INTERVIEW

«Die Korida-Betreiber waren die ersten, die sich nach dem Krieg wieder die Hand gereicht haben.»

Siniša Vidović hatte für seinen ersten langen Dokumentarfilm eine Hommage an die friedensstiftende Rolle der bosnischen Korida im Sinn. Als er mit den Dreharbeiten für Korida begann, entpuppte sich das menschenverbindende Spektakel jedoch zum Seismografen für schwelende Konflikte in Bosniens Nachkriegsgesellschaft. 


 
Im Film heißt es „die bosnische Korida ist menschlicher als die spanische.“ Was charakterisiert nun die bosnische Korida? Wie sehen ihre Regeln aus?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die bosnische Korida kein Kampf zwischen Mensch und Tier ist, sondern zwei Stiere gegeneinander kämpfen. Das Ende des Kampfes steht dann fest, wenn einer der Stiere sich umdreht, wegläuft und nicht mehr kämpfen will. Der Umstand, dass der Stier selbst entscheidet, kann dazu führen, dass ein Kampf drei Stunden dauert oder gar nicht stattfindet. Das führt auch dazu, dass die Tiere 15 Jahre und älter werden und eines natürlichen Todes sterben. Die Stiere werden für den Stierkampf trainiert, sie sind keine Nutztiere und die Stierbesitzer legen großen Wert auf ihren Stammbaum. Auch legen sie wert auf die Unversehrtheit des Tieres: Die Hörner werden abgestumpft, sodass sie sich beim Kampf nicht verletzten können.
 
 
Die Geschichte der bosnischen Korida ist mehr als 240 Jahre alt. Wie hat sich die gesellschaftliche und auch symbolische Funktion der Korida in ihrer Geschichte entwickelt? Wie hat sie im Laufe dieser Zeitspanne trotz kriegerischer Auseinandersetzungen überlebt?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Ich erfuhr selbst erst durch meine Recherche von der langen Geschichte der Korida. Wichtig ist, dass sie die Menschen verbindet und dass es nicht um Tierquälerei geht. Vor dem letzten Krieg, also als Jugoslawien noch als Staatenbund existierte, gab es jährlich zwischen fünf und zehn Koridas in Bosnien, die bis zu 150.000 Zuschauer und mehr angezogen haben. Da sie selten stattfand, bedeutete sie ein Highlight im Jahreszyklus. Es gibt dort kaum anderes Unterhaltungsangebot. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie gewissermaßen privatisiert und es gibt bis nun bis zu 100 Koridas im Jahr – viel zu viele wie manche sagen. Fast jedes Dorf hat seine eigene. Es gibt kein Meisterschaftsprinzip, aber die großen Koridas sind so etabliert, dass der Titel dort etwas Außergewöhnliches und Prestigereiches ist.
In den Gegenden, wo ich gedreht habe, hat es während des letzten Krieges die brutalsten Auseinandersetzungen gegeben. Jetzt stehen Menschen, die gegeneinander gekämpft haben, bei der Korida nebeneinander und unterhalten sich. Einige meiner Protagonisten haben sich sehr stark engagiert. Sie begannen nach dem Krieg, sehr früh innerhalb Bosniens zu reisen, auch in Gegenden, wo sie auf Grund ihrer Ethnie nicht erwünscht waren, weil ihre Leidenschaft für den Stierkampf so stark war. Der gemeinsame Stierkampf begann viel früher als der Austausch zwischen ehemals verfeindeten Gruppen über sportliche Ereignisse oder kulturelle Initiativen. Die Korida-Betreiber waren die ersten, die sich nach dem Krieg wieder die Hand gereicht haben. Vielen der Zuschauer geht es viel weniger darum, wer gewinnen wird, sondern ums Zusammensein. Man kann sagen, es ist eine der wesentlichen Initiativen zur Versöhnung, die abseits der Politik von den Menschen ausgeht. Die Existenz der vielen Koridas im heutigen Bosnien zeigt zugleich, dass mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens die Menschen nun wieder völkerverständigende und – vereinigende Events wie diese hier brauchen und sich nach diesen sehnen.
 
 
Wie sieht Ihr persönlicher Bezug zu Bosnien aus?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Meine Eltern kommen aus Bosnien, waren aber aus beruflichen Gründen nach Kroatien ausgewandert und ich bin daher in Kroatien geboren. Dennoch erlebe ich Bosnien als meine zweite Heimat, ich habe dort immer meine Ferienzeit verbracht, auch meine Frau kommt aus Bosnien. Seit 1992 lebe ich in Österreich. 
 
