INTERVIEW

Jasmila Zbanic über ON THE PATH

 

Beide sind auf der Suche nach etwas und haben ihr Ziel noch nicht gefunden. Um dorthin zu gelangen, müssen sie in ihrer Vergangenheit suchen, mehr allerdings noch in ihrer Zukunft.


On the Path ist die Geschichte eines jungen Paares, das Probleme hat, ein Kind zu zeugen. Die Probleme rund um den Beginn eines neuen Lebens scheint mir auch eine Metapher für die Schwierigkeiten beim Neustart in Leben nach dem Krieg, nach so viel Zerstörung, nach so viel Leid zu sein. Stimmen Sie dieser Interpretation zu?

JASMILA ZBANIC: Ja. Das Thema Mutterschaft bringt eine Reihe von Denkprozessen in Gang, man stellt sich die grundlegendsten Fragen, eine Frau muss entscheiden, von wem sie, unter welchen Bedingungen, in welcher Atmosphäre ein Kind haben will. Da besteht auch ein enger Bezug zu Grbavica, wo es um die Frage ging, was tun mit dem Kind, das man nicht haben wollte, weil es mit einem Menschen gezeugt wurde, den man hasst, weil es mit Gewalt und durch Vergewaltigung geschah. Im Vergleich zu Esma in Grbavica hat Luna eine Wahlmöglichkeit, sie ist frei, sich zu entscheiden. Was den Neustart nach dem Krieg betrifft, so ist eine Grundstimmung spürbar, die Möglichkeit, weiterzumachen, vorwärtszugehen. Das ist eine ganz schöne Herausforderung. Sie ist in einem Trauma verwurzelt, aber das Leben geht weiter, nimmt neue Formen an.


Eine klassische Liebesgeschichte folgt einem Mann und einer Frau, bei ihren Versuchen, einander näher zu kommen und endet im Idealfall damit, dass sie sich ineinander verlieben. On the Path erzählt die Geschichte eines Paares, das anfangs einander tief verbunden ist und langsam beginnt, einander fremd zu werden. Ist On the Path eine Art umgekehrte Liebesgeschichte?

JASMILA ZBANIC: Erst beim Schreiben des Drehbuchs wurde mir klar, wie schwierig es war. Die Liebe zu beschreiben, heißt immer einen Grat entlangzuwandeln, da man sehr leicht dem Kitsch in die Falle gehen kann. Menschen, die einander lieben, sind weniger interessant als jene, die jede Gelegenheit zum Streiten nutzen. Es war eine Herausforderung, in kleinen Details das Leben von verliebten Menschen zu beschreiben, ohne in die Standardbilder zu verfallen. Die Badezimmerszene, wo Luna auf der Toilette sitzt und Amar sie aus der Dusche heraus auffordert, die Spülung zu betätigen, weil es stinkt – das sind Bilder, die ich gesucht habe. Sie erzählen etwas vom Alltag der beiden, auch von den unangenehmen Situationen, die für sie nicht unangenehm sind, weil sie einfach ok damit umgehen. Sie sind offen genug im Umgang miteinander, so etwas sagen zu können. Dieses Einführen des Alltags eines Liebespaares war eine schwierige Aufgabe.  Und dann bewegt sich alles von dieser harmonischen Situation auf den gegenseitigen Verlust zu. Beide haben eine ähnliche Geschichte, sind einen ähnlichen Weg gegangen und das verbindet sie. Es gibt viele Schichten, die diese Beziehung beschreiben, so wie es viele Schichten gibt, einander zu lieben und einander viele kleine Dinge zu verzeihen.


In der Regel wird eine klassische Liebesgeschichte dann problematisch, sobald es einen Eindringling, Eifersucht, Verrat gibt. Im Falle von On the Path ist es nicht ein anderer Mann oder eine andere Frau, sondern die Religion, mehr noch religiöser Fundamentalismus. Es gibt einen Moment, wo Luna im Lager von Panik ergriffen wird, weil ihr bewusst wird, dass ihr Amar entgleitet. Wie würden Sie diese „dritte“ die Liebe zerstörende Kraft beschreiben?

