INTERVIEW

«DIE NACHT DER TAUSEND STUNDEN ist eine lebende Familienaufstellung. Die Geheimnisse kommen zurück.»


«Die Nacht der tausend Stunden ist eine lebende Familienaufstellung. Die Geheimnisse kommen zurück.» Alexander Dumreicher-Ivanceanu im Gespräch über die Dreharbeiten von Virgil Widrichs neuen Spielfilm.
 
 
Anlässlich des Drehstarts hat Virgil Widrich erklärt, Die Nacht der tausend Stunden erzählt zeitlich gesehen zwei gegenläufige Bewegungen. Was kann man sich da näher darunter vorstellen?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Von der Time-Line her geht der Film immer vorwärts. Wir sind im Heute in einem Wiener Palais und das Leben der Menschen, die heute am Leben sind, geht weiter, allerdings wird es nicht mehr Tag. Es tritt ein Ereignis ein, das dazu führt, dass es Nacht bleibt und in dieser Nacht kommen die Toten der Familie zurück. Es gibt eine Handlung, die nach vorne zieht, sie beginnt damit, dass Philip, ein junger Mann Anfang dreißig, das Familienunternehmen von seinem Vater übernimmt. Er bekommt die Schlüssel des Hauses und der Unternehmens in die Hand und von da an nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Die Rückwärtsbewegung entsteht dadurch, dass Generation für Generation die Toten zurückkommen. Je länger der Film dauert, desto mehr Generationen an verstorbenen Familienmitgliedern treten auf den Plan. Das Haus wird immer mehr von der Vergangenheit vereinnahmt. Gleichzeitig entwickelt sich die Handlung der Gegenwart weiter nach vorne.
Ein unvorhergesehenes Ereignis löst am Beginn die Rückkehr der Toten aus, und als diese Pforte geöffnet wird, lässt sie sich auch nicht mehr schließen. Das Haus wird immer belebter oder genauer gesagt „betoteter.“ Die Toten kommen mit ihren Werten und Moralvorstellungen, Ideen und politischen Einstellungen zurück, so wie sie zu dem Zeitpunkt waren, als sie gestorben sind.
 
 
Das heißt auch,  die Amour Fou als Produktionsfirma wird einmal mehr ihrer Mission gerecht, erzählerischen Experimenten Raum zu geben.
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Mission gefällt mir. Ja in der Tat. Wir werden dieser Mission, erzählerische Experimente durchzuführen, gerecht. Und es wird dank der Arbeit von Virgil Widrich, Christian Berger und Christina Schaffer auch ästhetisch ein ganz spezieller Film werden. Wie bei Virgils Kurzfilm Fast Film wird die Filmgeschichte wieder eine Rolle spielen. Tote Familienmitglieder, die aus der Vergangenheit zurückkommen, werden mit einem Hauch, einer Ahnung des filmgeschichtlichen Set-ups um sie herum ausgestattet. Wenn sie aus den siebziger oder fünfziger Jahren kommen, dann wird man in ihrem Auftritt und in der Ästhetik, die in diesen Szenen herrschen, eine leichte Referenz an die Filmgeschichte, aus der Zeit, aus der sie kommen, mitspüren können.
 
 
Es klingt nach einem Projekt, das nach einem besonderen Zusammenspiel aller Departments ruft?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Wir haben ein hervorragendes internationales Team. Wir haben Virgil Widrich, der das Drehbuch geschrieben hat und Regie führt, Jean-Claude Carrière als dramaturgischen Berater, Christian Berger als Kameramann, und Christina Schaffer aus Luxemburg, die letztes Jahr bei der Diagonale für das Szenenbild von Fieber ausgezeichnet und als Art-Director von The Girl With The Pearl Earring bekannt wurde, macht das Szenenbild. Jede Generation, die auftaucht, beginnt auch das Haus wieder umzubauen. Es kommen mit den Toten nicht nur deren Werte und Moralvorstellungen zurück, sondern auch deren Ästhetik. Sie beginnen Bilder abzuhängen, stellen das Haus wieder um, weil sie der Meinung sind, dass man mit heutiger Kunst einfach nicht wohnen kann. Ausstattung, Kostüm und Maske greifen auf sehr ungewöhnliche Weise während des Drehs ineinander. Die Leute kommen in den Kostümen und im Look vom Tag ihres Todes zurück. Darin bleiben sie stabil, und die Ausstattung verändert sich ständig, weil das Haus permanent zurückgebaut wird und sich ins ursprüngliche Haus zurückverwandelt. Die Menschen verlangen auch ihre Zimmer zurück und sagen: „Entschuldigung, das ist mein Bett und außerdem werden wir jetzt diese hässlichen Bilder abhängen.“
 
