INTERVIEW

«Mich beschäftigen soziale Lebenswelten und was sie aus Menschen machen.»

Zwei Gemeinschaften haben sich in Lukas Valenta Rinners Die Liebhaberin hinter Zäunen und Mauern verschanzt – die einen um ihre Ängste zu kultivieren, die anderen um ihrer Freiheit zu frönen. Abschottung als Prinzip und Eskalation als unumgängliche Folge ziehen sich als roter Zündfaden auch durch sein zweites in Argentinien gedrehten Gesellschaftsbild, in dem entlang des dünnen elektrifizierten Grenzdrahts zwischen den beiden Communities nicht nur Konzepte von Moral und Unmoral kollidieren.
 

 
Sie haben nach Parabellum auch Ihren zweiten abendfüllenden Spielfilm in Argentinien gedreht. Setzt sich in Die Liebhaberin/Los Decentes etwas fort, was Sie mit Parabellum begonnen haben?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Der Arbeitsprozess für Die Liebhaberin war in keiner Weise mit Parabellum zu vergleichen. Wir wurden als Preisträger des letzten Festivals von Jeonju im Juni 2015 vom Festival kontaktiert, ob wir eine Idee für einen neuen Film hätten. Als ich die Anfrage bejahte, weil ich eine der Locations schon länger als potenziellen Ort für einen Film im Auge hatte, hieß es, dass ich in den nächsten fünf Tagen eine Synopsis und Projektinformationen bereitstellen sollte. Wir legten in sehr kurzer Zeit ein Konzept für etwas vor, von dem wir nur sehr vage Vorstellungen hatten.
 
 
War es diese blitzsaubere, wohlgeordnete Wohnsiedlung, die sich als Setting der Geschichte anbot?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Nein, der Nudisten/Swinger-Klub, der real existiert und auch tatsächlich an diese abgeschottete Siedlung wohlsituierter Leute angrenzt. Ich hatte den Klub immer wieder im Internet in Werbungen auftauchen sehen und mich zunächst auch aufgrund seiner Architektur mit den römischen Bädern, Säulen und Wasseranlagen dafür interessiert. Ob fiktional oder dokumentarisch – ich konnte mir einfach gut vorstellen, etwas in diesen Ort zu bauen. Ich wusste, dass die Leute aus der Wohnsiedlung immer wieder per Mail Drohungen an den Nudisten-Klub schrieben. Daraus wuchs die Geschichte. Ins Zentrum setzten wir die Putzfrau, die zwischen beiden Orten hin- und herspringt. Wir schickten eine Seite mit der Skizze eines möglichen Films zusammen mit einem Kostenvoranschlag und Referenzbildern. Eine Woche später waren die Zusage und eine Deadline von sechs Monaten da. Wir nahmen uns zwei Monate fürs Drehbuch-Schreiben, parallel dazu begann bereits die Pre-Production anzulaufen. Das Drehbuch, das bis kurz vor Drehbeginn noch nicht endgültig feststand, wurde auch in einem Diskussionsprozess mit dem Team laufend aktualisiert. Der Dreh dauerte sechs Wochen. Der erste Drehtag, war auch der erste Schnitttag. Grundsätzlich arbeiteten wir in einem Rhythmus von fünf Drehtagen, zwei Tage galten dem Schnitt, an dem ich gemeinsam mit der Cutterin Ana Godoy arbeitete. Dann gab es noch einen Monat reale Postproduktion.
 