JASMILA ZBANIC: Wenn sich „jemand Dritter“ in eine Beziehung drängt, sei dies eine Person, die Religion oder eine Geisteshaltung, dann wird es als dritte Kraft wahrgenommen. Die beiden sollten einen Weg finden, wie sie zu zweit und jeder für sich zusammen sein können. Ich habe es selbst erlebt, dass ein ideologischer „Anderer“ in das Leben von jemandem eindringt, ganz egal, ob es sich dabei um Sozialismus oder Nationalismus oder Religion handelt, es nimmt immer dieselben Formen an. Es taucht eine Struktur auf, die dich plötzlich als Person formt. Dieses „Andere“ nehme ich sehr stark in meiner Gegend war. Auch wenn ich global von diesem Thema sprechen könnte, bewege  ich mich lieber auf einem mir bekannten Boden. Ich kann es nicht erklären, höchstens durch die Nase oder über meine Haut wahrnehmen. Man stößt sehr oft auf diese Geisteshaltungen, von denen Menschen plötzlich völlig besessen sind und die ihnen helfen, dass es ihnen besser geht. Natürlich ist es Amar ein Bedürfnis, sich akzeptiert zu fühlen und diese neuen Ideen verleihen ihm keine Macht, aber die Möglichkeit, zu sich selbst zu finden, leichter einen Sinn im Leben zu finden. Mit einem Schlag findet er Antworten auf alle seine Fragen in einem einzigen Buch, in einer Geisteshaltung. Er beginnt sich zu verändern, indem er sich da hineinfügt und das ist der Zeitpunkt, wo Luna sich zu fragen beginnt „Wer ist der Mann, der mir gegenübersteht?“
Es gab immer wieder Eskalationen in meinem Land, wenn sich dieses „Andere“ in eine Beziehung drang. Für mich steht fest, dass dieser „dritte andere“ nicht stärker als individuelle Gefühle sein kann. Es ist nicht so, wie man es in älteren Filmen aus Ex-Jugoslawien sehen kann, wo sich der Staat in Beziehungen einmischte und die Leute zu Opfern wurden. Ich empfinde das nicht so. Meine Entscheidung ist nicht nur rational. Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass Menschen stärker als diese dritte Kraft sein können. Vielleicht hat das mit meiner Kriegserfahrung zu tun. Ich bin Menschen begegnet, die von bestimmten Ideen völlig vereinnahmt wurden, die davon krank wurden, die jemand anderer wurden. Ich bin aber auch Menschen begegnet, die stärker als alle Manipulationen waren. Sie bewahrten sich selbst so, wie sie waren. Sie waren stärker als jedes System, jedes Regime, jede Religion, jede Geisteshaltung.


Luna und Amar befinden sich in einer Art Teufelskreis – er versucht, sein Alkoholproblem loszuwerden (was sich Luna zutiefst wünscht), aber der Preis, den das kostet, ist zu akzeptieren, dass er einer anderen Sucht erliegt.

JASMILA ZBANIC: Ja, eine Sucht ersetzt die andere. Das ist eine Erfahrung, die ich während meiner Recherche bei diesen Menschen in der Stadt sehr oft gemacht habe. Das ist ein Punkt, den ich besonders betonen muss, dass es sich in meinem Film um eine urbane Gesellschaft handelt. In einem Dorf würde die Sache nochmals anders aussehen. In der Stadt kam es immer wieder vor, dass eine Sucht oder das Gefühl von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein, sie zum Wahhabismus geführt hat. Die meisten Leute, denen ich begegnet bin, waren entweder Punks oder irgendwie in der Alternativszene, drogen- oder alkoholsüchtig. Sie waren schon dieses kleine bisschen angeschlagen, sodass Religion sich ganz leicht einnisten konnte.


Wenn man On the Path und Grbavica gesehen hat, gewinnt man den Eindruck, dass Sie Ihre Geschichten direkt aus Ihrem nächsten Umfeld aufgreifen, als wären Sie ein Sensor, der Stimmungen, Sorgen, Schmerzen der Menschen in Ihrer Nähe erfasst. Dennoch haben Sie auch eine Recherche durchgeführt. Können Sie uns ein wenig darüber erzählen, wie Sie den Plot entwickelt haben?

