...  sondern auch die Zuschauer etwas Ähnliches durchmachen zu lassen. Andrina Mračnikar über ihr Spielfilmdebüt MA FOLIE, dessen Uraufführung beim Max Ophüls Preis-Festival 2015 auf dem Programm
                                                   stand.
                                                
                                                
Die Handlung von MA FOLIE entspannt sich in einem Viereck aus zwei Frauen – Hanna und Marie, und zwei Männern – Yann und Goran.
                                                      Können Sie das Grundgefüge kurz umreißen? 
ANDRINA MRAČNIKAR: Nach ihrer Trennung von Goran fährt Hanna nach Paris und verliebt sich dort in Yann, der nach ihrer Rückkehr nach Wien beginnt,
                                                   ihr „lettres filmées“, also mit dem iPhone aufgenommene Liebesbriefe zu schicken. Gleichzeitig wartet Goran in Wien auf sie
                                                   und hofft, ihre Beziehung würde sich wieder einrenken. Die vierte Person ist Marie, Hannas beste Freundin, die im selben Haus
                                                   im selben Stock wohnt, die nun wiederum an Goran Interesse hat. Yann folgt ganz spontan Hannas Vorschlag nach Wien zu kommen,
                                                   sie leben eine sehr aufregende erste Zeit, ehe sich erste Irritationen einschleichen und Yann immer eifersüchtiger wird.
MA FOLIE beginnt als Geschichte von einer Liebe auf den ersten Blick. Nicht nur dieser erste Blick erweist sich nach und nach
                                                      als ein trügerischer. Der Blick per se wird in MA FOLIE als etwas entlarvt, dem Misstrauen gebührt. Ist Ihr erster Spielfilm
                                                      letztendlich auch eine Hinterfragung des filmischen ebenso wie des subjektiven Blicks? 
ANDRINA MRAČNIKAR: Ja, der Glaube in die Wahrhaftigkeit von gefilmten oder fotografierten Bildern erscheint mir immer wieder ein spannendes Thema
                                                   zu sein. Wie täuschend diese Blicke  und Bilder sein können, wissen wir ja schon ganz lange und dennoch bleibt der Glaube
                                                   in das, was uns gezeigt wird, so stark. Und es beschäftigt mich schon sehr lange die Frage, wie man Geschichten erzählen und
                                                   gleichzeitig die Tatsache mitreflektieren kann, dass es nur eine Sichtweise ist. Daher gibt es die Filme im Film.
Ist das eine Fragestellung, die sich auch durch Ihr weiteres Filmschaffen ziehen wird?
ANDRINA MRAČNIKAR: Ich beginne gerade an einem neuen Projekt zu arbeiten, wo ich keine Hauptfigur herausarbeiten, sondern mehrere Perspektiven
                                                   nebeneinander stellen möchte, wobei sich die Handlung über mehrere Jahre zieht. Das kennt man eher aus Romanen, es funktioniert
                                                   auch in Fernsehserien, ich versuche da nun eine Form für einen Spielfilm zu finden. Auf alle Fälle fällt es mir schwer, Geschichten
                                                   zu erzählen, ohne das Geschichtenerzählen zu reflektieren. Subjektivität ist bei mir ein sehr wichtiger Faktor. Das war schon
                                                   in meinem Dokumentarfilm Andri 1924–44 so, dass es um meinen Blick und nicht um eine objektive Wahrheit ging. Und ich möchte mich beim Erzählen auch formal einer
                                                   Herausforderung stellen.
Es geht in MA FOLIE sehr viel um Vertrauen, vor allem das bröckelnde Vertrauen zueinander, aber auch zu sich selbst – im Grunde
                                                         gibt es am Ende überhaupt keine Gewissheit, nicht einmal in Bezug auf das eigene Empfinden. Kann man das als einen Grundtenor
                                                         betrachten?
