FEATURE

MEIN MÖRDER von Elisabeth Scharang

 

"Sie sind geistesgestört." Punkt, Unterschrift und Stempel. Ein Satz genügt und der blasse, junge Mann landet in der geschlossenen Anstalt. Seine Diagnose stützt der wortkarge Gerichtsgutachter auf eine Expertise aus dem Jahr 1945: "Erbbiologisch und sozial minderwertig, charakterlich abartig, verwahrlost und gewalttätig". Viel hat sich nicht geändert, ist nicht nur die zynische Schlussfolgerung des Psychiaters, vielmehr auch die erschütternde Erkenntnis für den jungen Mann, der zehn Jahre nachdem er unter den Nazis seinem Mörder entrinnen konnte, im demokratischen Österreich von 1955 erneut in dessen Gewalt gerät.

Elisabeth Scharang hat die Geschehnisse an der Erziehungsanstalt am Spiegelgrund, wo unter den Nationalsozialisten sogenannte schwererziehbare Kinder und Jugendliche eingewiesen, für medizinische Experimente missbraucht und zu Tode misshandelt wurden, zum Anlass genommen, um in ihrem Spielfilm Mein Mörder der Frage nachzugehen, wie Täter aus der Zeit des Nationalsozialismus in der zweiten Republik ungestraft in ihr Berufsleben zurückkehren konnten.

Die wahre Geschichte Friedrich Zawrels, der 1943 als Jugendlicher am Spiegelgrund in der von Heinrich Gross geleiteten Abteilung landete, fliehen konnte und 1975 nach kleinen Eigentumsdelikten wieder mit Gross als Gerichtsgutachter konfrontiert war, sowie der nie zu Ende geführte Prozess gegen den vielbeachteten und -beschäftigten Gerichtspsychiater lieferte nur den vagen Rahmen für das Drehbuch, das mehrere Aspekte der österreichischen Geschichtsverarbeitung vor und nach 1945 thematisiert. Kleiner Querschuss "Was mich beschäftigt", erläutert die Filmemacherin, "ist der Umstand, dass heute so getan wird, 1945 war der Krieg vorbei und dann war alles anders. Wie kann es sein, dass Dinge, die in dieser Zeit getan oder einem angetan worden sind, mitgenommen wurden und dass ein Opfer in einer Demokratie dem Täter noch einmal begegnet und ihm wieder ausgeliefert ist. Das ist das Unglaubliche."

Stoff für eine Diskussion über diesen bis heute wenig reflektierten Umgang mit der Geschichte zu schaffen, war eines der wichtigsten Motive, das die Dokumentarfilmerin dazu veranlassten, sich erstmals aufs Terrain des Spielfilms zu begeben, die Chance, durch einen Sendetermin um 20.15 Uhr ein ungleich breiteres Publikum zu erreichen als im Kino war ausschlaggebend dafür, das Projekt als frei finanzierten TV-Film zu realisieren. Gemeinsam mit ihrem Vater, Michael Scharang, verfasste sie das Drehbuch, das in drei zeitlichen Abschnitten - 1945, 1955, 1970 - die Geschichte des Protagonisten Hans Jablona (Christoph Bach) erzählt, der hartnäckig versucht, das Trauma seiner Kindheit abzustreifen. "Als wir begonnen haben", so Elisabeth Scharang, "am Buch zu schreiben, hat keiner daran gedacht, dass der Film jetzt so gut ins Gedenkjahr hineinpasst und ich halte ihn für sehr wichtig, so als kleinen Querschuss." Jedenfalls nicht der einzige Schuss, der dieses Jahr noch von der Regisseurin zu erwarten ist.

Mit zwei Projekten kehrt sie zurück zum Dokumentarfilm: Tintenfischalarm ist im Sommer zu erwarten. Darin begleitete sie drei Jahre lang den knapp 30-jährigen Alex, der, als Hermaphrodit geboren, als Mädchen erzogen, zur Frau operiert, Mitte 20 mit seinem Geschichte an die Öffentlichkeit trat und nun als Mann den Weg zu seiner Identität fortsetzt. Der konkrete Fall des Spiegelgrund-Opfers Friedrich Zawrel, sein Spießrutenlauf durch die Ämter seit 1945 soll im Herbst dokumentiert werden. "Mein Mörder", so Elisabeth Scharang, "haben wir sehr fiktional gestaltet, damit kein Doku-Drama daraus wird. Reale Menschen, die ihre realen Geschichten erzählen, sind aber durch nichts ersetzbar. Die Wahrheit glaubt einem ja niemand, deshalb muss man im Dokumentarischen bleiben.

 

Karin Schiefer (2005)