 
Ergibt sich durch die Geschichten und Schicksale der zurückkehrenden Figuren nicht nur eine Reise durch die Filmgeschichte, sondern auch durch die österreichische Geschichte seit dem späten 19. Jahrhundert?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Es ist auch eine „Familienaufstellung Mitteleuropas“. Es geht über Österreich hinaus, da wir ja bis in die Zeit der Monarchie zurückgehen. Das 20. Jahrhundert kommt sowohl auf einer narrativen wie auch auf einer ästhetischen Ebene Schritt für Schritt zurück.
 
 
Welche Rolle spielt das Palais in der Geschichte?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Das Haus ist einer der Hauptdarsteller des Films. Wir haben es über viele Jahre entwickelt, und es wurde auch als Architekturmodell gebaut. Dieses Haus lebt, weil es ständig „umkostümiert“ und verändert wird. Es ist wie ein lebender Körper. die Figuren, die Darsteller bewegen sich in einem Haus, das selbst in Veränderung begriffen ist.
Die Außenaufnahmen, damit sind in erster Linie die Blicke aus den Fenstern, aus der Eingangstür, Blicke in den Garten gemeint, werden in Wien gedreht. Die Innenaufnahmen werden in den Filmland Studios in Luxemburg gedreht und ein Teil davon in Italien.
 
 
Eine wachsende „Hausgemeinschaft“ bedeutet, was die Besetzung betrifft einen Ensemblefilm. Wie sieht sie aus?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Im Zentrum des Ensembles stehen Philip und Renate. Philip ist der junge Unternehmersohn, der die Firma übernimmt, Renate ist seine Ende der dreißiger Jahre verstorbene Tante. Philip wird von Laurence Rupp gespielt. Für diese Rolle  haben wir zwei Jahre gecastet, wissend, dass wir in dieser Altersgruppe in Österreich niemanden haben, der berühmt ist. Laurence Rupp ist ein junger, sehr spannender Schauspieler, der seit eineinhalb Jahren am Burgtheater spielt. Renate, in die er sich verliebt, wird von Amira Casar gespielt. Sie ist unser Star, der Glamour in die Geschichte bringt. Auf dem Haus liegt ein Geheimnis, die beiden machen sich gemeinsam auf den Weg, dieses Geheimnis zu lüften. Um sie herum haben wir eine Familie „gebaut“, die funktioniert. Lisa Oláh, unsere Casterin, hat da eine großartige Arbeit geleistet. Wir haben u.a. Elisabeth Rath als Philips Tante Erika, Linde Prelog als Mutter, Johann Adam Oest als Vater, Barbara Petritsch als seine Großmutter und Luc Feit als Dr. Wisek, einen Arzt, der aus den fünfziger Jahren zurückkehrt. Lukas Miko spielt Philips Gegenspieler, seinen Cousin Jochen. Es ist ein Mord geschehen, aber die Leiche ist verschwunden. Während die Familienmitglieder herauszufinden versuchen, was passiert ist, taucht Udo Samel in einer Polizeiuniform aus der Monarchie auf und beginnt, die Ermittlungen im Haus so zu führen, wie man das um 1900 gemacht hätte.
Wir haben genau an diesem Tisch in den Räumen der Amour Fou Vienna, wo wir jetzt gerade das Gespräch führen, mit Virgil Widrich und den Schauspielern, die Philips Familie bilden, geprobt. ­ Einmal gingen wir nach der Probe gemeinsam Essen, was für mich ein sehr tolles Erlebnis war, da mir bewusst wurde, wie da gerade eine Familie schauspielerisch zusammenwuchs (die dann im Restaurant auch noch ein wenig in ihren Rollen drinnen blieb). Ich glaube, es war sowohl für Virgil als auch für die Schauspieler sehr wichtig, die Verhältnisse zueinander gemeinsam zu erarbeiten. Für die Dreharbeiten muss die Kernfamilie, die heute lebt und aus Philips Eltern, seiner Tante und seinem Cousin besteht, wirklich funktionieren. Sie ist es auch, die durch das Auftauchen der Toten ins Wanken gerät und am allerstärksten wird sie in ihren Grundfesten durch das Erscheinen von Renate in der Person von Amira Casar erschüttert, die das Geheimnis einbringt und in die sich Philipp unsterblich verliebt. Sie bringt Intelligenz, Glamour und Verführungskraft ein, dem Philipp verfällt.
 