 
Man kann dennoch Die Liebhaberin nicht sehen, ohne auch an Parabellum erinnert zu werden. In beiden Filmen leben oder begeben sich Menschen in abgeschottete Gemeinformen. Ein Survival Camp in Parabellum, eine reiche Siedlung hinter Zäunen in Die Liebhaberin, die unmittelbar an eine Gemeinschaft grenzt, die in der Natur nach körperlicher und sexueller Freiheit sucht. Was fesselt Sie thematisch an diesen eingegrenzten, dem Alltag entrückten Lebensformen?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Ich lebe seit mehreren Jahren in Argentinien und es ist ein unverkennbarer Trend zu bemerken, dass sich die obere Gesellschaftsschicht immer mehr abkapselt. Diese Siedlungen sind kleine, hermetisch abgeriegelte, quasi-städtische Infrastrukturen mit Kindergärten, Büros, Supermärkten, Kinos etc., in denen man ohne Kontakt zur Außenwelt leben kann. Jugendliche kommen dann mit 16 in die Stadt und wissen nicht, wie man einen Bus benutzt. Ich sehe darin ein zeitgenössisches Phänomen, das ich den Auswirkungen des Kapitalismus zuschreibe. Dass sich die reiche Gesellschaft vor der Armut abschottet, ist nicht nur ein argentinisches Phänomen. Es hat mich sehr interessiert, diese Form des Lebensraums zu erforschen. Dass direkt daneben ein Nudisten-Klub existierte, war schlicht eine Fügung, die die Spannungen zwischen extremer Armut und unheimlichem Luxus, wie sie zur Zeit in der argentinischen Provinz existieren, auf den Punkt bringt. Dazu kommt da eine moralische Komponente, die die Kluft zwischen einem puritanischen High-End-Stil und dem dionysisch angehauchten Ambiente eines Camping-Nudisten-Sex-Klubs, wo Menschen aus der unteren Mittelschicht und Arbeiterschicht zum Wochenende grillen und Orgien feiern, noch stärker verdeutlicht. Die Kollision dieser konträren Lebensstile hielt ich für einen sehr spannenden Ausgangspunkt einer Narration.
 
 
Wie haben Sie versucht, bildlich diese einander entgegengesetzten Welten zu erzählen?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Ausgangspunkt ist sowohl für meinen Kameramann Roman Kasseroller als auch für mich immer der architektonische Raum. Wir versuchten die geordnete Natur, die abgestimmten Farben, die extreme Ordnung in der Gated Community auch in der Kadrierung widerzuspiegeln. Das bricht sich dann ganz stark mit dem Klub. Ähnlich wie in Parabellum, wo die Stadtbilder mit dem Dschungel brechen, ist der Nudisten-Klub visuell durch diese exorbitante Natur charakterisiert, mit pflanzenbedeckten Teichen, verwachsenen Tempelbauten u.ä. Die spannendste Frage, die uns dabei beschäftigt hat, war, wie unterschiedlich man Natur verstehen kann: die domestizierte Natur im Country steht einer wilden, unzensurierten Natur im Klub gegenüber.
 
 
Anders als in Parabellum entdeckt man hier sehr poetische, stilisierte Bilder, wo durch die nackten Körper auch eine Verbindung zu Malerei und Skulptur entsteht.
 
LUKAS VALENTA RINNER: Wir hatten eine ganze Reihe an Referenzen aus der Malerei, dennoch war es wirklich überraschend, wie natürlich sich diese Bilder komponiert haben. Es gibt einige große Einstellungen, die an Gemälde erinnern, die aber ganz organisch entstanden sind, ohne dass wir hier konstruierend eingegriffen hätten. Wir positionierten die Kamera, richteten die Schauspieler ein und die Bilder waren da. Ich glaube, die Verbindung von Natur mit nackten Körpern bringt einen organischen Prozess in Gang.
 