JASMILA ZBANIC: Mein Grundgefühl ganz im Innersten stand schon sehr früh fest. Ich habe aber dennoch viel Recherche betrieben, um mich sicher zu fühlen und auf sicherem Boden zu bewegen, damit ich über mein Thema wirklich gut Bescheid weiß. Ich habe sehr viel über Wahhabismus und die Bewegung in Bosnien gelesen, viele Leute getroffen, mit Behörden und auch mit Wahhabismus-Kritikern gesprochen. Ich habe versucht, mir ein Bild zu machen, was einige Zeit in Anspruch genommen hat. Für jemanden wie mich, die ich nicht religiös bin, war es ziemlich schwierig, für all das eine Erklärung zu finden. Ich musste gleichsam meine Kleider ablegen, und völlig nackt vor diesen Ideen stehen, um meine Vorurteile loszuwerden und um kein voreiliges Urteil zu fällen, was mein eigenes ziviles Handeln betrifft. Es ging darum, völlig nackt zu sein, um in die Geschichte hineinzufinden. Natürlich war ich anfangs voller Vorurteile. Auch bosnische Muslime lehnen diesen Radikalismus strikt ab, sie stimmen keineswegs mit ihren Haltungen überein und halten das für einen neuen Stil, den es zuvor in Bosnien nicht gegeben hat und von dem sie meinen, dass er mit dem Terrorismus in Verbindung steht. In der Regel ist die Haltung gegenüber dem Wahhabismus auch innerhalb der bosnischen Muslime sehr negativ.


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bosnien hinsichtlich der muslimischen Bevölkerung und des Wahhabismus dort beschreiben?

JASMILA ZBANIC: Ich glaube nicht, dass der Wahhabismus eine sehr starke Bewegung in Bosnien ist, seit den Anschlägen vom 9. September ist er schwächer vertreten, zuvor war er von Saudi-Arabien unterstützt worden. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt, was zu ihrer Isolierung innerhalb der bosnischen Gesellschaft beiträgt, das ist alles andere als gut. Es gibt starke Spannungen unter den Muslimen. 


Sie haben als Titel On the Path gewählt, was zum einen den Weg zu Gott evoziert, mit dem sich aber auch viele andere Assoziationen verbinden. Warum fiel die Wahl auf diesen Titel?

JASMILA ZBANIC: Ich wollte keinesfalls zu einer einzigen, eindeutigen Lösung gelangen. Mir gefiel der Prozessgedanke, „unterwegs sein“ heißt, man hat sein Ziel immer noch nicht erreicht.  Ich wollte, dass der Film offen bleibt und die Figuren verschiedene Wege ausprobieren lässt. Beide sind auf der Suche nach etwas und haben ihr Ziel noch nicht gefunden. Um dorthin zu gelangen, müssen sie in ihrer Vergangenheit suchen, mehr allerdings noch in ihrer Zukunft. Und dann geht es auch um den Aspekt der Spiritualität. Was auch immer das für jeden bedeutet ? für Amar könnte es Gott sein, für Luna etwas anderes. Und der Ausdruck „na putu“, so lautet der Titel im Original, wird bei uns auch verwendet, wenn jemand ein Baby erwartet. Wir sagen „beba je na putu“, es ist im Kommen, es gibt nicht keine Gewissheit, es ist noch nicht geboren, aber es ist unterwegs. Ich finde der Titel passt sehr gut, ich hoffe, er lässt sich auch verkaufen.


Das Ende des Films haben Sie sehr offen gelassen. Hatten Sie beim Schneiden gezögert, sich für ein klareres oder ein offenes Ende zu emtscheiden?

JASMILA ZBANIC:  Mir ist beim Schneiden bewusst geworden, dass es nicht gut wäre, eine eindeutige Antwort zu liefern, ob sie sich nun trennen oder wieder zueinander finden. Ich hatte den Eindruck, dass es fürs Publikum wichtiger wäre, weiter nachdenken zu können und sich ihren Verlauf der Geschichte, entsprechend ihren eigenen Gefühlen, und dem, was sie hoffentlich im Laufe des Filmes selbst entdeckt haben, zurechtlegen zu können. Wir hatten einige Szenen, die eher in Richtung einer klareren Antwort führten und wir beschlossen schließlich, sie wegzulassen und es dem Publikum zu überlassen. Ich wollte, dass das Publikum mitlebt und sich mit den Figuren identifiziert, ich wollte, dass sie auch nach dem Film noch bei den Figuren bleiben.


Zrinka Cvitesic wurde für ihre Interpretation der Luna auch als einer der zehn Shooting Stars 2010 ausgewählt. Wie haben Sie sie entdeckt?

