INTERVIEW

«Es wurde für uns zur Prämisse, dass dieser Film unser Leben retten muss.»

Für ihr Vorhaben, in der Obersteiermark gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung im Genre des Heimatfilms zu experimentieren, wagten sich Kelly Copper & Pavol Liska an Elfriede Jelineks Textmassiv Die Kinder der Toten, ohne die deutschen Sprache zu beherrschen. Claus Philipp, künstlerischer Mitarbeiter und Dramaturg, legte durch seine vermittelnde Lektüre den Zugang ins sprachliche Dickicht des 666 Seiten umfassenden Opus magnum und war von Anfang an in der Aufbereitung des Terrains für ein einzigartiges Film-, Performance- und Publikumsprojekt eingebunden.


Das Außergewöhnliche an DIE KINDER DER TOTEN ist, dass die Schaffung eines filmischen Kunstwerks mit dem bzw. durch das Publikum zum Programmpunkt innerhalb eines großen interdisziplinären Festivals geworden ist. Welche kuratorische Überlegung stand hier dahinter? Hat das Nature Theater of Oklahoma oder Elfriede Jelinek den ersten künstlerischen Anstoß geliefert?
 
CLAUS PHILIPP: Die Genese des Projekts, die ins Jahr 2015 zurückreicht, ist sehr komplex. Den Anlass lieferte zum einen die 50. Ausgabe des steirischen herbstes, zum anderen die Vorgabe, dass das Festivalprogramm nicht nur in Graz stattfinden, sondern auch in die Regionen reichen sollte. Veronica Kaup-Hasler, damals noch herbst-Intendantin, hatte die Absicht, ein Großprojekt in der Obersteiermark zu realisieren, weil diese erstens ein historisch sehr aufgeladenes Gebiet ist und zweitens von der sozialen Struktur her sehr interessant ist. Die ehemaligen einheimischen Holzarbeiter sind heute großteils arbeitslos, ihre Arbeit wird von rumänischen Leasing-Arbeitern erledigt. Dazu kam, dass zwischen dem steirischen herbst und dem Nature Theater of Oklahoma schon eine langjährige Verbindung bestand, da Veronica die Performancekünstler bei einem ihrer ersten steirischer herbst-Festivals zum ersten Mal nach Europa geholt hatte. Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma haben 2015 in Deutschland am Rhein an einem Projekt mit dem Titel The Nibelungen Cycle gearbeitet, wo sie mit Fahrrädern den Rhein entlangfuhren und mit Amateuren ein Remake von Fritz Langs Die Nibelungen drehten. Kelly und Pavol hatten wiederum schon lange den Wunsch gehegt, einen Heimatfilm zu machen, und wir standen eingangs vor der schwierigen Frage, für die Obersteiermark einen äquivalenten Stoff zu den Nibelungen zu finden. Ich weiß nicht, was für eine Eingebung mich auf Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten gebracht hat, den ich selbst vor wahrscheinlich 25 Jahren zuletzt gelesen hatte. Wir haben uns sehr schnell auf diesen Stoff geeinigt, umso mehr, als er genau in der Gegend spielte, wo das Projekt stattfinden sollte: zwischen Mürzzuschlag und Mariazell. Zunächst war Die Kinder der Toten also in Anlehnung an das Nibelungen-Projekt konzipiert, d.h. mit einem Dreh im Rahmen der Theaterperformance, die unter Beteiligung der Bevölkerung stattfinden sollte.
 
 
Wenn auch angeregt vom Nibelungen-Stück, so wurde DIE KINDER DER TOTEN zu einem ganz eigenständigen und auch für das Nature Theater of Oklahoma neuartigem Projekt. Wie begann es seine Formen anzunehmen?
 
