«Zu Mozarts Zeit war die Oper die spektakulärste Kunstform, die über High Tech und große Budgets verfügte. Er selbst war darum
bemüht, zu Lebzeiten eine Oper nicht nur für den Hof, sondern auch für ein breites Publikum zu schaffen. Die Menschen konnten
damals zwei-, dreimal in der Woche in die Oper gehen, so wie heute ins Kino. Film wäre wahrscheinlich die Kunstform, die Mozart
am meisten zusagen würde, würde er heute leben.»
Peter Sellars über die sieben für das New Crowned Hope Festival in Auftrag gegebenen Filme, die ab 17. November im Gartenbaukino zu sehen sind und z.T. bereits in Cannes, Venedig und San
Sebastian ausgezeichnet worden sind.
Was hat Sie veranlasst, Film in ein Mozart gewidmetes Festivals zu integrieren?
PETER SELLARS: Zu Mozarts Zeit war die Oper die spektakulärste Kunstform, die über High Tech und große Budgets verfügte. Er selbst war darum
bemüht, zu Lebzeiten eine Oper nicht nur für den Hof, sondern auch für ein breites Publikum zu schaffen. Die Menschen konnten
damals zwei-, dreimal in der Woche in die Oper gehen, so wie heute ins Kino und die meisten Opern waren schlecht, so wie die
meisten Filme. Und darunter gibt's auch Filme, die einen höheren Anspruch haben, die tiefer und weiter blicken wollen. Mozart
machte solche Opern. Opern, die keine charmanten Hüllen waren, wie das meiste, das gespielt wurde. Er schrieb Opern, die anspruchsvoller
waren als irgendeine Oper, die zu seinen Lebzeiten entstanden ist. Und man kann bei Mozart filmhafte Ansätze sehen, seine
Art, musikalische Close-ups zu setzen, plötzlich Landschaftsaufnahmen einzufügen. Mozarts Sicht von der Oper ist räumlich
und visuell so dynamisch. Und man entdeckt bei ihm ein Gespür für Soundtrack, wann etwas nahe, wann es ferne klingt. Es ist
unglaublich kinematografisch. Film wäre wahrscheinlich die Kunstform, die Mozart am meisten zusagen würde, würde er heute
leben.
Sie sehen also starke Parallelen zwischen dem innovativen Potenzial des Kinos und dem von Mozarts Werk.
PETER SELLARS: Genau. Es ist auch etwas, das alle Sinne einbezieht. Mozart war von der Idee des Gesamtkunstwerks besessen – von der Kraft
der Farbe, der Bewegung, der Poesie und der des Klanges. Wie bringt man alles zusammen? Das Kino war eine Antwort darauf.
Eines der wunderbarsten Dinge des 21.Jhs, ist, dass die technische Entwicklung nun erlaubt, dass z.B. eingeborene Völker Filme
machen und wir sind in der Lage, ein Kino zu schaffen, das nicht unbedingt ein Bekenntnis des Kapitalismus sein muss. Das
Medium selbst ist flexibel geworden. Die Vereinigung von Poesie, Musik, Bewegung und Klang steht vor völlig neuen Möglichkeiten.
Das spürt man bei Opera Jawa oder bei Hei Yan Quan. Es tut sich ein ganz neues Kino auf, eines das sich nicht mehr nur auf die westliche Art des Erzählens stützt. Man spürt
in vielen der New Crowned Hope-Filme auf aufregende Weise wieder dieses reine Kino.
Es ist kein westlicher Filmemacher in der Reihe vertreten. Welche Kriterien spielten bei der Auswahl eine Rolle?
PETER SELLARS: Hier kommen zwei Dinge zum Tragen: Die Stadt Wien hat unter der Leitung von Peter Marboe ein ganzes Mozartjahr-Projekt. Dabei
gingen zwei Drittel des Budgets in Veranstaltungen, die in Wien blieben. Mein Auftrag war, die internationale Komponente zu
übernehmen, das hieß automatisch, dass ich mich anderswo umschauen sollte. Als Programmgestalter und Künstler halte ich intuitiv
danach Ausschau, was meiner Ansicht nach unterrepräsentiert ist. Der zweite Punkt war - mich lässt dieses Ungleichgewicht
der Bilder in unserer Welt nicht los. Wir werden überflutet von Bildern aus dem Iran und Irak, den Unruhen in Kongo. Diese
Länder sind täglich als Bericht aus dem Krisenzentrum im Fernsehen zu sehen, sie sind im globalen Bewusstsein, aber was wissen
wir kulturell von ihnen? Nichts. Was schafft ein Gegengewicht zu diesem permanenten Ausnahmezustand? Offensichtlich leben
Menschen dort ihren Alltag. Irgendetwas bringt sie durch diesen permanenten Ausnahmezustand und man sieht nicht was. Können
wir also beginnen, kulturell ein Gegengewicht zu den Bildern aus den Nachrichten schaffen? Können wir uns hinter und über
die Krise hinaus in eine vielschichtigere Beziehung zu diesen Teilen der Welt bewegen?
