INTERVIEW

«Jede liebe Mutter kann unter bestimmten Umständen auch zum Monster werden.»


 Veronika Franz und Severin Fiala im Gespräch über ihr Spielfilmdebüt ICH SEH ICH SEH:
 
 

Als Prolog von ICH SEH ICH SEH wiegt uns die Familie Trapp in eine heile Kindheitswelt. Warum steht dieses Stück stilisierter Vergangenheit am Beginn einer Erzählung, die in einem sehr modernen Heute spielt?
 
SEVERIN FIALA: Es geht um das Bild einer stilisierten, idyllischen sehr österreichischen Familie, die  gleichzeitig etwas sehr Unheimliches hat. Das Bild einer idealen Mutter oder besser: um eine Erinnerung an sie, an scheinbar idyllische Momente, wenn man ins Bett gekuschelt  „Guten Abend, Gute Nacht“ vorgesungen bekommt....
 
VERONIKA FRANZ:... und einen mitten in der Idylle der Satz „Wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“  beunruhigt. Ich glaube, wir hielten es für einen idealen Auftakt, weil es auf ein Familienbild verweist, das so heil aussieht, dass etwas unheil sein muss.
 
 
Das Erzählen eines Horrorfilms ist im Vorfeld gewiss mit dem Sehen einer Vielzahl an Arbeiten des Genres verbunden. Wie haben sich aus dem Betrachten von Genrefilmen eure Prämissen für den eigenen Film herauskristallisiert?
 
VERONIKA FRANZ: Wir haben viele Filme gesehen und hätten noch mehr schauen sollen! Wir sind beispielsweise im Nachhinein draufgekommen, dass es einen koreanischen Film zu gibt, der unserem zumindest von der Story her nicht unähnlich ist.
 
SEVERIN FIALA: Das macht aber gar nichts. Die Sorge, etwas zu machen, was schon jemand gemacht hat, braucht man im Horrorfilm nicht so haben. Es ist ja genreinhärent, dass gewisse Elemente und Erzählungen immer wieder aufgegriffen, neu interpretiert und neu erfunden werden.
 
VERONIKA FRANZ: Wir schauen ja seit 16 Jahren gemeinsam Filme – auch Horrorfilme. (Zu Severin Fiala) Damals warst du, wie alt? 14? 
 
SEVERIN FIALA: Nein, 13.
Veronika Franz (lacht)....Und ja, wir lieben Dario Argento und John Carpenter, Brian Yuzna und Don Siegel. Aber das wird man in diesem Film nicht sehen. 
 
 
Auf den Schreibprozess umgelegt: In welchem Verhältnis stehen die Entwicklung von Plot und Figuren und die Befindlichkeit/Gefühle, die man beim Zuschauer auslösen will, zueinander? Oder anders gesagt: die „physische“ und die rationale Komponente der Erzählung?
 
SEVERIN FIALA: Es macht einen großen Unterschied, ob man alleine oder zu zweit schreibt. Wenn man etwas einem Gegenüber erzählen kann, ist die Rückmeldung unmittelbar. Findet der andere etwas pointiert oder spannend? Wir sitzen wirklich gemeinsam am Schreibtisch und erzählen uns zunächst die Ideen. Wenn wir eine für gut befinden, dann beginnen wir, daran zu arbeiten. Beim nächsten Treffen lesen wir sie einander wieder vor, schauen, ob sie immer noch funktioniert, verbesserungswürdig ist oder streichen sie wieder.
Veronika Franz: Insoferne sind wir füreinander immer auch das erste Publikum.
 
 
Bedeutet das Arbeiten mit Effekten des Genrefilms besonders viel Arbeit im Nachjustieren, im sukzessiven Anziehen der Schraube?
 
VERONIKA FRANZ: Eine Geschichte zu schreiben, die spannend ist, halten wir für nicht so schwierig. Man gibt sie anderen Leuten zum Lesen, die sehr leicht Feedback geben können, ob es funktioniert. Das wirklich Schwierige, das uns bis zum Schneidetisch und darüber hinaus beschäftigt hat, ist die Aufgabe, eine Form des Rätsels zu bauen, das jeder anders sehen wird und das dennoch für so viele Menschen wie möglich funktioniert soll. Dabei hat sich nämlich herausgestellt, dass es keine Wahrheit für jeden gibt. Die große Herausforderung ist also, so zu erzählen, dass jeder im Kopf miträtseln kann, ohne sich am Ende betrogen zu fühlen.
 
 
Der Titel ICH SEH ICH SEH spielt auf ein Kinderspiel an, ist aber auch ein „Zwillingstitel“, der bereits ein Hinweis auf das Zwillingsbrüderpaar der Geschichte ist. Der Topos gleich aussehender Zwillinge und eine Mutter, die verändert aussieht, bringt Fragen nach Identitäten in die Geschichte ein. Ist damit das Kernthema von ICH SEH ICH SEH getroffen?
 