ANDRINA MRAČNIKAR: Ja bestimmt, in MA FOLIE geht es sehr stark um Vertrauen bzw. Misstrauen. Es beginnt ja nach und nach das Vertrauen in alles
                                                   zu zerfallen. Zunächst in die Liebe zu Yann, dann zu Yann selbst, dann zu den besten und engsten Freunden, bis Hanna beginnt,
                                                   an sich zu zweifeln und kein Vertrauen mehr zu sich selbst hat.
Der Film endet mit einer großen Ungewissheit als Fragment. Warum haben Sie sich für ein so vollkommen offenes Ende entschieden?
Andrina Mračnikar: Gerade durch das Thema des Misstrauens, durch mein Unbehagen mit den Wahrheiten hat es sich ganz natürlich
                                                   ergeben, dass ich am Ende nicht eine Lösung anbieten und behaupten kann: So war es. Mir war es wichtig, dass am Ende zwei
                                                   Wahrheiten dastehen. Ich habe aber im Zuge von Screenings in letzter Zeit festgestellt, dass die Zuschauer noch eine ganze
                                                   Menge mehr Wahrheiten darum herumspinnen können.
MA FOLIE als Titel weist auf einen subjektiven Standpunkt hin, im ersten Ansatz ordnet man die „folie“ Hanna, der Protagonistin,
                                                      zu; erlebt man Yanns Eifersucht, ist es schnell nicht mehr so klar zu sagen. Selbst als Zuschauer muss man sich gegen Ende
                                                      hin immer wieder fragen, was mit einem passiert. Wem ist die „folie“ zuzuordnen?
ANDRINA MRAČNIKAR: Ich habe sie zunächst Yann zugeordnet, ganz zu Beginn ist es in seinen „lettres filmées“ eine Anrede – ma folie mon amour,...
                                                   die seine große Verliebtheit zum Ausdruck bringt. Ich hatte es eher so gelesen, dass sein Wahnsinn zu ihrem wird und zu ihr
                                                   hinüberkippt.
Mit Wahrnehmung und Erinnerung muss sich auch der Zuschauer ständig auseinandersetzen, weil er durch Behauptungen und ihre
                                                      Verdrehungen durch die Protagonisten verunsichert wird. Es verweist auch darauf, wie ungreifbar Erinnerung ist, aber auch
                                                      wie ungenau man selber wahrnimmt.
ANDRINA MRAČNIKAR: Es war mein Ziel, nicht nur Hanna in ihrer Wahrnehmung total zu verunsichern, sondern auch die Zuschauer etwas Ähnliches durchmachen
                                                   zu lassen wie sie und z. B. durch widersprüchliche Dialoge, vage Bilder, doppelte Böden so weit zu bringen, dass sie selbst
                                                   zu zweifeln beginnen, ob sie richtig verstanden oder gesehen haben.
Gibt es Inspirationsquellen, Vorbilder unter Filmemachern, die dieses Spiel besonders gut beherrschen?
ANDRINA MRAČNIKAR: Eine große Inspiration war Francis Ford Coppolas The Conversation, der wiederum sehr stark von Blow-up inspiriert ist. Mich hat The Conversation mehr angesprochen, weil man als Zuschauer wirklich zu zweifeln beginnt, ob man jetzt richtig gehört hat. Wer auch das Vage
                                                   im Erzählen sehr gut beherrscht, ist Alain Resnais, seine frühen Arbeiten habe ich auch sehr jung gesehen – Nacht und Nebel,
                                                   Hiroshima, mon Amour. Ein starker Einfluss kommt bei mir gewiss durch die Literatur – Marguerite Duras und ihre Verwendung
                                                   des Konjunktivs, aber auch Patricia Highsmith – Spannung, Thriller und auch ihre Erzählperspektive, die häufige von den Verrückten
                                                   ausgeht. Ich bin gewiss sehr früh durch Literatur geprägt worden, weil meine Mutter Verlagsleiterin und Übersetzerin war und
                                                   Bücher einfach dauernd präsent waren. Meine Sozialisierung durch Film setzte viel später ein. Ich denke, das Schaffen von
                                                   Eindrücken, die beim Lesen von Highsmiths Büchern entstehen, war etwas, das für mich einen Anreiz dargestellt hat.  Für mein
                                                   neues Drehbuch, wo ich versuche, mehrere Perspektiven hineinzubringen, fällt mir Jonathan Franzens Korrekturen ein.