 
Der Film beginnt mit einer Serie an Jobinterviews, einer Art Prolog, die die Individualität von Menschen an der Bruchstelle zur Unterwerfung unter Kriterien, unter die Gesetze des Arbeitsmarktes vor Augen führt. Die Selbstentfremdung durch die materiellen Zwänge, ob nun im Leben der Reichen oder in dem der Haushälterin Belén scheinen eines der vordergründigen Themen zu sein?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Wir wollten auf alle Fälle eine Geschichte über diese Frauen erzählen, die eigentlich in einer Form der modernen Sklaverei leben. Sie sind Hausangestellte und wohnen in unwürdigen Bedingungen, arbeiten bei schlechter Bezahlung, oft ohne freie Tage und müssen auch noch Schikanen über sich ergehen lassen. Schlimm war für uns zu sehen, dass sich, während wir am Set die Tätigkeiten und das Leben einer Inhouse-Maid nachzustellen versuchten, in den Häusern rund um uns diese Situationen in der Wirklichkeit reproduzierten. Da entstanden oft bizarre Parallelwelten. Unsere Bilder haben sich rundherum ständig wiederholt. Der Nudisten-Klub wird für Belén auch ein Ort, wo sie zu sich selbst finden kann.
 
 
Ob die eine Protagonistin in einem blitzblanken Haus lebt, das täglich noch geputzt und geordnet wird, ob sich die Klubbesucher der (sexuellen) Selbstentfaltung widmen, in beiden Welten scheint es um einen Umgang mit einer Sinnesleere zu gehen.
 
LUKAS VALENTA RINNER: Wir wollten nicht einseitig die Gated Community als sinnentleerten Raum darstellen. Es ging uns auch darum, fragmentarisch die Lethargie und Sinnlosigkeit im Nudisten-Klub herauskommen zu lassen. Auch dort versuchen einsame Menschen eine Verbindung zu anderen zu finden. Bei ihnen funktioniert es eben über eine Form der Körperlichkeit, die sie aber wieder auf sich selbst zurückwirft. Das schafft an beiden Orten ein Moment der Traurigkeit und der Melancholie.
 
 
Die menschlichen Beziehungen scheinen in beiden Welten weniger durch eine Sprachlosigkeit als viel mehr durch eine Dialoglosigkeit bestimmt zu sein. Diese setzt sich zwischen den beiden Communities fort und führt zur Eskalation. Unterdrückte Aggression bricht schon zuvor immer wieder auf völlig inadäquate Weise hervor. 
 
LUKAS VALENTA RINNER: Es gehört zu meinem Ansatz, klassische Erzählstrategien wie es das Erzählen über Dialog eine ist, bewusst zu umgehen und mehr über Bilder zu erzählen. Das liegt mir mehr. Mein Verständnis von Beziehungen funktioniert nicht über das pure psychologische Verstehen der Welt.
 
 
Ruhe ist ein Charakteristikum dieses Films, Ruhe der Kamera, Schweigen und Stummheit zwischen den Menschen. Wie schwierig ist es, in dieser Langsamkeit den Rhythmus und eine Dramaturgie des Suspense zu finden?
 
LUKAS VALENTA RINNER: In Parabellum haben wir mit fixen Einstellungen operiert und mit einer rhythmischen Schnittfolge sowie einer dynamischeren Handkamera die zunehmende Spannung zum Ausdruck gebracht. In Los Decentes habe ich mit Roman Kasseroller ein Konzept erarbeitet, wo wir mit Kamerafahrten gearbeitet haben, wo die Bewegung der Kamera in sich schon einen gewissen Rhythmus oder Spannung erzeugt, zum Teil die Personen begleitet oder sie auf Situationen hinbewegt. Wir haben eine autonomere Kamera, die der Erzählung folgt oder sie antizipiert, damit wird eine gewisse Dramaturgie schon in der Bewegung der Kamera aufgebaut. Das ist in diesem Film bestimmt organischer als im letzten. Wir wollten von der fixen Kamera weg und herausfinden, wie weit man Spannung und Dynamik in der bewegten Kamera ausbauen kann.
Da wir im Vorfeld wenig Zeit der Vorbereitung hatten, gab es eine lange Auseinandersetzung am Set. Wir hatten pro Szene nur wenige Einstellungen, die waren ganz genau definiert. Wir hatten keine Zeit, alternative Shots auszutesten. Das war sehr radikal. Wenn wir uns für eine Kamerafahrt entschieden hatten, dann blieb es dabei und die ist dann auch im Film drinnen. Es hat sich bewährt, so rigoros zu sein. Ich denke, anders wären wir in dieser knappen Zeit verloren gewesen. Mental war es sehr anstrengend, in diesem völlig unvorbereiteten Improvisationsprozess, den kühlen Kopf zu bewahren, eine beschlossene Idee ohne Wenn und Aber durchzuziehen.
 
