INTERVIEW

Händl Klaus & Gerald Kerkletz über MÄRZ

 

«Es sind zwei Arten von Schmerz - von Verlust wie von Ungewissheit. Aber das Unerklärte bleibt eine unlösbare Tatsache - und was man, ebenfalls – tatsächlich – , vorfindet, ist nichts anderes als der sogannte Alltag. Der vertraut aussieht, aber einen anderen Geschmack bekommen hat, einen Schatten.»   Ein Gespräch mit Händl Klaus & Gerald Kerkletz


Die Geschichte, die MÄRZ zugrunde liegt, geht auf einen tatsächlichen Fall zurück. Was war geschehen?
Händl Klaus: Es hat sich in Südtirol vor zirka 15 Jahren so zugetragen – drei junge Männer haben sich gemeinsam das Leben genommen, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen und ohne zuvor irgendeinen Anlass zu solcher Sorge gegeben zu haben. Damals war ich für ein paar Tage im Nachbardorf zu Besuch und mit einem Schulfreund dieser drei befreundet, der wie alle andern in seinem Dorf davon erschüttert war, und fassungslos. Mir ging das so nah ? sich das Leben zu nehmen, ist ein Gedanke, der mir nicht fremd ist als Möglichkeit, die jedem erlaubt sein muß. Aber der Schmerz, den ein solcher Verlust dann bedeutet, steht auf einem anderen Blatt, und so war ich bei denen, die weiterleben müssen.
 


Ging es im Film eher darum, der Trauer ihre Bilder zu geben oder war es das Geheimnis dieses unerklärten Schrittes, dem du nachgehen wolltest?
Händl Klaus: Beides gibt sich da die Hand, es sind zwei Arten von Schmerz – von Verlust wie von Ungewißheit. Aber das Unerklärte bleibt eine unlösbare Tatsache – und was man, ebenfalls ?tatsächlich?, vorfindet, ist nichts anderes als der sogannte Alltag. Der vertraut aussieht, aber einen anderen Geschmack bekommen hat, einen Schatten.  Es gibt darin aber ebensosehr Gewöhnungsversuche wie Anläufe auszubrechen. Dadurch, dass wir das über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr begleiten, spürt man unterschiedliche Stufen oder Phasen von Schmerz und Verstörung. 

Gerald Kerkletz: In manchem hilft einem die Dorfstruktur, und in vielen Bereichen macht gerade diese Struktur es unmöglich zu heilen. Ich habe dieses Dorf als Fächer empfunden von unterschiedlichen Familien, unterschiedlichen Generationen, Leuten, die miteinander, aber auch für sich allein ihren eigenen Weg finden, damit umzugehen oder eben auch nicht umzugehen.



Du hast vor einigen Jahren bereits einen Kurzfilm über dieses Thema gedreht, hat dieser Kurzfilm vieles offen gelassen, das du in einem Langfilm tiefer verfolgen wolltest, oder war der Kurzfilm immer als Etappe zum Langfilm gedacht ?
Klaus: Die Abschiedsnacht der drei, aus der der Kurzfilm besteht, war eine in sich geschlossene Zelle. Mich hat aber von vornherein interessiert, wie es danach ist – für die andern. Wie normal kann etwas sein oder werden, was ist Normalität? Das taucht im Langfilm vielleicht nicht so sehr als Fragestellung auf, man sieht diese Menschen einfach leben, bei alltäglichen Handlungen, und ich habe auch das Gefühl, dass einige sich zumindest zeitweise in etwas finden, das unbelastet ist.



Der Film ist in seiner Erzählung ja nicht linear, sondern hat etwas Fragmentartiges, Mosaikartiges.
Händl Klaus: Er lebt von der Auslassung. Da es ja diese Lücken gibt, das tatsächliche Fehlen von Menschen, haben wir versucht, dafür eine Entsprechung in der Erzählform zu finden.

Gerald Kerkletz: Das Fragmentarische war im Drehbuch schon so angelegt und ist im Schnitt noch stärker, radikalisierter herausgekommen. Unsere Hoffnung ist, daß sich durch die Auslassung fast gleich viel erzählt wie durch das Zeigen, in Umkehr der klassischen Priorität - mit dem Wissen, dass der Ursprung, von dem alles ausgeht, wie ein Schatten über allem liegt und die Dinge auch anders sehen lässt. Eine Alltäglichkeit, die aus dem Kontext gelöst in Wirklichkeit nur eine Alltäglichkeit darstellen würde, wird aufgeladen durch das Ereignis, das all diese Alltäglichkeiten verbindet, und kann auch anders gesehen werden. Man sieht oder spürt auch Details, die nur dadurch da sind, weil man weiß.

Händl Klaus: Auch fehlen die establishing shots.