 
Wird in dieser „Nacht der tausend Stunden“ das, was man sich in der Regel in langer und mühevoller Therapiearbeit über die Geschichte seiner Familie zusammenreimt, geballt vor Augen geführt?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Die Geschichte geht von der These aus, dass es in jeder Familie Geheimnisse gibt. Vieles, was wir von unseren Verwandten erfahren, stimmt ja nicht unbedingt oder hat sich in Wahrheit zumindest etwas anders abgespielt. Die Nacht der tausend Stunden ist eine lebende Familienaufstellung. Die Geheimnisse kommen zurück.  Es stellen sich Fragen wie – Um welche Geheimnisse geht es? Was passiert, wenn sie plötzlich auf dem Tisch liegen? Kann überhaupt alles aufgedeckt werden? Wie verändert sich durch das neue Bewusstsein über die Familie das Leben der Menschen heute? Der Film zeigt das Bild eines Menschen, hinter dem sehr viele andere Menschen stehen, nämlich seine Vorfahren. Es gibt ja Berechnungsmethoden, wonach man ausrechnen kann, nach wie vielen Generationen wir alle miteinander verwandt sind. Das reicht gar nicht so viele Generationen zurück, bis wir eine einzige große Familie sind. Dennoch ist es so, dass wir als Individuen dastehen und hinter uns aufgereiht eine immer breiter werdende Struktur an Menschen – 2 – 4 – 8 – 16 – 32 ... das geht ja blitzschnell, sodass sie alle, ohne dass wir etwas dafür oder dagegen tun können, Teil unseres Lebens sind, auch wenn wir sie nicht gekannt haben. Im Film geht es darum, was passiert, wenn die eigene Familienvergangenheit plötzlich auftaucht und man ganz konkret und real damit konfrontiert ist.
 
 
Wenn Vergangenheit und Gegenwart ineinander greifen, dann geraten auch reale und virtuelle Welten ineinander. Ist Die Nacht der tausend Stunden ein Spiel mit den Genres und mit der Verunsicherung des Zuschauers?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Es ist zugleich Mystery-Thriller und eine schwarze Komödie. Verunsicherung ja, insofern, als es ein Vexierspiel ist, eine Geschichte, die sich immer dreht. Zentrale Rolle spielt die Suche nach dem Geheimnis rund um die Familie und das Haus. Die Klärung des Geheimnisses führt zutage, wie manche Familienmitglieder in Wahrheit miteinander verbunden sind.
 
