INTERVIEW

«Diese Liebe hat Traumcharakter.»

Ein Gespräch mit Ruth Beckermann, die sich in Die Geträumten, ihrer filmischen Annäherung an den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, erstmals auf das Terrain des Spielfilms begeben hat.


Unser Gespräch über Ihren letzten Film Those Who Go Those Who Stay endete mit folgenden Sätzen: Das Hors-Champs muss man sehr viel stärker sichtbar machen. Vielleicht sollte man einen Film machen, über alles, was man nicht filmen kann. Es war die Rede von den Grenzen des Dokumentarfilms und des Schauens überhaupt. Mag es sein, dass nun der literarische Text, die Stimme bzw. das Hören – also andere Sinneswahrnehmungen, andere künstlerische Ausdrucksweisen – ein Fenster geöffnet haben, um mit Die Geträumten neues filmisches Terrain zu beschreiten?
 
RUTH BECKERMANN: Dieser neue Film betritt ganz gewiss neues Terrain. Ich hab in Die Geträumten nicht nur zum ersten Mal mit Schauspielern gearbeitet, sondern insgesamt ganz anders gearbeitet als zuvor, ohne mir von Beginn an klar zu sein, wie weit ich mich vom Essayfilm entfernen würde. Ein literarischer Text als Vorlage kam durch die Begegnung mit der Literaturkritikerin Ina Hartwig ins Spiel, mit ihr habe ich über ein Jahr hinweg das Buch für den Film entwickelt. Es gab sehr viele Textfassungen, wahrscheinlich an die 25. Wir lernten uns in der Jury des Wartholz Literaturpreises kennen. Auf der gemeinsamen Autofahrt vom Wiener Flughafen nach Reichenau/Rax unterhielten wir uns über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, der vor einigen Jahren unter dem Titel „Herzzeit“ erschienen ist. Ina schreibt an einem Buch über Ingeborg Bachmann. So ergab sich die Zusammenarbeit und wir haben sehr schnell ein Exposé eingereicht.
 
 
Ingeborg Bachmann wie auch Paul Celan sind sehr sprachintensive Stimmen der deutschsprachigen Poesie der Nachkriegszeit. Wie findet sich eine filmische Sprache angesichts dieser sprachlichen Dichte? Wie sind Sie ans szenische Schreiben herangegangen?
 
RUTH BECKERMANN: Die Idee, dass zwei Personen (nicht unbedingt Schauspieler) Sprecher spielen, die in einem Tonstudio für ein Hörbuch oder eine Sendung die Briefe aufnehmen, war von Anfang an da. Ursprünglich sollte das aber nur ein Teil des Films sein. Geplant war, dass die Stimmen ins Off gehen und ich immer wieder an Orten drehe, wo Bachmann und Celan gelebt haben – nicht dokumentarisch im Haus, wo sie gewohnt haben, sondern sehr assoziativ und frei und heutig. In Paris, in München, in Zürich, in Rom. Ich war zunächst noch eher auf einer essayistischen Schiene und hatte an einigen Orten bereits Bilder und Töne gedreht. Vor dem eigentlichen Dreh mit den Schauspielern habe ich einen Probedreh mit Freunden gemacht, um heraus zu finden, ob die Texte stark genug für diese radikale Reduktion sind. Schon damals hoffte ich insgeheim, dass es ein Kammerspiel werden würde. Die beiden Darsteller – Anja Plaschg und Laurence Rupp – waren beim Dreh so stark, dass die konzentrierte Form im Funkhaus passte. Nach einer ersten Montage sahen Dieter Pichler, mein Cutter, und ich uns an und sagten: Das ist es, wir bleiben in dem Raum.
 
Also ein sehr kontrolliertes Arbeiten wie beim Spielfilm?
 
RUTH BECKERMANN: Das Neue an der Herangehensweise war die intensive Vorbereitung. Am  Dokumentarfilm gefällt mir, dass ich mich hineinwerfen kann und während des Drehens so viel Überraschendes erlebe. Und in der Montage den Film noch einmal neu erfinde. Das Ganze ist ein Abenteuer. Die Vorbereitung von Die Geträumten ging bis ins kleinste Detail. Ich habe ein Jahr lang immer wieder mit dem Kameramann Johannes Hammel an Ideen für Licht und Auflösung gearbeitet und über ein halbes Jahr mit Lisa Olah, einer sehr klugen Casterin. Die überraschende Erfahrung für mich war die, dass es sehr spannend ist, so etwas vorzubereiten. Einfache Elemente bekommen im Spielfilm plötzlich Wichtigkeit. Wie lange wir überlegt haben, bis die richtige Farbe und Größe für die Textblätter feststand, die nicht zu sehr reflektieren und die Gesichter nicht zu sehr verbergen sollten.
 