VERONIKA FRANZ: ICH SEH ICH SEH ist für mich ein Titel, der auf grundlegend unterschiedliche Wahrnehmungen hinweist. Das trifft besonders auf Kinder zu. Kinder sehen die Welt anders als Erwachsene und es beschäftigt sie unheimlich, wenn an einem Menschen, den sie sehr lange kennen, etwas deutlich verändert ist. Und ja, was bedeutet Identität? Ich bin davon überzeugt, dass ein Mensch nicht nur eine Identität hat, sondern mehrere haben kann. Dass er je nach Situation sehr verschieden agieren kann: Jede liebe Mutter kann unter bestimmten Umständen auch zum Monster werden.
 
 
Die Bilder, besonders jene, die in der Natur entstanden sind, haben eine besondere physische und gleichzeitig destabilisierende Kraft – der See, das Maisfeld, was gewiss auch viel mit der Kameraarbeit von Martin Gschlacht zu tun hat. Mit welchen visuellen Vorstellungen seid ihr in die Vorbereitungsarbeit mit ihm gegangen?
 
SEVERIN FIALA: Es war uns wichtig, die Welt und die Mutter aus der Sicht der Kinder zu zeigen. Wir haben uns daher im Vorfeld gefragt, wie Kinder die Welt wahrnehmen und wie das visuell unseren Film beeinflussen könnte. Wenn wir das aber genauso gefilmt hätten, wie wir uns das aus künstlerischer Überlegungen ausgedacht haben, wären wir immer wieder an Grenzen der Verständlichkeit gestoßen.
 
VERONIKA FRANZ: Manchmal muss man im Genrefilm eben auch Dinge filmen, die langweilig sind und kaum ästhetische Ansprüche erfüllen. Ich denke etwa an die versteckte Katze in der Sequenz, wo die Mutter das Kinderzimmer durchsucht. Aus Spannungsgründen muss man die Katze immer wieder in Nahaufnahme zeigen, um den Zuschauer an sie zu erinnern.  
 
SEVERIN FIALA: Aber als unerfahrener Regisseur merkt das beim Dreh oft nicht. Es war daher sehr hilfreich, dass wir parallel zu den Dreharbeiten auch schon mit dem Schnitt begonnen haben. So konnten wir überprüfen, was funktioniert und was nicht. 
 
VERONIKA FRANZ: ... ja wie bei der Katze. Die hat nicht funktioniert  und wir mussten nachdrehen.
 
 
Das klingt alles in allem nach einer sehr intensiven Drehzeit.
 
VERONIKA FRANZ: Das kann ich nur bekräftigen. Ich bin eine zweifache Mutter mit drei weiteren Jobs und kann bestätigen, dass ich noch nie in meinem Leben eine anstrengendere Zeit erlebt habe als diese sieben Wochen Dreh. 
 
SEVERIN FIALA: Ja, Drehzeit ist gnadenlos. Scheinbar einfache Dinge werden unglaublich kompliziert wie etwa einen Vorhang auszusuchen. Wie dicht oder transparent muss der  Vorhangstoff sein, hinter dem sich die Kinder so verstecken können, dass sie sich verborgen fühlen und die Mutter sie dennoch ahnen kann? Der Drehbuchsatz „Die Kinder verstecken sich hinter dem Vorhang“ bedeutete stundenlange Diskussionen: Der Kameramann redet mit, weil er die Sichtbarkeit der Kinder beurteilen muss, der Ausstatter redet mit, ob es optisch passt und wir müssen festlegen, ob sie psychologisch betrachtet, das Gefühl haben, nicht sichtbar zu sein.
 
 
Ihr habt Euch entscheiden, auf 35 mm zu drehen. Warum?
 
VERONIKA FRANZ: Ich finde, da mag jetzt merkwürdig klingen, dass ein Gesicht, das mit 35 mm gedreht ist, ein größeres Geheimnis in sich trägt als ein digitales Gesicht. Es war also in erster Linie eine ästhetische Entscheidung, in zweiter Linie brachte es die Auflage mit sich, dass man nicht endlos drehen kann. Das Filmmaterial führt eindeutig zu einer Intensivierung und Konzentration.
 
SEVERIN FIALA: Ich erinnere mich noch an die Anfänge an der Filmakademie und an meine Angst und Nervosität, den Auslöser zu drücken. Es gehört viel mehr Konzentration in der Arbeit dazu, als auf den Knopf einer digitalen Kamera zu drücken und dann gleich zu sehen, was dabei rauskommt.
 
VERONIKA FRANZ: Unsere Liebe zum physischen Kino betrifft eben nicht nur ästhetische oder inhaltliche Aspekte, auch das belichtete Material trägt zur Physis bei.  Zwar haben uns viele im Vorfeld abgeraten, doch die angekündigten Probleme haben glücklicherweise nicht stattgefunden. Als Erstlings-Regisseure, die mit Kindern drehen sollten, war es für uns schwierig, ein Drehverhältnis einzuschätzen. Ulrich Seidl, der den Film produziert hat, bestärkte uns sehr darin, auf 35 mm zu drehen und er übernahm auch die Verantwortung für das Risiko, falls wir unser Drehverhältnis nicht einhalten konnten. Und wir haben es eingehalten.
 
