pichler, hat etwas von einem Autisten. Er nimmt alles wahr, hat aber keine großen Fähigkeiten, das Erlebte in Sprache zu reflektieren. Er kann sich ganz gut durchschlagen, kann brenzlige Situationen meistern oder sich am Leben halten. Ich wollte ihm ein Mittel geben, von dem er gar nicht gewusst hat, dass es auch eine Art von Sprache ist: Das Medium Film. Er benützt die Kamera am Anfang ganz zufällig, indem er aufnimmt, was ihm gerade widerfährt. Johnny fängt Wirklichkeit ein, ohne dass er sie in einem größeren Zusammenhang sieht. Am Schluss, in der letzten Videossequenz gibt er uns eine Reflexion davon, wie er die Welt wahrgenommen hat. Sicherlich eine besondere Herausforderung für den Kameramann ... Wolfgang Thaler, mein Kameramann, hat vor zehn Jahren dieselbe Reise gemacht es sind ihm ähnliche Dinge widerfahren und er hat sofort verstanden, worum es in diesem Film geht. Er ist ein ganz wichtigen Eckpfeiler in diesem Film gewesen. Der Film ist mit Handkamera gemacht, es ist aber nicht die Handkamera, die wir gewohnt sind, dieses verwackelte Herumirren in Räumen, die Kamera atmet vielmehr mit den Menschen und mit den Räumen und nie ist sie unruhig. Man nimmt sie oft gar nicht als Handkamera wahr, so ruhig ist sie. Sie haucht dem Film noch zusätzliches Leben ein. Und das unter den super erschwerten Bedingungen, unter denen wir drehten! Zwölf Stunden am Tag, sieben Wochen lang.

 

Wer war für Sound und Musik verantwortlich?

ANDREA MARIA DUSL: Wir hatten einen sehr brillanten Originalton. Ekkehart Baumung hat mit Kameramann Wolfgang Thaler schon für Ulrich Seidls Hundstage gearbeitet, sie waren aufeinander eingespielt wie ein Dokumentarteam, flexibel, unaufgeregt. Deshalb konnte ich auch Sachen erzählen, die normalerweise in Spielfilmen nicht möglich sind. Das war nur in dieser Konstellation möglich. Die Musik hat Christian Fennesz gemacht, er kommt aus der Elektronik, ist ein international begehrter Elektronik-Musiker, der ununterbrochen zwischen Chicago, Paris und London unterwegs ist, ich wollte so einen hyperurbanen Menschen mit diesen seltsamen Bildern aus dem Osten konfrontieren. Es ist die Begegnung eines sehr modernen Jetzt mit einem - man könnte fast sagen – Country-Ethno.

 

Wie schwierig waren die Drehbedingungen?

ANDREA MARIA DUSL:  Das Budget war für einen ersten Film, glaub' ich, sehr gut gepolstert. Für einen Film unter diesen Bedingungen war es aber nicht sehr viel. Wir haben viel Sachen gemacht, die üblicherweise mit so einem Budget nicht möglich gewesen wären. Das hat damit zu tun, dass drüben vieles billiger ist, zweitens habe ich diesem super eingespielten technischen Team viel zu verdanken, drittens hatten wir eine sehr gute Vorbereitung. Ich hatte den ganzen Film mit den Schauspielern Wochen vorher intensiv einstudiert, es gab nie Überraschungen. Und vor dem Dreh hatte ich noch einen intensive Woche mit den drei Hauptdarstellern, in der wir den ganzen Film durchgespielt haben. Das hat es sehr viel leichter gemacht und komischerweise spontaner. Wir haben nicht mehr nach Worten, sondern nach etwas anderem gesucht. Es hatte etwas von Wanderzirkus, die gleiche Show an verschiedenen Orten aufzuführen, und wie beim Zirkus war es dann immer eine andere Show.

 

Interview: Karin Schiefer (2002)