 
Hatte es mit der Dichte der Sprache zu tun, dass man ihr mit dieser starken Reduktion entgegentreten musste?
 
RUTH BECKERMANN: Gewiss. Im Vordergrund stand aber das Thema. So eine romantische und tragische Liebesgeschichte ist schon einmal sehr stark. Die Sprache der beiden ist unglaublich. Das sind Voraussetzungen, bei denen man sich ein hohes Maß an Reduktion erlauben kann. Ich mag Reduktion sowieso. Mich hat zunächst aber etwas ganz anderes interessiert: Nämlich, wie diese Briefe und diese Sprache heute auf junge Menschen wirken. Es war ein Experiment:  Ich wollte sehen, was diese Briefe mit heutigen jungen Menschen machen. Bachmann und Celan waren ja sehr jung, als sie einander kennen gelernt hatten. Sie 22, er 27. Ich wollte ganz junge Schauspieler haben und zwar Schauspieler, bei denen ich mir vorstellen konnte, dass die Texte bei ihnen etwas auslösen – bei jedem einzelnen und in der Beziehung zueinander.

 
Sie haben einen sehr überraschenden Cast, insofern als Sie dem Ensemblemitglied des Burgtheaters, Laurence Rupp, mit Anja Plaschg eine der großen Protagonistinnen der jungen österreichischen Musikszene zur Seite stellen. Warum diese Wahl?
 
RUTH BECKERMANN: Anja Plaschg war ganz schnell meine Wahl. Trotzdem habe ich mir auch Schauspielerinnen angesehen, weil mir bewusst war, dass die Anforderung an eine Nicht-Schauspielerin sehr hoch ist. Ich bin aber immer wieder auf sie zurückgekommen, weil sie nicht allein eine starke, sondern die richtige Persönlichkeit für Bachmanns Texte ist. Schwieriger war es, einen interessanten Mann zu finden. Bundesdeutsche Schauspieler kamen nicht in Frage für diese beiden Dichter aus „dem Hause Österreich“. Damit war die Auswahl sehr eingeschränkt, denn er musste auch einen Gegensatz zu Anja verkörpern. Laurence Rupp ist sehr wandlungsfähig. Man spürt, wie er im Laufe des Films reift, ja älter wird.
 
 
Wie haben Sie die beiden Darsteller mit den Texten konfrontiert?
 
RUTH BECKERMANN: Natürlich lasen alle beim Casting aus den Briefen, was aber nur bedingt aufschlussreich war. Wichtig waren die Stimmen der beiden und was ganz altmodisches, nämlich „ob sie Tiefe haben“. Geprobt haben wir überhaupt nicht. Unsere Abmachung war: „Wir drehen sofort und alles“. Die Zwischenspiele, die in den Alltag zurückführen, waren alle geplant – ob nun Kantine, Konzertsaal, die Rauchpausen. Allerdings waren sie so geplant, dass viel offen blieb. Ich wusste also nicht, was im Konzertsaal geprobt wurde. Dass es ein Stück von Wolfgang Rihm war, das perfekt zur Stimmung des Films passte, nenne ich Dokumentarfilm-Glück.  
 
 
Das ORF Funkhaus in der Wiener Argentinierstraße wird zur Zeit sehr viel diskutiert, da sein sehr umstrittener Verkauf ansteht. Der Film entwickelt auch eine dezente Hommage an dieses besondere Gebäude.
 
RUTH BECKERMANN: Das Gebäude ist architektonisch interessant und vor allem ein geschichtsträchtiger Ort, der nun verschleudert wird. Die Nachkriegszeit war die große Zeit des Radios. Ingeborg Bachmann hat sehr lange beim Radio gearbeitet, Celan war immer wieder bei deutschen Sendern eingeladen. Ich habe mir in der Recherche sehr viele Studios im Internet angesehen. Am Beginn zögerte ich, dieses Studio im Funkhaus zu nehmen, weil es so groß ist. Man würde ja nie so etwas Intimes wie den brieflichen Austausch zwischen zwei Personen in einem großen Studio aufnehmen. Doch gerade die Größe, die Totalen erlaubt, die physische Nähe und Distanz zwischen Schauspielern ermöglicht, war interessant. Und dann sind da die Wandbilder, die wie Fenster in die Welt hinaus wirken. Im Laufe der Zeit habe ich mich immer mehr von einem Realismus  befreit, um den es ja überhaupt nicht geht.
 