 
Was veranlasste Sie, sich filmisch mit dem Thema zu befassen?
 
SINIŠA VIDOVIĆ:  Als ich 2009 zu recherchieren begann, tat ich das mit einer Spielfilmidee im Hinterkopf. Im Zuge meiner Recherchen im Stierkampfmilieu begann meine Faszination für die echten Menschen hinter den Stierkämpfen immer größer zu werden. Ich beschloss, vor dem Spielfilm einen Dokumentarfilm zu drehen um diesen Menschen ein Denkmal zu setzen. Zuerst dachte ich an eine kurze, schnell gemachte Doku, die in 2-3 Monaten fertig hätte sein sollen. Als ich jedoch mit der Idee zu Arash T. Riahi und der Golden Girls Filmproduktion ging, entwickelte sich aus der gemeinsamen Zusammenarbeit und Diskussionen das Konzept eines komplexeren Kinodokumentarfilmes, der der vielschichtigen Natur des Themas gerecht wird. Wichtig blieb für mich auch beim Dokumentarfilm das Storytelling und eine gewisse Spannung, die ich dadurch aufrecht erhalten wollte. Es gibt in Korida einige parallele Erzählstränge – von Stipes Flucht 1992 bis zur Reise der Enkelkinder nach Bosnien, wo sie – gleichsam einer Initiation – der Schlachtung eines Schafes beiwohnen. Oder Renata, die am Ende trotz vieler Hürden zur Siegerin wird. Ich wollte, dass diese Menschen mir ihre Geschichten mit ihren Worten erzählen. Mir ist diese Art des dokumentarischen Erzählens näher als das reine, distanzierte Beobachten wie es im Direct Cinema üblich ist. Es ging mir darum, über den Stierkampf eine Geschichte von den Menschen, von meinem Land zu erzählen und damit den Zuschauer auf eine Reise zu bringen.
 
 
Die Ereignisse während des Drehs scheinen den Film in eine andere Richtung gelenkt zu haben. Wie sah Ihr ursprünglicher Ansatz aus, mit dem Sie in das Projekt gegangen sind? Wie sah das mit Senad Halilbašić entworfene Konzept aus?  
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Nachdem ich mit Senad die ersten Koridas besucht hatte, gab es für mich zwei Motoren: Das eine war die visuelle Kraft der Tiere beim Kampf, das zweite war die friedensstiftende und völkerverbindende Kraft dieser Stierkämpfe. In der dramaturgischen Zusammenarbeit mit Senad standen wir vor der Frage, in welche Richtung wir gehen sollten. Es war auch wichtig, nicht nur Serben zu zeigen, sondern alle drei Bevölkerungsgruppen vertreten zu wissen, ohne jedoch der jeweiligen Identität eine übertriebene oder gar betonende Wichtigkeit zu geben. Eingangs waren wir näher an einer Sport-Dramaturgie, insofern als auch die Frage, welcher Stier gewinnen würde, im Raum stand. Unsere Absicht war es, die Leidenschaft und die Liebe, die die Menschen zum Stierkampf und den Tieren entwickelt haben, zu zeigen. Die Beziehung zwischen Mensch und Stier, der Umgang mit Sieg und Niederlage – diese Aspekte standen für uns im Vordergrund. Dann kamen völlig unvermutet die Anschläge dazwischen. Hätten wir das in ein Drehbuch geschrieben, hätte man es als unglaubwürdig abgetan. Ein weiteres unvorhersehbares Ereignis, war das Verbot der Grmeč-Korida – etwas, was in über 240 Jahren nie vorgekommen ist. Das hat unserer Filmarbeit nochmals eine neue Dynamik verliehen. Auf so etwas muss man gefasst sein, schnell reagieren und hoffen, dass man nicht Wochen umsonst investiert hat, weil der Film plötzlich eigene Wege geht. Man kann in diesen Momenten nur am Ball bleiben. Ob es für den Film gut ist oder nicht, kann man in diesem Moment nicht sagen. Natürlich steht der Produzent im Hintergrund, die Kosten, das Team ... Aber man spürt, dass man da an etwas dranbleiben muss, auch wenn der Film gar nicht so geplant war. So hat unser dramaturgisches Konzept über Jahre hinweg stets auf neue Situationen reagieren müssen – und so kamen wir dem, was wir erzählen wollten, immer näher. Im Endeffekt sind ja alle Beteiligten daran interessiert einen einzigartigen Film zu machen und dem Zauber der dokumentarischen Realität Raum zu bieten.
 