JASMILA ZBANIC:  Ich habe mir mehrere Filme angeschaut und zunächst mehrere Schauspielerinnen zum Casting eingeladen. Am Anfang war ich mir nicht so sicher, Zrinka kommt aus Kroatien, sie ist ein Glamour-Girl, die man immer wieder auf Magazincovers finden kann und ich bin ja eher alternativ ?, aber als sie kam, war es einfach sonnenklar, wie gut sie ist. Was für mich auch noch ein Hindernis war, war die Tatsache, dass sie bereits mit Leon Lucev in einem anderen Film ein Paar gespielt hat und das wollte ich in meinem Film nicht reproduzieren. Ich suchte in Serbien, Kroatien, Slowenien und Bosnien und musste mir einfach eingestehen, dass ich meinen Film nicht deshalb kaputt machen sollte, nur weil mein Ego unbedingt nach neuen Entdeckungen verlangte. Crinka und Leon waren ganz  einfach die perfekte Wahl.
Und ich war auch sehr froh, wieder mit Mirjana Karanovic zusammenarbeiten zu können, ich mag sie sehr und sie hat sich sehr über die Rolle der Nadja gefreut. Sie hat selbst recherchiert, hat sich mit Frauen, die einen Niqab tragen, unterhalten, was eine völlig neue Erfahrung für sie war. Sie hat in der Stadt eine ganze Reihe sehr interessanter Frauen entdeckt, die unterhalb des Niqab toll gekleidet waren ? Universitätsprofessorinnen, Studentinnen, Lehrerinnen. Wie waren beide so schockiert, dass diese Frauen, unsere Zeitgenossinnen, fähig waren, unter diesem Schleier ihre Freiheit zu finden.


Hatten Sie am Anfang Ihrer Recherche viele Vorurteile?

JASMILA ZBANIC: Ja, es war ein sehr wesentlicher Punkt, die Vorurteile zu brechen. Ich hatte stets den Eindruck gehabt, dass das Tragen der Niqab ein Ausdruck von Repression sei. Plötzlich begegnete ich Frauen, die, ich würde sagen, zu 90% aus weltlichen, atheistischen Familien kommen. Es ist für sie entweder ein Ausdruck des Protestes oder ein Zeichen von ihnen, ihren Weg gefunden zu haben. Wir waren total überrascht, denn es hat nicht in unsere Denkmuster gepasst.


Haben Sie von all Ihren Hauptdarstellern verlangt, zu recherchieren?

JASMILA ZBANIC:  Es war für alle meine Schauspieler sehr wichtig, die Art von Leuten zu treffen, die sie darstellen würden.  Leon und Zrinka kommen aus Kroatien, sie kannten Sarajewo nicht, umso wichtiger war es, dass sie einige Zeit dort verbrachten. Das machten sie dann auch insgesamt zwei Monate lang, unterhielten sich mit Leuten, gingen aus mit ihnen oder trafen meine Freunde. Wir haben sehr intensive an der Sprache gearbeitet, die im Prinzip sehr ähnlich ist, aber einen ganz anderen Akzent hat. Ich wollte, dass sie wirklich wie Leute aus Sarajewo klangen und ich dachte, dass es für sie wichtig wäre, durch das Verständnis des Sprachrhythmus und der Sprachstruktur die Seele ihrer Figur zu finden.


Wenn sie die Situation in Sarajewo zur Zeit des Drehens und Arbeitens an Grbavica mit der an On the Path vergleichen, empfinden Sie da einen Unterschied. Verspüren Sie etwas wie Enttäuschung oder Resigniertheit, die, wie ich es in meiner ersten Frage formuliert habe,  aus den Schwierigkeiten einen Neubeginn zu schaffen, resultieren?

JASMILA ZBANIC: Das ist sehr schwierig, in Worte zu fassen, vielleicht ist es mit ein Grund, weshalb ich es über Filme auszudrücken versuche. Es herrscht ein Gefühl von Ungerechtigkeit, das durch die Finanzkrise noch verstärkt wird, die Menschen sind wirklich in großen Schwierigkeiten und es geht nichts weiter. Es war sicherlich eine psychologisch fatale Entscheidung der EU, die Visaerleichterung für Montenegro, aber nicht für Bosnien einzuführen. Die Bosnier möchten sich als Europäer identifizieren, wenn die EU aber alles tut, um zu zeigen, sie sind es nicht, dann taucht klarerweise die Frage auf “Wer sind wir dann?”  Wir tragen Niqabs und passen perfekt ins EU-Vorurteil von Bosnien. Nächstes Jahr sind Wahlen in Bosnien, diese Entscheidung war eine fatale Botschaft an die Bosnier.  Ich betrachte die bosnische Gesellschaft als eine traumatisierte Gesellschaft, die geheilt werden sollte und nicht mit Stiefeln getreten, wie es gerade passiert. Ich will  jetzt aber nicht zu pessimistisch klingen. Es ist immer noch eine kreative Kraft in Sarajevo spürbar, die nicht viel bedarf, um aufzublühen.


Interview: Karin Schiefer
Berlin, Februar 2010