Yann bedient sich nicht der Sprache/des Worts, sondern schickt „lettres filmées“, die ein filmisches Element im Film sind,
                                                      daher wohl das eine eigene Ästhetik und Regie erforderten. Wie sind sie entstanden?
ANDRINA MRAČNIKAR: Die Drehbuchentwicklung hat sehr lange gedauert, in den ersten Fassungen hat er noch VHS-Kassetten geschickt. Anfangs war
                                                   er noch mit seiner Videokamera unterwegs, bis es sich langsam dahin entwickelt hat, dass er mit seinem iPhone filmt. Wir haben
                                                   diese Briefe auch wirklich mit iPhone gefilmt, es hat nicht nur der Kameramann Gerald Kerkletz gefilmt, sondern auch Sabin
                                                   Tambrea, der Darsteller des Yann, und ich.
Warum hat auch der Hauptdarsteller gefilmt?
ANDRINA MRAČNIKAR: Wir hatten das Gefühl, dass sein Blick etwas Neues und Eigenes einbringen könnte. Wir waren schon vor Beginn des Hauptdrehs
                                                   in Paris, um einerseits gezielt für die „lettres filmées“ zu drehen und um anderseits Sabin Tambrea und Alice Dwyer durch
                                                   Paris zu schicken und aus ihrer Perspektive filmen zu lassen. Ich ließ mir offen, dass sich diese „Briefe“ immer noch anders
                                                   entwickeln könnten. Das Ergebnis war aber, dass die Filme ziemlich genau mit dem Drehbuch übereinstimmten. Ich habe mit Karina
                                                   Ressler im Schnitt experimentiert und mit verschiedenen Effekten gearbeitet. Wir kamen dann darauf zurück, dass sie ihren
                                                   stärksten Effekt dann erzielten, wenn wir die Bilder reduzierten. Das waren oft jene, die schon im Drehbuch gestanden sind.
Die „lettres filmées“ bestehen aber nicht nur aus vom Filmteam gedrehten Material.
ANDRINA MRAČNIKAR: Zum von uns gedrehten Material kam auch noch Found Footage-Material aus dem Internet, zum Beispiel ein hochschwangerer Bauch,
                                                   Ausschnitte aus Werbungen aus den fünfziger Jahren mit stereotypen Männer- und Frauenbildern u.v.m. Die Recherche im Internet
                                                   war sehr intensiv, großteils erfolgte sie nach thematischen Vorgaben von mir, sie hat natürlich weitere unvorhergesehene Dinge
                                                   zutage gebracht. Dazu kamen dann noch Filmzitate. Da standen wir vor allem vor einer Rechtefrage. Im Drehbuch stand z.B. Casablanca.
                                                   Dafür haben wir leider nie eine Antwort auf unsere Anfrage bekommen. Es gab einerseits Dinge, die gar nicht freigegeben wurden
                                                   und andere, die viel zu teuer waren. Die Rechteklärung war ein wesentlicher Faktor im Budget. Erschwerend war auch, dass der
                                                   Schnitt eigentlich fertig war und wir in einzelnen Fällen bis zum Schluss auf die Klärung der Rechte warten und im Schnitt
                                                   auch immer wieder noch Dinge austauschen mussten. Für einen Ein-Sekunden-Ausschnitt aus Bully von Larry Clark warteten wir
                                                   bis letzten August und hätten nötigenfalls noch nachdrehen müssen, hätten wir keine Zusage bekommen. Um Casablanca hat es mir sehr Leid getan, ich finde aber, dass wir einen sehr guten Ersatz gefunden haben.
Der Film hat auch einige Szenen, die gewiss nicht einfach zu drehen gewesen sind. Ich denke z.B. an Yanns Sturz in den Donaukanal
                                                      oder an das Kind, das eine psychische Störung spielt.