 
Wie war Jean-Claude Carrière in den Schreibprozess eingebunden?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Wir haben 2008 mit Virgil Widrich begonnen, an diesem Projekt zu arbeiten. Es war angesichts dieser vielschichtigen Geschichte ein sehr intensiver Schreibprozess. Je mehr Familienmitglieder auftauchen und je weiter man in der Familiengeschichte zurückgeht, desto komplexer werden die Beziehungen in der Familie. 2010/11 gab es einen Zeitpunkt, wo wir vor einer spannenden und zugleich sehr komplexen Drehbuchfassung standen. Da hat Virgil den Wunsch geäußert, mit Jean-Claude Carrière zusammenzuarbeiten. Das hatte zwei Gründe: zum einen weil er die Drehbücher der letzten Buñuel-Filme geschrieben hat, zum anderen, weil er auch als Berater zum Drehbuch von Das weiße Band fungiert hat. Jean-Claude Carrière ist ein unglaublich sympathischer, witziger, umfassend gebildeter Mann, der immer noch viel unterwegs ist. Er kam auf dem Weg zum Festival von Trencianske Teplice nach Wien, da ihm dort ein Ehrenpreis verliehen wurde. Ein Auto sollte ihn vom Wiener Flughafen dorthin bringen, Virgil erhielt einen Anruf von Jean-Claude Carrière, dass er auf der Fahrt von Wien nach Trencianske Teplice für ihn Zeit hätte. Virgil und er haben daraufhin auf der ganzen Autofahrt über das Projekt gesprochen, und so ist die Zusammenarbeit zustande gekommen. Virgil war dann in Frankreich, und sie haben gemeinsam am Projekt gearbeitet. Die Geschichte wurde von Virgil mit der Beratung von Jean-Claude teilweise umgeschrieben, teilweise vereinfacht, teilweise neu gedacht. In diesem kreativen Prozess ist dann die Fassung des Drehbuchs entstanden, mit der wir den Film finanzierten.
 
 
Die Produktion verfügt über ein für österreichische Verhältnisse beachtliches Budget. In welcher Konstellation kam es zustande?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Es war uns sehr bald klar, dass es nicht nur ein komplexer Film, sondern auch eine Produktion sein würde, die nicht billig ist. Es bedurfte einer extrem intensiven Auseinandersetzung mit Production Design und Kostüm, dazu kommt eine große Anzahl an phantastischen Schauspielerinnnen und Schauspielern, was im Budget mit einer sehr hohen Anzahl von Schauspieler-Drehtagen anschlägt, und wir stehen vor dem komplexesten Drehplan, den wir als Produktionsfirma je hatten. Für die Projektentwicklung hatten wir Unterstützung aus Luxemburg, in Österreich von ÖFI und Filmfonds Wien. Vor zwei Jahren war es soweit, dass alles Geld aufgebraucht, der Film aber noch nicht finanziert war. Wir wussten, dass es noch wichtiger Arbeitsschritte bedurfte, die wir unbedingt setzen wollten, ehe wir in die Herstellung gingen. Wir wollten am Drehbuch weiterarbeiten und die Ästhetik und den Look des Films weiterentwickeln. Da war der Punkt erreicht, wo sowohl Amour Fou Luxembourg als auch Amour Fou Vienna, also Bady Minck und ich sagten, dass wir in dieses Projekt investieren würden. Wir gingen also mit Eigenmitteln in die Projektentwicklung, bis wir einen Projektstand erreicht hatten, wo wir meinten, die Herstellung finanzieren zu können. Es ist eine Koproduktion zwischen Amour Fou Luxembourg und Amour Fou Vienna, die Golden Girls Filmproduktion ist der innerösterreichische Koproduzent und bringt Referenzmittel ein . Das Projekt wurde von Beginn an mit Filmschaffenden aus  beiden Ländern entwickelt. Das stärkt das Projekt ungemein. Die Basisfinanzierung ist durch den Filmfund Luxemburg, das ÖFI, FISA, den Filmfonds Wien und den ORF zustande gekommen. Es war uns klar, dass das nicht genügen würde. Es kamen Eurimages und BLS aus Südtirol dazu, und ein wesentlicher Schritt erfolgte im letzten Jahr, als wir die Koproduktion erweiterten und die niederländische KeyFilm mit Hanneke Niens an Bord kam. In den Niederlanden ging vor einem Jahr das neue Tax-Incentive-Modell und in Verbindung damit ein Koproduktionsfonds auf. Das schuf letztlich eine ideale Koproduktionsstruktur, in der wir das kreative Potential aus allen beteiligten Ländern bündeln können.
 
 
Interview: Karin Schiefer
April 2015
 
«Dieses Haus lebt, weil es ständig "umkostümiert" und verändert wird. Es ist wie ein lebender Körper.»