 
Rhythmus und Spannung erhält die Erzählung auch durch ein sehr perkussionsbetontes, an Martial Arts appellierendes Sounddesign. Wer steht dafür?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Da das Projekt in Koproduktion mit dem südkoreanischen Festival von Jeonju entstanden ist, wollten wir einen Asien-Bezug durchklingen lassen. Wir kontaktierten zwei koreanische Musiker, die Komposition in Berkley studiert haben. Sie hatten zwar schon für Kurzfilme, noch nie jedoch für einen Spielfilm gearbeitet. Diese Zusammenarbeit erfolgte sehr intensiv über Skype. Ich schickte ihnen viele Referenzen und wollte eine Soundebene, die sich in der experimentellen, neuen Musik ansiedeln lässt. Im Schnittprozess schickten sie uns immer wieder Improvisationen zu den Szenen und in einem sehr faszinierenden Ping-Pong-Prozess entstand dieser Soundtrack.
 
 
Herausragend ist die Hauptdarstellerin Iride Mockert. Mit welchen Vorstellungen haben Sie sich auf die Suche nach Ihrer Protagonistin gemacht?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Im Verhältnis zur gesamten Projektzeit war der Casting-Prozess sehr lange. Die erste Drehbuchseite war noch kaum geschrieben, da begannen wir mit dem Casting für die Hauptdarstellerin, wissend, dass wir eine ausgezeichnete Schauspielerin brauchten, die sehr viele Kriterien erfüllen musste. Die Rolle der Belén ist eine riskante Rolle und wir brauchten jemanden, mit dem wir möglichst schnell eine Vertrauensbeziehung aufbauen konnten und die dieses Risiko auch tragen konnte. Iride Mockert ist bereits im Vor-Casting, wo ich noch gar nicht dabei war, herausgestochen. Sie ist extrem wandelbar. Sie kann so unscheinbar und verschlossen wirken und plötzlich blüht sie auf wie eine Venus und ist wunderschön. Sie kommt von einem sehr körperbetonten Theater und ich brauchte unbedingt jemanden, der sehr körperlich arbeiten konnte. Es war für sie gewiss nicht leicht. Es ist allein schon eine große Herausforderung für einen Schauspieler, eine so zentrale Hauptrolle zu tragen, hier kam dazu, dass sie in sehr vielen Szenen auch noch nackt ist. Dennoch glaube ich, dass es für beide Seiten eine Bereicherung war.
 
 
Die Nacktheit verweist auf die Verbundenheit mit der Natur und auf einen Garten Eden hin, betont aber auch den menschlichen Körper in seiner Unperfektheit und Vielfalt. Ein Statement gegen Schönheitsideale und Uniformierungszwang?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Es war uns sehr wichtig, die Varietät des menschlichen Körpers zu finden und darzustellen und gegen die Behauptung der Werbung mit ihren idealen Körpern anzutreten. Man sieht viel zu wenig reale Körper in unserer globalisierten Werbungswelt, wo alles dank Photoshop und Filtern optimiert wird. Wir machten in unserem Bekanntenkreis und unserem Netzwerk von Schauspieler- und Nudistenfreunden einen Open Call und es folgte eine Lawine an Leuten, die mitmachen wollten. Wir hatten an die 20 Cast-Members, die als Darsteller im Nudisten-Klub feststanden, es wollten aber im Laufe der Dreharbeiten immer mehr Leute mitmachen. Viele waren Nacktmodelle renommierter Maler, zum Teil spielten auch Besucher des Klubs mit. Unser Fahrer, der das Team zwischen Buenos Aires und Set hin- und herbrachte, war am ersten Tag etwas befremdet über unser Tun, am dritten Tag war er schon nackt am Sonnenbaden, am vierten Tag spielte er mit.
 