Gerald Kerkletz: Wir wollten jene Bilder, die normalerweise Dörfer beschreiben, nicht mehr benutzen, sondern das innere, das unsichtbare Dorf filmen. Darum haben wir gezielt Bilder verweigert, die, wenn man an Tirol denkt, erwartet werden, die so etwas wie Romantik auslösen. Bei der Locationsuche haben wir gerade die Dinge überprüft und später verwendet, die auch für uns, auf den ersten Blick, nicht als filmisch wertvoll gegolten haben. Ich denke an den Umgang mit Kirchen oder Plätzen...

Händl Klaus: ... oder Häusern, wovon es bei uns einfach nur Kanten gibt, oder Ausschnitte und Anschnitte.

Gerald Kerkletz:  Von der Kirche sieht man nur das Tor und einen Blick hinein, durch einen schmalen Spalt, die Kirche an sich ist austauschbar. Die Situation sollte sich über die Menschen vermitteln.

Händl Klaus:  Es hat auch mit Unbehaustheit zu tun, die man in der Stadt ebenso wie im Dorf findet.

Gerald Kerkletz: Und so, wie im Drehbuch auf Linearität verzichtet wurde, hat sich das in der Auflösung fortgesetzt. Zum Beispiel ist eins der Hauptmotive, das Lebensmittelgeschäft, erst nach vielleicht sechs, sieben Szenen gegen Ende des Films erschlossen. Wir haben es insgesamt 360 Grad aufgelöst, das aber nie in einer einzigen Szene beantwortet.


Auch der Umgang mit Zeit und Tempo folgt in MÄRZ nicht den üblichen Gewohnheiten. Die Menschen scheinen durch das Ereignis aus der "normalen Zeit" hinauskatapultiert zu sein.
Gerald Kerkletz: Wenn man die Menschen dahin bekommt, sich darauf einzulassen, im Alltäglichen mehr zu sehen als das, was normalerweise dem Erzählen dient, dann heißt das, dass man Zeit zum Schauen geben muss. Es war uns relativ früh klar, dass die Langsamkeit eine Notwendigkeit ist, weil es viel mehr darum geht, dass man in den Bildern etwas sieht, als dass die Bilder etwas zeigen.


Wenn ihr von der Arbeit am Film sprecht, dann eindeutig in einer "Wir"-Form, habt ihr in einem sehr frühen Stadium begonnen, die Arbeit gemeinsam zu entwickeln ?
Gerald Kerkletz:  Es ist so schön, es sind immer "wir". Klaus hat damit begonnen. Das ist für mich ein Punkt, warum der Film für meine Entwicklung einen so großen Stellenwert hat, ich war noch nie so nah an dem dran, wie ich die Sicht auf meine Aufgabe definieren würde: mich als Filmemacher fühlen zu dürfen, ohne Regisseur sein zu wollen. Es geht ja um viel mehr. Kamera oder Bilder-Machen hat meiner Meinung nach viel mehr mit allem rundherum als mit dem Handwerk an sich zu tun. Das Handwerk muss man bringen...

Händl Klaus:  ...aber dann geht es weit darüber hinaus, man sieht und denkt gemeinsam ...

Gerald Kerkletz:  ... und wenn der Regisseur das auch so sieht und auch nutzt, dann ist das ein großes Geschenk. Wir kannten uns, weil ich zuvor sehr viel Licht gemacht habe, unter anderm vor langer Zeit in einem Film, wo Klaus mitgespielt hat.
 

Interessant ist, dass du, ursprünglich von der Literatur kommend, hier im Film von einer großen Sprachlosigkeit erzählst?
Händl Klaus: Da wie dort geht es um das, was fehlt – die Abwesenden, die Lücken, und formal gesehen: ums Weglassen.


Was die Sprache betrifft, heißt das nun, dass es um ständiges Reduzieren zum Essentiellen hin geht.
Händl Klaus:  Ja, es sollte nur das Nötige gesagt werden. Mit "nötig" meine ich das, was einem auf die Sprünge hilft, um das angesprochene Fehlen auch zu spüren. Natürlich muss ich etwas schaffen, das es ermöglicht, dieses Fehlen zu ?kriegen?. Aber es dann noch zu illustrieren, wäre zuviel.


Die Erzählung wirkt langsam gewachsen, auch wenn sie einer Chronologie folgt.
Händl Klaus: Wir haben zwar eine zeitliche Chronologie, aber dazu sehr viele Figuren, die miteinander verbunden sind. Eine große Herausforderung im Schnitt war der Versuch, als Zuseher damit nicht allein gelassen zu werden ? sondern einen Zugang zu diesen vielen Gesichtern zu finden.