 
Was haben diese Ereignisse mit dem Team gemacht? Welcher Bewusstseinsprozess hat bei Ihnen eingesetzt?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: In der Zeit, als wir die Proteste filmten, sind wir sehr viel gereist und haben auf den langen Fahrten sehr viel innerhalb des Teams, aber auch mit den Leuten dort diskutiert. Ich war sehr irritiert über das, was passiert ist. Meine Intention, das „Friedensprojekt Korida“ zu filmen, war über den Haufen geworfen, meine eigene Vorstellung davon in Frage gestellt worden. Ich hatte weder mit den Protesten noch mit den Hassausbrüchen gerechnet. Auf einmal brach da ein Gefühl von Unzufriedenheit und Hilflosigkeit durch. Die Menschen fühlen sich vom Staat total im Stich gelassen, obwohl es freie Wahlen gibt. Da wurde uns dann klar, dass es nicht ein Film über Stierkampf werden würde, sondern ein Film über Bosnien und die Nachkriegszeit. Die Korida wurde für mich zur Metapher für Bosnien. Ich könnte den Film vielleicht auch Bosnien nennen, klingt halt nicht sehr attraktiv. Ich sah, was mit der Korida passiert, wenn sich Politik und Religion zu stark dabei einmischen. Zuviel Politik ebenso wie zuviel Religion destabilisiert das friedliche Zusammenleben. Es ist nicht die Aufgabe der Religion, zu urteilen und damit zu polarisieren. Man erlaubt der Religion wie der Politik einen viel zu starken Einfluss, daher funktioniert Bosnien seit über zwanzig Jahren nicht. Die Korida funktionierte gut, solange Politiker nicht eingeladen waren. Wenn Politiker bei Koridas eine Rede hielten, wurden sie ausgebuht. Die Leute wollten sie da nicht.
 
 
Wie stark ist Versöhnung ein Anliegen der Politik in Bosnien?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Es gibt nach wie vor Menschen in Bosnien, die das friedliche Zusammenleben der Menschen in diesem Land nicht gerade forcieren. Die Menschen haben verschiedenste persönliche Gründe, die ich zum Teil auch verstehen kann. Zu jemandem, der schwere Kriegstraumata erlebt hat, kann man nicht einfach sagen: „Sei nett zu den Serben oder den Kroaten“. Der Krieg steckt tief drinnen in den Menschen, da kann man nicht einfach heile Einigkeit einfordern. Das Zusammenleben ist dort sehr stark belastet und das kann man auch verstehen. Es gibt jene Menschen, die stark vom Krieg profitiert haben und heute Firmenchefs oder Politiker sind. Sie schauen darauf, dass es für sie selbst gut ausgeht. Was mit der Gesellschaft passiert, hat für sie keinerlei  Priorität. Die Grmeč-Korida, die verboten wurde, findet in einer Föderation auf bosnischem Gebiet statt. Serben kommen nur zum Wochenende, organisieren den Stierkampf und sind wieder weg. Sie wollen nur die Korida an ihrem ursprünglichen Platz veranstalten, bereiten freiwillig den Platz inklusive Reinigung und Parkplatzbeschaffung auf. Als alles praktisch fertig war, bekamen sie das Verbot. Und waren verärgert. All das wollte ich ursprünglich gar nicht thematisieren, aber anscheinend sind die Wunden so tief, dass nicht einmal ein Stierkampf abgehalten werden kann, ohne dass sie aufreißen. Und so musste es zum Thema werden, denn auch das ist Teil der Nachkriegsgesellschaft.
 