CLAUS PHILIPP: Wir standen zu Beginn vor zwei Problemen: Zum einen ist das Buch bis dato nicht ins Englische übersetzt und musste Kelly und Pavol in Form von detaillierten Zusammenfassungen nähergebracht werden. Zum anderen fand ich es bedauerlich, dass die filmischen Arbeiten der beiden immer nur im Rahmen von Theaterfestivals zu sehen waren und nie regulär ins Kino kamen. So habe ich in einem sehr frühen Stadium bei Ulrich Seidl angefragt, ob er sich vorstellen könnte, den Film zu koproduzieren, sodass sich die Möglichkeit ergab, das Projekt in ein performatives Produkt und in einen Film zu splitten. Das Nature Theater of Oklahoma bezieht seinen Namen übrigens auf Kafkas Roman Amerika, in dem das Naturtheater von Oklahoma durch die Staaten zieht und die Leute einlädt, sich zu beteiligen. Es gibt in Die Kinder der Toten übrigens tatsächlich den Satz: „Auf dieser Naturbühne treten nur Laien auf.“ Also noch ein weiterer Anknüpfungspunkt zwischen den beiden.
 
 
Jeder Leser hat mit diesem Roman seine persönliche Lesegeschichte. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Text gemacht?
 
CLAUS PHILIPP: Ich hatte immer viel Jelinek gelesen, nicht zuletzt deshalb, da ich durch meine Arbeit mit Christoph Schlingensief rund um Bambiland und Area 7 zunehmend aktiv mit ihrem Werk zu tun hatte. Meine ersten beiden Lektüren von Die Kinder der Toten waren stumm, das dritte Mal habe ich den Roman Veronica laut vorgelesen, bei Lektüre Nr. 4 für dieses Projekt habe ich Seite für Seite, Absatz für Absatz handschriftlich das Buch zusammengefasst und auf der Basis eines 44 Seiten umfassenden Protokolls, das dabei entstanden ist, haben wir dann über drei Tage hinweg Pavol und Kelly das Buch nacherzählt. Dabei ging es in erster Linie um Inhaltliches, ich habe aber auch versucht, auf die doch sehr beträchtlichen sprachlichen Finessen hinzuweisen. Ich bin ein manischer Leser (zur Zeit lese ich David Foster Wallace’ Infinite Jest) und man muss sich bei solchen Büchern anfangs eine mönchische Disziplin auferlegen. Bei Jelinek hieß das anfangs: immer ein Kapitel pro Tag, irgendwann gelangt man in einen Flow, dann ist es wie schwierige, sehr verführerische Musik. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bei diesem Roman laut Lesen das Beste ist. Wir haben auch in Neuberg an der Mürz parallel zum Dreh gemeinsam mit der Bevölkerung eine Art Stafetten-Lesen veranstaltet – jeder konnte sich für einen 15-Minuten-Slot auf einer Liste eintragen – , und in 144 Stunden das Buch fünf Mal durchgelesen. Es ist schon eine bemerkenswerte Erfahrung, wenn um drei Uhr nachts ein Polizist aus Kapfenberg kommt und sagt, er würde auch gerne mal Jelinek lesen.
 
 
Wie ist dann, nachdem Sie zwischen den Regisseuren, die nicht Deutsch sprechen, und dem 666 Seiten starken Text die Brücke geschlagen hatten, das Drehbuch entstanden?
 