 
War aufgrund der kurzen Zeit, in der das Drehbuch entstand, auch viel Raum für Dinge, die erst am Set durch die Schauspieler entstanden und die diese einbringen konnten?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Roman und ich sind an den Drehtagen wie ein unzertrennliches Duo. Es wird ständig sehr genau durchbesprochen und in den Pausen die nächsten Szenen vorbereitet. An Iride waren unsere Vorgaben immer sehr konkret. Wir wussten sehr genau, wohin sich ihre Rolle entwickeln sollte und wir haben mit ihr und Sascha, der den Security-Angestellten spielt, trotz Zeitnot zwei Wochen geprobt. In der Siedlung war alles sehr konkret, da arbeiteten wir zum Teil auch mit Schauspielern, die wir schon aus Parabellum kannten. Im Nudisten-Klub hingegen war es anders. Da wussten wir nie genau, wieviele Leute am jeweiligen Tag am Set sein würden und welche Dynamik entstehen würde. Da wurde sehr viel improvisiert, auch wenn wir die Ein- und Ausgänge der Schauspieler sehr genau positionieren. Wir haben in Parabellum auch sehr viel Erfahrung mit Laien-Darstellern gesammelt. Wir haben sie situiert und dann wieder ganz präzise mit Iride gearbeitet, weil es ja sehr stark um ihre Beziehung mit ihrem Körper und mit der Gruppe ging. Wir versuchten, uns so konsequent wie möglich auf alle Nuancen der Veränderung in Irides Körper zu konzentrieren, während rund um uns das kreative Chaos von 15 nackten Körpern am Set herrschte.
 
 
Wie haben Sie als Filmemacher dieses Arbeiten unter Zeitdruck erlebt? Hat es eher den Wunsch verstärkt, sich wieder mit mehr Ruhe einem Thema widmen zu können oder hat dieses schnelle Entscheiden und Handeln auch etwas sehr Reizvolles?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Ich habe es sehr genossen und fand es unglaublich inspirierend, weil es gleichsam ein experimentelles Arbeiten war. Die Improvisation war immer Teil des Konzepts. Ich würde gerne eine Mischform beibehalten. Eventuell längere Zeit an einem Drehbuchkonstrukt arbeiten, dann aber diese Art des dynamischen Drehs, der sehr viel offen lässt und möglich macht, aufgreifen. Ich kann mir gut vorstellen, immer mehr vom Dokumentarischen weg mit der Erzählung zu starten. Es ist außerdem sehr befriedigend, die Energie einer Idee nutzen und sie schnell realisieren zu können. Die Entwicklung und Realisierung von Parabellum hat vier, fünf Jahre in Anspruch genommen. Ich fühl mich zu jung, um für eine Idee so viel Zeit zu verbrauchen. Da ist so eine schnelle Form viel bereichernder. Es geht auch um einen Dialog mit sich selbst und die Frage „Wohin möchte ich mich künstlerisch entwickeln?“ Parabellum hat mich in gewisser Weise zu Die Liebhaberin geführt, dieser Film hat mich nun schon wieder vor ganz neue Fragestellungen geführt. Mich beschäftigen soziale Lebenswelten und was sie aus Menschen machen. Da beschäftigt mich gerade etwas in Österreich.
 
 
Der Titel des Films ist in drei Sprachen vorhanden Los Decentes/ A Decent Woman/ Die Liebhaberin. Was transportiert dieser Begriff „Decentes/Decent“?
 