Gerald Kerkletz: Wir hatten viele Sichtungen, die mit noch mehr Gesprächen verbunden waren. Aber beim Schnitt selbst war ich nie dabei. Dafür hatte Joana Scrinzi den "unabhängigen Blick". Sonst wäre es auch nicht möglich gewesen, so radikal mit dem Material umzugehen.



Radikalität im Schnitt, der aber bereits eine Radikalität in eurer Arbeit vorausging.
Gerald Kerkletz:  Es kam im Schnitt sicherlich eine Qualität der Auslassung hinzu. Wir hatten viel mehr Szenen...

Händl Klaus:  ...die mit Randfiguren zu tun hatten, die völlig rausgefallen sind. Wir haben in der ersten Schnittfassung gemerkt, daß nur die direkt Betroffenen relevant sind ? obwohl wir diesen Alltag auch anhand von weniger stark involvierten Figuren zeigen wollten. Das versuchte Erzählen vom Umgang anderer mit den direkt Betroffenen hat uns aber kalt gelassen, als wir es dann im Verlauf gesehen haben.


Sprachlich hast du dich für eine radikale Dialektversion entschieden. Warum?
Händl Klaus:  Das war eine Rückkehr in die "Ursuppe" – ich komme aus Tirol, lebe aber seit zwanzig Jahren nicht mehr dort. Wenn ich fürs Theater schreibe, dann ist das eine stark stilisierte, rhythmisierte Kunstsprache. Aber hier war es ein Genuss, mit den verschütteten Ausdrücken umzugehen, mit denen ich aufgewachsen bin ? und für die man im Hochdeutschen längere Umschreibungen bräuchte. Der Dialekt bringt alles gleich auf den Punkt, und oft hat er eine eigentümliche Sinnlichkeit. Es ist eine sparsamere Sprache, sie ist deswegen aber nicht weniger mitteilsam.



Diese Sprache setzte dann auch Tiroler Schauspieler voraus. Wie hast du deinen Cast zusammengestellt?
Händl Klaus:   Ich hab sehr lang am Drehbuch geschrieben mit einigen Lieblingsschauspielern vor Augen, aber ich wollte sie mit Laien mischen auf der Suche nach einem "authentischen Tonfall". Manche habe ich im Café oder im Zug angesprochen, einige verdanke ich dem Spürsinn von Josef Holzknecht, der uns außerdem viele Schauplätze vermittelt hat – und der selbst mitgespielt hat als eine der vielen geopferten Randfiguren. Er war der Wirt, der jetzt nur kurz aufblitzt, ...

Gerald Kerkletz:  ... weil er letztlich zu indirekt in Zusammenhang mit dem Ereignis stand. Im Schnitt hat sich herausgestellt, dass sich die Dorfgemeinschaft ohnehin in den Auslassungen dazwischen erzählt (und man als Zuschauer unnötig mit Orientierung und Herstellen von Zusammenhängen beschäftigt wäre).



Wie sah in einem Cast, der halbe-halbe aus Laien und Profis bestand, die Vorbereitungsarbeit aus?
Händl Klaus: Alle bekommen das Drehbuch.

Gerald Kerkletz: Du behandelst Schauspieler wie Laien und Laien wie Schauspieler.

Händl Klaus: Stimmt – jetzt, wo du's sagst?

Gerald Kerkletz: Ich habe das Gefühl, dass Klaus da im Grunde keinen Unterschied macht, was für die Laien bedeutet, gefordert zu werden und was wiederum für viele kein Problem darstellt, weil sie nicht wissen, wie normalerweise gearbeitet wird. Was für Schauspieler wiederum bedeutet, sich darauf einzulassen und das Gewohnte und Gelernte etwas draußen zu lassen. Ganz viele Leute meinten bei den Screenings sicher zu sein, wer die Laien und wer die Schauspieler seien, und lagen exakt daneben.

Händl Klaus: Ich hatte das Gefühl, dass man manche Schauspieler oft fast ein bisschen müde bekommen musste, damit sie sich von der eigenen Erwartungshaltung verabschieden. Ich wollte nichts, das vorbereitet daherkommt, sondern, dass alle so sehr in der Situation sind, dass sie nur noch denken und sagen müssen, was sich aufdrängt. Die gedrehten Szenen waren dabei ursprünglich viel länger, wir haben nur jeweils Filets herausgenommen.

Gerald Kerkletz: Im Sinn des Fragmentarischen, das wir da gesucht haben. Es gab oft nocheinmal so viel Vorlauf und Nachlauf neben dem Verwendeten.
 

Eine Schlüsselszene ist der Selbstmord selbst, wo grundsätzlich interessant ist, wie sie aufgelöst wird (und sie ist auch anders aufgelöst als im Kurzfilm bzw.  die Szenen danach?
Händl Klaus:  Beim Kurzfilm, der im Jahr 2001 entstand, habe ich mit einem anderen Kameramann, Christian Berger, gearbeitet. Das war formal gesehen eine Schraubbewegung nach Innen - ein wiederkehrender Blickwechsel zwischen den dreien im Auto, vom einen zum nächsten, bis zum letzten Einatmen.