CLAUS PHILIPP: Kelly und Pavol waren anfangs wohl etwas verzweifelt, zumal sie mit anderen Theater- oder Filmemachern die Ansicht teilen, dass gute Bücher selten auch gute Filme werden. Er brauchte jeden möglichen Abstand, um nicht in einen Konkurrenzdruck zu geraten, so gut wie Jelinek sein zu müssen. Es gab insgesamt vier Drehbuchversionen, eine davon war nur ein Protokoll, das entstand, nachdem wir eine Woche lang mit den beiden durch die Region gefahren waren, um ihnen Orte wie das Niederalpl, Mariazell, Neuberg, Krampen oder das Haus von Elfriede Jelinek zu zeigen. Diese Fassung war uns noch viel zu persönlich, von da ausgehend hat sich das Drehbuch dann langsam verdichtet und völlig verändert. Wir waren beide – Veronica und ich – sehr intensiv auch in die inhaltliche Arbeit eingebunden, die ich als permanente Übersetzungstätigkeit bezeichnen würde: Übersetzung in Richtung Kelly und Pavol, in Richtung Elfriede Jelinek, in Richtung der lokalen Bevölkerung. Wir und der herbst-Produktionsleiter Jakob Schweighofer haben über zwei Jahre hindurch beinahe wöchentlich diesen Ort aufgesucht, damit die Menschen nicht den Eindruck hatten, dass hier nur verschrobene Künstler auftauchen, um gönnerhaft ihre Ideen von Kunst und Kultur am Land/ „in der Provinz“ abzuwickeln, sondern dass sie ernsthaft einbezogen wurden. Als wir hörten, dass der FP-Vizebürgermeister von Neuberg an den Stammtischen murrte, haben wir einen Termin mit ihm vereinbart, um herauszufinden, was ihm an unserem Projekt missfiel. Er war sehr gut über die Autorin und den Roman informiert, am Ende hat er uns sogar als Feuerwehrkommandant gratis die Feuerwehrautos für die Unfallszene zur Verfügung gestellt. Wir haben auch auf der Basis des Romans Wanderungen in der Region organisiert, um den Leuten gemeinsam mit den dortigen Wanderführern die Originalschauplätze und ihre sozialen und historischen Implikationen näher zu bringen. Die fundamentalste inhaltliche Änderung, die wir im Film vorgenommen haben: Bei Jelinek wird alles von einer Mure überschwemmt und die Untoten kommen aus dem Erdreich. Das haben wir aufs Kino übertragen und lassen die Toten aus der Leinwand treten.
 
 
Wie sehr war Elfriede Jelinek ins Projekt involviert?
 
CLAUS PHILIPP:  Sie war sehr bald eingebunden. Wir hatten auch Glück, dass Gitta Honegger, ihre Übersetzerin ins Englische, die auch Professorin für Theaterwissenschaften in den USA ist, die Arbeit des Nature Theater of Oklahoma gut kannte und daher ein gutes Wort für uns eingelegt hat. Elfriede Jelinek, so zurückgezogen sie lebt, ist ja unheimlich gut informiert. Und sie kannte auch Life and Times, das mehrteilige Stück, das das Nature Theater of Oklahoma am Burgtheater gezeigt hatte. Nach einem ersten Treffen, war sie vom Look und dem Auftreten der beiden restlos begeistert und überantwortete uns den Roman mit den Worten: „Dies ist mein Hauptwerk, ich schenke es euch.“ Als Pavol sie auf die Essenz des Buches befragt hat, antwortete sie: „Es hat mein Leben gerettet.“ So wurde es umgekehrt für uns ebenfalls zur Prämisse, dass dieser Film unser Leben retten muss.
 
 
Auch wenn das Buch Leben gerettet hat, so ist doch das Motiv der Untoten in Die Kinder der Toten sehr zentral. Welche Bedeutung hat es bei Elfriede Jelinek?
 