 
Die Beziehung bzw. der Briefwechsel zwischen beiden ist durch ein intensives Spiel von Nähe und Distanz (auf mehreren Ebenen) geprägt. War diese Suche nach Balance zwischen Nähe und Distanz etwas wie das Leitmotiv in der filmischen Umsetzung?
 
RUTH BECKERMANN: Johannes Hammel, dem Kameramann, gelingt es ausgezeichnet, das in den Positionen der Kamera auszudrücken. Er nimmt immer den richtigen Abstand ein. Es war von Anfang an klar, dass ich die Verwendung eines Stativs nicht erlaube. Wir haben alles, auch die Totalen, aus der Hand gefilmt, weil ich auf keinen Fall eine akademische, theatralische Kammerspielsituation schaffen wollte. Das Bild sollte leben. Es sollte vibrieren und auch ständig die Möglichkeit gegeben sein zu reagieren. Johannes sollte, wenn die beiden miteinander reden und dabei weit auseinander sitzen, sich bewegen und spontan reagieren können und nicht mit der Kamera auf einem Stativ hin- und herschwenken. Ich musste ihnen so z.B. nicht genau den Weg in die Kantine vorgeben, sondern die Kamera konnte sich nach den beiden richten.
 
 
Beschäftigt Sie schon länger der Wunsch mit Schauspielern zu arbeiten? Möglicherweise ein Bedürfnis aus dem dokumentarischen Arbeiten heraus, stärker Emotion gestalten zu können?
 
RUTH BECKERMANN: Ich finde, dass es im Dokumentarfilm auch sehr viel Emotion gibt – durch die Protagonisten, durch einen Off-Text. Man hat im Spielfilm als Autorin eine ganz andere Position. Die Geträumten ist ein Autorenfilm, ich bringe mich aber als Person nicht ein. Es gibt nicht das „Ich“ wie in einem Text oder durch die Montage, wie das in meinem letzten Film der Fall war, wo alles aus meiner Perspektive aus geschieht. Das Interessante bei diesem Projekt war, dass ich zwar diejenige bin, die die Fäden zieht, aber zwei Personen habe, die dem, was Bachmann und Celan ausdrücken, ihr eigenes Gesicht und ihre eigenen Stimmen geben. Das ist ein ganz neues Spiel mit Gefühlen. Das Setting von Die Geträumten schafft Abstand zu den Emotionen der Briefeschreiber, während es im Dokumentarfilm oft darum geht, ein Bild z.B. von einer Landschaft mit Emotion aufzuladen.

 
Ein Briefwechsel ist eine literarische Gattung, die etwas klar Dokumentarisches hat, sei es nun in biografischer oder gesellschaftshistorischer Hinsicht, auch etwas sehr Subjektives und aufgrund der zeitlichen Abstände, die der Postweg bedingt und aufgrund des vielen Ungesagten zwischen zwei Menschen, die einander gut kennen, etwas höchst Fiktives, das sich der Leser selber füllen kann. Bot sich dieses literarische Genre als Genre der Transition Dokumentarischem und Fiktionalem nicht geradezu an?
 
RUTH BECKERMANN: Ganz gewiss. Die Korrespondenz zwischen den beiden hat in sich schon eine starke fiktionale Ebene. Manchmal habe ich sogar an Minnegesang gedacht. Bachmann und Celan hatten auch ein literarisches Verhältnis miteinander. Das reale Verhältnis war ja sehr kurz. Zwei Monate im Frühling 1948 und dann knapp zehn Jahre später vielleicht noch einmal ein Monat. Aber sie führten ihr Leben lang einen literarischen Dialog miteinander. Das kommt in ihren Werken auch vor. Bachmann geht mehr auf seine Verszeilen und Textstellen ein, aber es geschah auch umgekehrt. Die Briefe würde ich nicht als rein dokumentarisch bezeichnen. Sie schweben auch. Da ist so viel drinnen. Natürlich die wirkliche Liebesgeschichte, aber so viel an Vorstellungen über die Liebe und über das Leben. Und das Thema der Shoah und der Nachkriegszeit. Die Vorstellung, dass ein junger Jude aus Cernowitz und eine junge Kärntnerin einander 1948 in Wien begegnen und einander geradezu in die Arme fallen, ist interessant und sehr romantisch. Eine unserer Grundfragen war „Was waren die Themen dieser beiden? „Was bedeutet dieser Text heute?“ Heute kann man sich z.B. eine Liebesgeschichte in Israel oder anderen von schweren Konflikten geprägten Ländern zwischen Angehörigen verfeindeter Lager vorstellen, auch wenn nicht dieselbe Tragik wie nach der Shoah gegeben ist, wo ein Kollektiv das andere vernichten wollte. Dieser Aspekt – dass zwei Menschen aus so entgegen gesetzten Kollektiven einander begegnen, war uns auch sehr wichtig. Es macht alles intensiver und verstärkt die Liebe noch einmal.
 