Gerald Kerkletz: Es war relativ früh ein Wunsch von Klaus, den ich gut nachvollziehen konnte, das Herz aus dem Kurzfilm zu behalten. Es ist aber inzwischen sehr viel Zeit vergangen, und wir wollten neu ansetzen - doch dieses ?Herz? nochmals zu drehen, hätte sich wie Verrat angefühlt. Gleichzeitig war uns beiden klar, dass das Ziel auch nicht sein konnte, formal auf dem Kurzfilms aufzubauen. Insofern war es ein bewusster Bruch, nach dem Tod neu anzusetzen; der Prolog bildet sowohl inhaltlich als auch formal eine Insel, die dem späteren entkoppelt ist.
Eine Überlegung war, danach sehr nah bei den Menschen zu bleiben. Es ist so ein Gefühl, das ich aus dem Dokumentarfilm kenne, wo ich manchmal den Eindruck bekomme, dass die, die gefilmt werden, es doch merken müssten. Die Kamera ist immer da - und immer in einem Abstand, der es erlauben würde, einfach die Hand auszustrecken, wenn man nicht mehr gefilmt werden will. Aber das passiert nicht, es gibt so etwas wie ein stilles Einverständnis, das einer Nähe oder einem Gespräch entspricht. Nie von außen auf Leute draufschauen, sondern mit ihnen schaun, oder einfach nur bei ihnen sein - dass die Kamera das kann, das war mir für MÄRZ besonders wichtig. Sodaß es weniger um nahe Einstellungsgrößen als vielmehr um die körperliche Nähe gegangen ist. Zwar gibt es nur sehr wenige Totalen, andererseits hat der Film kaum Großaufnahmen.

Händl Klaus: Lieber nahe als groß.

Gerald Kerkletz:Ja. Eigentlich haben die Menschen immer relativ viel Platz in den Bildern. Das einzige Close up hat Tamara. Sie ist die einzige Fremde - die erst spät Teil der Geschichte wird. Ihr ist es möglich, die Fragen zu stellen, die alle umtreiben. Sie kann und darf Dinge aussprechen, weil sie von außen kommt. An die Betroffenen hätte sich die Kamera nicht so nahe herangewagt.

 

Über welchen Zeitraum hat sich der Dreh erstreckt?
Händl Klaus:   Im Oktober 2005 haben wir drei Wochen lang mit ?neutralen? Szenen begonnen, Innen- und Nachtbildern, weil wir dachten, daß wir uns den Herausforderungen des Wetters erst stellen sollten, wenn wir als Team zusammengewachsen sind. Danach gab es bereits eine erste Schnittphase. Im Februar folgten die Winteraufnahmen, im April gab es einen dritten Block und im Juli 2006 den letzten, insgesamt waren es 14 Drehwochen.

Gerald Kerkletz: Das hat neben der Folge der Jahreszeiten im Film auch etwas mit Wachsen-Lassen zu tun. In den Drehpausen ist weiterentwickelt worden, geschnitten und umgeschrieben, bis zuletzt, noch am Weg vom einen Motiv zum anderen. Dabei war das Buch in keiner Weise skizzenhaft, man hatte das Gefühl, jedes Detail, jede Entscheidung ist da schon getroffen. Aber immer durfte sich alles noch ändern, um stimmig zu werden.

 

Wie hat es von der Produktion her mit den Rahmenbedingungen ausgesehen?
Gerald Kerkletz: Wir hatten sehr wenig Technik, das ganze Equipment passte in einen VW-Bus, die Kostüme stammten durchwegs aus den Schränken der Darsteller, wir haben am Bauernhof übernachtet...

Händl Klaus:  Es war eine extrem gute Stimmung innerhalb des Teams, das klein war, und natürlich war es für alle sehr anstrengend ? aber in einer so familiären Atmosphäre, daß ich oft geglaubt habe, ich träume. Alle haben so feinfühlig, liebevoll und ausdauernd ihr Bestes gegeben ! Für mich war es wie das Finden einer Familie, und ich hoffe, es geht miteinander weiter.

Du arbeitest viel fürs Theater, kommst von der Literatur, was ist das Reizvolle am Film, das du in anderen künstlerischen Ausdrucksformen nicht umsetzen kannst?
Händl Klaus:  Film handelt von Blicken ? dem ersten, den die Kamera verkörpert und mitteilt, und weiteren, die sie aufnimmt, untersuchen und weitergeben kann.

 


Interview: Karin Schiefer
Juni 2008