CLAUS PHILIPP: Es gibt bekanntermaßen zwei Lieblingsfilme von Elfriede Jelinek, die auch für Die Kinder der Toten eine große Rolle gespielt haben. Der eine ist Carnival of Souls von Herk Harvey, der zweite ist Alfred Hitchcocks Vertigo. Dazu kommt ein einflussreicher österreichischer Roman – Die Wolfshaut von Hans Lebert aus dem Jahr 1960. Bis zum Erscheinen von Die Kinder der Toten 1995 gab es in der österreichischen Literatur eher Romane von Söhnen und Töchtern, die mit ihren Nazi-Vätern nicht zurechtkamen, bei Jelinek geht diese Thematik aber in einen organischen Bereich des Verwesenden, also auch sich wieder Regenden über. In Die Kinder der Toten ist es so, dass all die Toten, die der Erde entsteigen, den Boden so destabilisieren, dass sich in einer ohnehin schon ausgeweideten Natur Muren lösen und alles unter sich begraben. Schon bei Lebert gibt es das Bild der Leichenhalden als Bild für den Umgang mit Vergangenheit. Das Wichtige in Anlehnung an Carnival of Souls ist die Behauptung „Wir sind tot, aber wir wissen es nicht.“ Es war wohl ein Running Gag des Projekts, dass ich immer sagte, dass ein Zombie und ein Untoter gänzlich verschieden seien; ein Zombie ist zwar filmisch geiler, ein Untoter ist die traurigere Figur, der sich möglicherweise unter den Lebenden bewegt und nicht weiß, dass er nicht gesehen wird. Es zog sich also eine quasi humoristische Auseinandersetzung durch den Film um die Frage: „Wann kommen die Zombies und wann die Untoten?“ Ein anderer wichtiger Aspekt, den die Untoten bei Jelinek ins Spiel bringen, ist ihr Umgang mit der Zeit. Am Beginn des Buches ereignet sich ein Autounfall mit einem Touristenbus, der die grundlegende Frage aufwirft: Ist das, was sich über 666 Seiten im Roman abspielt, ein „Letzte-Sekunde-Film“ oder eine sich tatsächlich über Wochen hin erstreckende Geschichte einer Naturkatastrophe? Im Buch gibt es dafür ein sehr schönes Bild – das einer steirischen Knöpferlharmonika: diese kann man langsam auseinanderziehen oder wieder ganz eng zusammenschieben, der Ton bleibt derselbe.
 
 
Woher rührte die Idee, auf analogem Filmmaterial zu drehen?
 
CLAUS PHILIPP: Wir haben den Film auf 666 Super-8 Filmrollen gedreht. Da es im ganzen Buch keinen Dialog gibt, schien uns die Idee, auf ein so sprachgewaltiges Werk nicht mit einer papierenen Dialogversion zu reagieren, sondern einen Stummfilm zu produzieren, als sehr schlüssig. Dazu kam, dass es sich mit Super-8 um ein touristisches Filmformat handelt. Video schien uns keine passende Alternative. Wenn man ehrlich war, musste man zu analogem Material und zu Super-8-Kameras greifen und wie ein Pistolenschütze ein knackiges B-Picture filmen, das auch die Maße des B-Pictures nicht überschreitet. Das Super-8 Format legt auch nahe, sehr bündig zu erzählen. Es war uns wichtig, nicht in Blödeleien zu kippen und dennoch auf die Jelinek’schen Kalauer Rücksicht zu nehmen, gleichsam den Humor zu behalten und gleichzeitig eine beklemmende Situation herzustellen. Kodak ist uns als Großabnehmern sehr entgegen gekommen, analoges Filmmaterial scheint auch gerade wieder wie Vinyl etwas an Terrain zu gewinnen. Herstellungstechnisch muss man sich vor Augen halten, dass wir nach jedem Dreh die fertigen Rollen wieder verpackt und zur Entwicklung und Digitalisierung nach Berlin geschickt haben und erst als der steirische herbst vorbei war, die Gewissheit darüber erhalten haben, ob alles gut gegangen war. Nachdrehs wären undenkbar gewesen. Die Darstellerin der Mutter von Karin hat sich bei einer Szene verletzt, sie hat ihre Rolle aber mit eiserner Disziplin durchgezogen. Wäre sie uns ausgefallen, hätten wir keinen Ersatz gehabt. Erst im Nachhinein wird mir manchmal kalt, wenn ich daran denke, was uns hätte passieren können.
 
 
Wie kam dieser breite Cast aus nicht professionellen Darstellern zusammen?
 