Sie haben drei Hauptthemen definiert...
PETER SELLARS: ...den Zauber der Verwandlung aus der Zauberflöte, die Wahrheit in der Versöhnung und der Erwiderung auf den Terrorismus, durch die Unterbrechung der Spirale der Gewalt in
Clemenza di Tito und die Frage nach den Zeremonien für die Toten aus dem Requiem.
Was hat Sie veranlasst, diese späten Mozart-Werke als thematische Basis für die Auftragsfilme auszuwählen?
PETER SELLARS: Nimmt man Mozarts Leben her, dann ist die Geschichte, die Wien zu erzählen hat, die seines Todes. Seine Arbeiten waren visionär
und die nachfolgende Generation konnte seine politischen Bestrebungen umsetzen. Zukünftige politische Realitäten müssen immer
zunächst von Künstlern ausgedacht werden. Die Kunst vermag das Vorstellungsvermögen der Menschen auf das Mögliche vorzubereiten.
Sie müssen es zuerst als Bild erleben, dann kann das Unmögliche möglich werden. Es ist in gewisser Weise eine Form, die Debatte
gewaltlos zu führen, auch wenn es im Falle Mozarts durchaus gewaltvoll geschah: Vorstellungen wurden abgesetzt und es gab
kein Geld. Er war Mitglied der Freimaurer-Bewegung, die mehrmals die Woche politische Versammlungen abhielt. Besonders nach
Don Giovanni wurde es sehr gefährlich, seine politische Haltung offenzulegen und gleichzeitig erwies sich die Französische
Revolution als tiefe Enttäuschung für die Demokratie. Die Ideale von der Freiheit mussten neu überdacht werden, insofern ist
die Zauberflöte ein Versuch, das Gift zu entfernen, La Clemenza di Tito ein Versuch, wieder auf aufgeklärte politische Führung zu hoffen und Requiem ein Versuch, mit der Wirklichkeit der Massaker und der begrenzten Zeit, die uns auf Erden zur Verfügung steht, umzugehen.
Wenn Sie einen Blick auf das Ergebnis werfen, sind Sie zufrieden?
PETER SELLARS: Ich bin überwältigt, es ist so viel schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich bin sprachlos angesichts der Schönheit
und Kraft der Arbeiten und angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der sie diese Gelegenheit wahrgenommen haben. Es war eine Einladung
für diese Leute, ihren höchsten Ansprüchen gemäß zu arbeiten.
Meinen Sie, diese Initiative könnte als Modell auch im Rahmen eines anderen Festivals wiederholt werden?
PETER SELLARS: Wie immer in der Kunst, darf nichts zum Modell werden. Sobald es das ist, ist es schon kaputt. Aber ich finde, es ist eine
wunderbare die bloße Vielfalt von dem, was man zu sehen bekommt. Was an diesen New Crowned Hope Filmen so interessant ist, und was in Toronto und in Venedig wirklich eingeschlagen hat, ist, dass der Film, den man gerade
gesehen hat, einen Dialog unterhält mit dem Film, den man heute Vormittag gesehen hat. Das Interessante sind nicht die Kontraste,
sondern die Verbindungen. Es gibt ein echtes Gespräch. Und wir stehen am Anfang eines globalen Gesprächs.
Was sagen Sie zu...
Daratt Regie: Mahamat-Saleh Haroun Bei Haroun spürt man klassisches afrikanisches Geschichtenerzählen und etwas von einer Weisheit, die weitergegeben wird -
den Mut, dem rohen Leben ins Gesicht zu blicken, ohne eine Möglichkeit sich zu verstecken.
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und Heilung in einer verwüsteten Welt, wo wir soviel Verlust erleben?
Hei Yan Quan Regie: Tsai Ming-Liang Hei Yan Quan ist zart und von unerwartet tiefer Offenheit bei einem Filmemacher, der für seine Ironie und seine Gewalt bekannt ist. Ich
habe das Gefühl, zu spüren, wie rein und ehrlich und verletzlich dieser Film ist.
Opera Jawa Regie: Garin Nugroho Der Film hinreißend schön und hypnotisch. Ihm gelingt es, die klassischen Kunstformen mit zeitgenössischer Energie zu füllen
und gleichzeitig die tiefen Quellen der Weisheit zu transportieren.
Syndromes of a Century Regie: Apitchatpong Weerasethakul Apitchatpong Weerasethakul hat das Kino direkt in eine schamanistische Richtung geführt. Auf höchst zurückhaltend sanfte Art
berührt er alle Aspekte des Lebens, er ist in seiner Ruhe überwältigend, geheimnisvoll und zauberhaft.
Half Moon Regie: Bahman Gobadi Gobadis an der iranisch/irakischen Grenze gedrehte Filme zeigen eine Wirklichkeit jenseits der Schlagzeilen, das unbesungene
Heldentum ganz gewöhnlicher Leute. Und was Mozart unheimlich gefallen hätte, ist Gobadis Beharren auf den freien Stimmen und
der spirituellen Kraft der Frauen.
Interview: Karin Schiefer 2006
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