LUKAS VALENTA RINNER: Die Idee zu diesem Titel rührt daher, dass die Mitglieder der Siedlung in ihren Drohmails an den Nudisten-Klub immer als „Los Decentes“ – „Die Anständigen“ signiert haben. Für uns war dies das perfekte Sinnbild für diese Gated Community. „A Decent Woman“ im englischen Titel bringt etwas vom Mysteriösen, Enigmatischen, das der Figur der Belén innewohnt, gut zum Ausdruck. Es geht ja auch um die Doppelmoral dieser beiden Räume. Wer ist nun moralisch? Die „Anständigen“ oder die Unterdrückten, die sich auf brutale Art befreien? Der deutsche Titel, „Die Liebhaberin“, weist auch darauf hin, dass sie sich dann in einem Akt der Befreiung dieser Sexualität hingibt.
 
 
Ein Wort zum enigmatischen Ende des Films: an einem gewissen Punkt bekommt die Geschichte ein phantastisches Moment, indem sich die Figuren im Klub als exotische Fabelwesen schminken und sich eine scheinbar stille Verschwörung auf drastische Weise entlädt. Man wird dieses Finale unweigerlich auch im Kontext der jüngsten Terroranschläge lesen.
 
LUKAS VALENTA RINNER: Wir haben das ohne politischen Gedanken ersonnen, auch wenn sich gewiss ein antikapitalistischer Motor des Ganzen verorten lässt. Als Referenz diente uns eher Kōji Wakamatsu, ein japanischer Filmemacher, der für seine Pink Films, in denen Sex und Revolution zusammenwirken, bekannt ist. Auch wenn es sehr radikal und extrem ist, so haben wir diesen Showdown ja eher als komisches Element gesehen. Wir wollten den Nudisten einen Moment des Sieges, der fiktionalen Genugtuung gönnen und ihre Rebellion in einer beinahe tarantinohaften Überzeichnung darstellen. Durch die Terrorereignisse der letzten Monate hat es eine schauerliche reale Komponente erhalten, die wir in keiner Weise konzipiert hatten. Das wird in vielen Diskussionen auftauchen. Da bekommt ein Film plötzlich einen politischen Bezug, der im Kern nie vorhanden war. Man nimmt in einem kreativen Prozess sehr viele Dinge, die einen umgeben, auch unbewusst auf. Wir leben in Gesellschaften, wo der Zusammenschluss von Ideologien immer radikaler wird. Es ist unumgänglich, den Kapitalismus als Ideologie und politische Kraft zu sehen und sich ihm gegenüber zu positionieren. Wir müssen unseren Umgang mit dem, was wir in dieser Welt produzieren, hinterfragen. Das wird ja gerne ausgeklammert. Man sieht die Endresultate – die Explosionen, die Flüchtlingswellen. Dass dahinter weltweite Vernetzungen, ideologische Konstrukte und Synergien funktionieren, von denen auch wir ein Teil sind, das gestehen wir uns weniger gerne ein. Wir leben in einer Zeit, in der wir dazu tendieren, uns abzuschotten. In der Gated Community von Die Liebhaberin besteht Konsens darüber, dass Abschottung durch hohe, unüberwindliche Grenzen die Lösung ist. Je hermetischer umso besser, um den Status Quo zu wahren. Dass dies radikale Widerstände generiert, ist organisch und logisch. Genau das passiert in Argentinien, wo mitten in der Provinz diese Insel des Wohlstands existiert, umgeben von einem hohen Maß an Armut. Nichts anderes ist in Europa, wo wir auf unserer Insel leben, umgeben von Ländern, in denen ein hohes Ungleichgewicht herrscht. Diese Spannungsfelder werden sich auch entladen, solange sie existieren.
 
 
Interview: Karin Schiefer
August 2016
«Schlimm war für uns zu sehen, dass sich, während wir am Set die Tätigkeiten und das Leben einer Inhouse-Maid nachzustellen versuchten, in den Häusern rund um uns diese Situationen in der Wirklichkeit reproduzierten.»