CLAUS PHILIPP: Es ist kein einziger professioneller Schauspieler im Film zu sehen. Wir haben uns viele Stummfilme angesehen und viele Male Erich von Stroheims Blind Husbands, wo auch sehr viele Laien beteiligt waren. Der Hauptcast besteht aus etwa 20 Leuten, insgesamt kann man im Nachspann aber an die 400 Namen von Leuten lesen, die mitgemacht haben. Wir haben die Rollen nach der zeitlichen Verfügbarkeit der Leute verteilt. Für die Dreharbeiten selbst hatten wir eine Woche Vorlauf, ansonsten haben sich die Daten mit denen des steirischen herbstes gedeckt. An den Wochenenden wurden immer die Großereignisse gedreht: am ersten die Autoexplosion, am zweiten die Cinema 666-Szenen und am dritten der Umzug der Toten, der – wir hätten es niemals planen können – mit dem Wochenende der österreichischen Nationalratswahl 2017 zusammen gefallen ist. Die Rückmeldungen zu den Castings waren überwältigend, dennoch blieben bei uns Unsicherheit und Sorge, dass am ersten Wochenende etwas schief gehen und in der Folge am zweiten niemand mehr auftauchen könnte. Der steirische herbst hat sich da sehr stark eingesetzt, um alles in Bewegung zu halten. Es hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen. Natürlich war die Bevölkerung zunächst skeptisch und es waren auch Gerüchte von Horror und Porno schnell im Umlauf. Jetzt kann man rückblickend sagen, die ganze Sache hat als Performance schon sehr gut funktioniert und das Projekt hat, bevor es noch auf der Leinwand zu sehen ist, sogar einen Nestroy-Theaterpreis bekommen. Wer das Container-Projekt von Schlingensief gesehen hat, der weiß auch, wie Performance als soziale Skulptur funktionieren kann. So würde ich unser Die Kinder der Toten auch gerne benennen – eine soziale Skulptur.
 
 
Wie teilte sich Ihre Zusammenarbeit mit den beiden Regisseuren in der Drehphase auf? Wie erlebt man den Umgang der beiden mit den DarstellerInnen?
 
CLAUS PHILIPP: Ich war auch schon bei den Dreharbeiten von Germany Year 2071 dabei, einem Projekt für die Festivals in Köln und Berlin in Anlehnung an Rossellini und Godard, das auf einer sehr simplen Idee basierte: die Protagonisten gehen rückwärts; und wenn man den Film dann rückwärts abspielt, gehen sie vorwärts, während sich ihr gesamtes städtisches Umfeld rückwärts bewegt. Ich habe dabei festgestellt, dass die Festivals, für die Kelly und Pavol gearbeitet haben, die beiden ziemlich allein gelassen haben. Sie mussten über die Regiearbeit hinaus etwa auch noch Blogs schreiben und das Publikum anmoderieren. Das schien mir zu viel. Ich habe es als eine meiner Aufgaben in meiner Funktion für “künstlerische Mitarbeit und Dramaturgie” betrachtet, die beiden frei zu spielen, damit sie sich auf ihre Regiearbeit konzentrieren konnten. Damit hatten sie auch genügend Luft, um mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Die Leute waren begeistert, sie beeindruckten allein schon durch ihr schräges Auftreten – Kelly im Dirndlkleid, Pavol mit einem Steirerhut. Lustigerweise “verkleiden” sich die beiden Regisseure immer wie Schauspieler, sodass es sofort etwas Performatives bekommt. Pavol ist ein sehr körperbetonter „demonstrator“, der den DarstellerInnen immer vorspielt, was sie zu tun haben; das passt wiederum sehr gut zur Stummfilmmethode.
 
 
Wie sehr habt ihr jetzt – das Ergebnis vor Augen – das Gefühl, dass euer Plan, ein Projekt in Verbindung mit einer Region entstehen zu lassen, aufgegangen ist? Dies umso mehr mit einem Werk, das als besonders schwer zugänglich gilt und von einer Künstlerin ist, die in Österreich trotz Nobelpreises mit sehr viel Ablehnung umgehen muss(te).
 