 
Sie erwähnten eingangs die visuelle Kraft des Stierkampfs, die ja ein Ansatzpunkt des Projekts gewesen war. Was bedeutete es, die Tiere zu filmen? Sie zeigen die Konfrontation der Tiere in Zeitlupe und mit Musik. Warum haben Sie sich da für diese Form der Überhöhung entschieden?
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Eine Kamera, mit der ich in Zeitlupe aufnehmen konnte, war von Anfang an ein Fixpunkt. Ich habe im Zuge meiner Recherchen viele Koridas als Zuschauer mit dem Fotoapparat in der Hand erlebt. Ich hab im Publikum das Leuchten in den Augen gespürt. Ich fand es faszinierend, mit welcher Leidenschaft die Leute dem Spektakel beiwohnten. Für mein Kamerakonzept war es mir ein Anliegen, die Tiere wie aus der Perspektive der Menschen dort zu betrachten. Sie erleben es nicht so nüchtern distanziert und in Echtzeit wie wir. Sie sehen jeden Muskel, jede Bewegung und kommentieren das auch. Mir war immer unklar, welcher Stier gerade kämpfte, sie hingegen wussten nicht nur, wie er hieß, sie nahmen sogar körperliche Veränderungen, die innerhalb eines Monats geschehen waren, wahr. Da stand ich vor der Frage, wie ich diese Faszination mit meinen Werkzeugen und Ausdrucksmöglichkeiten unterstützen könnte. Slow Motion und Musik boten sich da an. Beides sind ja Mittel, die in der Tierdokumentation nichts revolutionär Neues bedeuten. Punkto Musik wollte ich unbedingt mit Karuan zusammenarbeiten, um eine musikalische Verbindung zwischen Tradition, Orient und elektronischen Elementen herzustellen.
Dramaturgisch sollte die erste Korida im Film nur ein Appetizer sein, die zweite ist die Oster-Korida, die ich in Echtzeit ohne Zeitlupe zeige, die finalen Kämpfe kommen erst sehr spät im Film. Sehr viel von dem Stierkampfmaterial, das ich ab 2010 gefilmt habe, ist nicht im Film. Die Kameraarbeit selbst haben wir uns aufgeteilt, ich führte die Slow-Motion-Kamera, da ich niemand anderem zumuten wollte, in der Arena zu stehen. Es wäre zu riskant gewesen.
 
 
Welche elementare Kraft geht von so einem Stier aus, wenn man ihm so nahe ist?
SINIŠA VIDOVIĆ: Nachdem wir einmal hautnah erlebten, wie ein Stier knapp an uns vorbeidonnerte, hatten wir mehr als großen Respekt. Stärker als beim Kampf selbst habe ich diese enorme Kraft der Stiere in den ruhigen Momenten erlebt. Wenn ich bei den Stierbesitzern auf der Farm war und das Tier aus dem Stall herausgebracht wurde. Beim Kampf wird man auch durch den Lärm rundherum im Publikum abgelenkt, aber wenn nur wenige Leute da sind und dann kommt dieser Koloss aus dem Stall heraus, dann ist man sprachlos. Da hab ich so richtig Ehrfurcht verspürt. Im Unterschied zum spanischen Stier, der in der Hauptklasse 500 kg hat, haben die Stiere in Bosnien 1200 kg. Sie sind mächtig, imposant.
 
 
Mit welchem Gefühl haben Sie die Dreharbeiten abgeschlossen, um mit dem Schnitt zu beginnen.
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Das war ein sehr komplexes und mulmiges Gefühl, wie wir den Schnitt nun ansetzen würden. Ich bin Cordula Werner für ihre Arbeit sehr dankbar. Sie sagt „wir haben im Prinzip vier verschiedene Filme geschnitten“. Es hätten vier 90-Minüter werden können, wir haben uns dann für die komplexeste Version entschieden, die die verschiedenen Konflikte miteinbezog.
 
 
Der Film macht letztendlich deutlich, in welch fragilem Zustand politisch wie wirtschaftlich die Menschen dort leben.
 
SINIŠA VIDOVIĆ: Mir war immer bewusst, dass das Thema Krieg ein sehr sensibles Thema ist. Man geht dort mit dem Thema so um, als hätte man einen Elefanten in der Wohnung und tut so als würde man ihn nicht sehen! Überall sind die Spuren des Krieges präsent, die Leute haben aber die Schnauze voll und wollen nicht daran erinnert werden. Auch mich hat es anfangs nicht interessiert, da ich die politische Lage in den Medien mitverfolge und so erleichtert war, mit der Korida einmal einen positiven Aspekt im dortigen Leben entdeckt zu haben. Mit diesem Elan bin ich in das Projekt gegangen und wurde eines Besseren belehrt. Im Nachhinein betrachte ich es als ein Glück, dass sich die politische Dimension aufgedrängt hat. Es ist ein Film über ein Bosnien geworden, das auch viele Bosnier so nicht kennen.  Vielleicht wollen sie es auch nicht kennen.
 
 
Interview: Karin Schiefer
März 2016
 
«Es ist ein Film über ein Bosnien geworden, das auch viele Bosnier so nicht kennen. Vielleicht wollen sie es auch nicht kennen.»