 
Eine Liebe, die so viele Facetten getragen hat... Wie würden Sie diese komplexe Beziehung der beiden zueinander analysieren?
 
RUTH BECKERMANN: Wenn ich an meine eigene Leseerfahrung denke, so war ich am Anfang viel stärker auf der Seite Celans, doch je mehr ich mich mit der Beziehung beschäftigte, umso mehr konnte ich Ingeborg Bachmann verstehen. Sie versucht ein Leben lang, ihm zu helfen, ihn zu halten, ihn zu tragen. Er stößt sie immer wieder zurück. In dem ersten Gedicht „In Ägypten“, das den Beginn des Briefwechsels darstellt, weist er ihr sofort ihren Platz zu als die Fremde, die geschmückt wird mit dem Schmerz von Ruth, Noemie, Mirjam, also mit dem Schmerz um die jüdischen Frauen. Andererseits verstehe ich, dass es für ihn schwierig war, ihre Versuche, sich quasi auf die Seite der Opfer zu schreiben, zu ertragen. Sie hat ihr ganzes Leben nie über ihren Vater, der bei der NSDAP war, gesprochen. Ich kann mir auch vorstellen, dass ihm das zuviel war. Er ist im Laufe der Zeit immer paranoider geworden, war aber von Anfang an schon verletzt und ungerecht, auch eifersüchtig auf ihre Erfolge und überhaupt ein Macho. Zum Schluss schreibt sie ihm: „Du willst das Opfer sein“. Aus seiner Opferrolle heraus, hat er sie zum Opfer gemacht, doch das ließ sie nicht zu. Sie wird immer stärker und selbstbestimmter. Sie war schön und erotisch unglaublich anziehend, für Beziehungen sehr offen und sozial sehr begabt. Sie hatte die Gabe, sich selbst gut zu vermarkten und sie war, wie man heute sagen würde, eine Netzwerkerin. Celan überhaupt nicht. Das ist so komplex und vielleicht sage ich das hier sehr verkürzt. In diesen Texten und ich hoffe auch im Film ist so viel drinnen an Ebenen von der Möglichkeit der Liebe, der Nähe, des Verstehens und Nicht-Verstehens. Das bleibt nicht auf ihre Zeit beschränkt. Können ein Mann und eine Frau einander überhaupt verstehen? Und wie weit? Die beiden kommen eh relativ weit, denke ich.
 
 
Vom Einander-Verfehlen und Einander-Versäumen ist ja immer wieder die Rede.
 
RUTH BECKERMANN: Ja, aber sie Ringen um diese Liebe. Wie sehr er sie geliebt hat, kann ich nicht sagen, doch Celan war ihre große Liebe. Als er in Paris Selbstmord verübte, war ihr Manuskript von „Malina“ schon fertig, doch sie fügte unter dem Titel Die Prinzessin von Kagran noch einige Seiten in den Roman ein. So hat sie in Märchenform die Geschichte mit ihm noch einmal verarbeitet, quasi als einen Nachruf. Darin heißt es „Er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben“. Wir haben diesen Text als geflüsterten Epilog an den Schluss des Films gestellt.
 
 
Der Briefwechsel erzählt von einer gelebten und gleichzeitig und viel mehr von einer ungelebten Liebe. Rührt daher auch die Wahl des Titels Die Geträumten, einem Wort, das einem Bachmann-Brief entnommen ist?
 
RUTH BECKERMANN:  Diese Liebe hat Traumcharakter.



Interview: Karin Schiefer
Jänner 2016
 
 
«Die Briefe würde ich nicht als rein dokumentarisch bezeichnen. Sie schweben auch. Da ist so viel drinnen. Natürlich die wirkliche Liebesgeschichte, aber so viel an Vorstellungen über die Liebe und über das Leben. »