CLAUS PHILIPP: Begonnen hat die Performance quasi bereits vor drei Jahren, wo es in der Anfangsphase nur darum ging, Leute dort zu treffen, zu kommunizieren und zu übersetzen. Nicht nur das hat große Freude gemacht, es war jetzt als Abschluss bei der Nestroy-Preisverleihung auch sehr beglückend zu sehen, was es für die LaiendarstellerInnen, die zur Gala mitgekommen waren, bedeutet hat, diese Anerkennung zu erleben. Die Leute haben sich mit vollem Einsatz in ihre Arbeit gestürzt, die weit übers Spielen hinausging. Für Veronica Kaup-Hasler war es das größte Projekt, das unter ihrer Ägide entstanden ist und sie ist dafür ein beträchtliches Risiko eingegangen. Gerade im Jahr des 50. herbst-Jubiläums wäre es sehr schlecht in der Öffentlichkeit angekommen, wenn es an irgendwelchen Unwägbarkeiten gescheitert wäre. Doch dieses Projekt stand immer unter einem guten Stern.  Hilfreich war auch der Umstand, dass über die Ulrich Seidl Film Produktion die Filmförderung miteingestiegen ist, und zwar für ein Drehbuch, das formal eher einem literarischen Genre zuzuordnen war. Veronica hatte mit partizipativen Formaten einiges an Erfahrung gesammelt. Bei diesem Projekt ging es so weit, dass sich die zugewiesenen „Rollen“ eigentlich verkehrten – das Publikum wurde zu einer Darstellergröße und die Regisseure zu Zuschauern, die das betrachten, was sie filmen wollen. Es war nicht mehr eindeutig zu sagen, wie sehr jemand Beteiligter war oder sich aus der Sache zurückziehen konnte. Das ist meiner Meinung nach das Hochpolitische daran: Inwiefern schauen wir uns selbst beim Zuschauen zu? Inwiefern sind wir im Zuschauen bereits in einer Rolle, die uns befriedigt oder nicht? Sind wir die Haupt- oder die Nebendarsteller? Der Film ist nochmals etwas ganz anderes als das, was im Entstehungsprozess in Neuberg passiert ist. Ulrich Seidl ist der ideale Produzent für ein solches Projekt. Er ist aus eigener Erfahrung der erste, der versteht, dass man sich bis zum Schnittplatz mit einer gewissen Freiheit bewegen muss und er hat uns auch für die Postproduktion die besten Kontakte gelegt. Er hat einen Anspruch, dass ein Projekt mit höchster Professionalität abgewickelt wird, dafür trifft er Vorsorge. Bei den wenigen Leuten, denen wir den Film bisher gezeigt haben, stößt er auf sehr interessierte Reaktionen, weil er genuin filmisch und nicht literarisch zu argumentieren versucht. Aber ich glaube, es gibt allgemein ein großes Bedürfnis, dass gewisse formale Korsette wieder aufgesprengt werden.
 
 
Dem Film gelingt es dennoch auf sehr eindrucksvolle Weise, die sprachliche Dimension zu vermitteln. Hier scheint es über das rein Inhaltliche hinaus ein sehr intuitives Verständnis für Jelineks Arbeit zu geben.
 
CLAUS PHILIPP: Wir haben uns in den Jahren dieser Zusammenarbeit sehr gut kennen und schätzen gelernt. Pavol und Kelly sind zwei sehr sensible, unprätentiöse, ganz außergewöhnliche  Menschen. Elfriede Jelinek hat mir einmal in einem Mail über die beiden geschrieben: „Pavol und Kelly wissen Dinge, von denen sie eigentlich nichts wissen können. Das ist meine Definition von Kunst.“
 
 
 
Interview: Karin Schiefer
Dezember 2018