ANDRINA MRAČNIKAR: Die Szene, die mir am meisten Angst bereitet hat, war die, wo Alice mit Absatzschuhen in Paris auf der Brüstung einer Seine-Brücke
                                                   balanciert und Yann sie dabei filmt. Wir haben das ohne Sicherung in der Nacht gedreht, irgendwann war ich nicht mehr bereit,
                                                   es zu wiederholen. Beim Sturz in den Donaukanal in Wien war dann die Wasserrettung dabei und Sabin Tambrea ist mit Neoprenanzug
                                                   unter der Kleidung ins Wasser gestürzt. Er musste zweimal ins Wasser und den Sturz, der in einer Matte hinter der Mauer endete,
                                                   musste er wirklich sehr oft machen. Den glaubwürdig hinzubringen, war wirklich schwierig. Für das Kind haben wir sehr lange,
                                                   bis knapp vor Drehbeginn gecastet, was mich ziemlich nervös gemacht hat. Rayana ist ja in Wirklichkeit ganz anders, aufgeweckt
                                                   und selbstbewusst. Sie hat wirklich eine große Leistung vollbracht, sie hat davor auch keinerlei Schauspielerfahrung gehabt.
Man gewinnt den Eindruck, dass Sie als Regisseurin dazu tendieren, viele Takes zu machen.
ANDRINA MRAČNIKAR: Da wirkt zusammen, dass der Kameramann Gerald Kerkletz ein großer Perfektionist ist und in der Kadrierung noch Millimeterarbeit
                                                   leistet und immer noch Korrekturen vornimmt, was zum Teil von Take zu Take passiert. Bei MA FOLIE war es mir auch sehr wichtig,
                                                   Varianten für den Schnitt zu haben, denn gerade um die Doppelbödigkeit erzeugen zu können, musste ich auch ausprobieren können.
Wie würden Sie diese erste Spielfilmerfahrung nun resümieren?
ANDRINA MRAČNIKAR: Ich freue mich, dass beim Dreh Dinge so geklappt haben, wie ich sie mir vorgestellt hatte und auch, dass es gelungen ist,
                                                   die Erzählung so zu bauen, dass am Ende zwei Möglichkeiten nebeneinander dastehen, ohne dass man eher zu einer oder zur anderen
                                                   tendiert, ohne dass es für den Zuschauer unbefriedigend ist. Für mich ist es von Darstellern und Kamera bis zu Kostüm, Szenenbild
                                                   und Sounddesign ein sehr stimmiger Film geworden. Der erste Drehblock war interessanterweise einfacher als der zweite. Im
                                                   Frühling haben wir das Gros gedreht, wir hatten ein Studio und konnten da alle wetterunabhängigen Szenen drehen. Im Herbst
                                                   hatten wir dann kaum Wetter-Cover-Tage, wir mussten oft das Wetter nehmen, das wir bekamen. Wenn das Wetter sehr wechselhaft
                                                   war, hieß das, dass die Gegeneinstellungen dann nicht zusammenpassten und wir Einstellungen mit neuen Verhältnissen nachdrehen
                                                   mussten. Das Drehen im Freien war anstrengend, dazu kam, dass wir in jeder Woche die ersten Tage bei Tag drehten und in der
                                                   Wochenmitte auf Nachtdreh wechselten. Der Dreh mit dem Kind bedurfte auch einer besonderen Aufmerksamkeit. Alles in allem
                                                   war der zweite Teil schwieriger als der erste. 
Der Film beginnt in Paris. Ist damit auch ein Wink zum französischen Kino verbunden, dem Sie sich besonders verbunden fühlen?
ANDRINA MRAČNIKAR: Sicherlich drückt sich da auch eine Verbundenheit zum französischen Kino von mir aus. Es ging mir aber vordergründig darum,
                                                   dass Paris auch für das Klischee der Stadt der Liebe steht und es dann wirklich zu dieser Begegnung zwischen Hanna und Yann
                                                   kommt.
Interview: Karin Schiefer
Jänner 2015