SEVERIN FIALA: Fast.
 
 
Es gibt eine Szene im Film, in der es hagelt. Ein Geschenk des Himmels?
 
SEVERIN FIALA: Ja, es war uns sehr wichtig, dass wir trotz all der Maschinerie eines Drehplans diese Geschenke annehmen konnten. Dass, wenn z.B. Hagel fällt, alle das Equipment schnappen und rauslaufen. So etwas muss echt schnell gehen. Der Hagel dauerte vielleicht zehn Minuten. In einem starren Produktionsplan ist das undenkbar, mit unserem Team aber war das machbar. Und ohne diese unerwarteten Geschenke wäre der Film ärmer.
 
 
ICH SEH ICH SEH ist auch ein Film übers Kind-Sein, über Urängste des Im-Stich-gelassen-Werdens, des Verlustes der Mutter. Letztendlich aber auch eine Geschichte über die Beziehung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt.
 
SEVERIN FIALA: Gerade der Beginn erzählt sehr viel über Kindheit und das Kind-Sein am Land, aber nicht nur...
 
VERONIKA FRANZ: Ja... Der Film erzählt auch etwas vom Mutter-Sein, von einer Frau, die nicht aus ihrer Haut kann oder will. Eine Frau, die ein neues Leben anfangen will und dafür Zeit für sich braucht und auch in Ruhe gelassen werden will. Dabei übersieht sie, was sich tut. Sie verspürt ein Gefühl des Überwältigt-Seins, das ich als Mutter gut kenne. Ich glaube, dass es auch ein Film über Macht ist. Erziehung hat sehr oft etwas mit Machtverhältnissen zu tun. Man hat als Mutter natürlich Macht, ist aber sehr oft vollkommen ohnmächtig und wie gefesselt. Es sind die Kinder, die dich besitzen und die über dich bestimmen können. Emotional jedenfalls.
 
 
Was haben die beiden Jungen, Lukas und Elias Schwarz, in die Arbeit eingebracht?
 
VERONIKA FRANZ: Wir hatten im Vorfeld 240 Zwillingsbuben gecastet, meist war unter ihnen einer der Zwillinge talentierter als der andere. Lukas und Elias hingegen waren gleich gut und sie hatten auch noch Dinge, die jeder ganz besonders gut konnte. Sie sind nicht nur intelligente Kinder, sie haben auch ein Geheimnis und ein Durchhaltevermögen, das ich auch bei Erwachsenen nur selten erlebt habe.
 
SEVERIN FIALA:  Wir haben uns beim Schreiben schon gewünscht, dass die Kinder Körperlichkeit einbringen. Und sie haben unserem Film genau dieses einander Anrempeln, miteinander Raufen, alle diese körperlichen Spiele geschenkt.
 
 
Euer Film erzählt ja eine recht unheimliche Geschichte. Mit welchem Vorwissen sind die Buben in den Dreh gegangen?
 
SEVERIN FIALA: Sie wussten nur die Ausgangssituation und haben kein Drehbuch bekommen,  obwohl wir unsere Geschichte, auch die Dialoge, genau umsetzen wollten. Wir wollten das aber mit spielerischen Mitteln erarbeiten. Deshalb haben wir auch chronologisch gedreht, um den Darstellern zu ermöglichen, mehr und mehr in den Film hineinzuwachsen. Sie wussten von Tag zu Tag nicht, was passieren und wie die Geschichte weitergehen würde. Das hat natürlich ihr Interesse gesteigert.
 
 
Susanne Wuest war eine Wunschkandidatin. Warum?
 
SEVERIN FIALA: Wir kennen und mögen sie schon länger. Sie hat ein sehr schönes Gesicht, das in etwas Unheimliches kippen kann. Eine beunruhigende Schönheit.
 
VERONIKA FRANZ: Auch sie bekam im Vorfeld kein Drehbuch. Wir haben ihr die Geschichte nur einmal erzählt. Ich glaube, dass ihr dann beim Dreh manche physischen Momente nicht ganz leicht gefallen sind. Gleichzeitig hat sie’s am Ende gerade deshalb umso überzeugender gespielt. Ich denke, es gab echte „Das mag ich jetzt nicht“-Situationen. Was der Figur unangenehm ist, war auch Susanne unangenehm, sodass sich ein gewisses Unbehagen ins Spiel übertragen hat. Das war gut für den Film.
 
 
Kino, so wie ihr es erzählt, scheint ein subtiles Austarieren zwischen Realitätsbezug und Entrücktheit in Sphären der Phantasie zu sein und auch ein Ausreizen der eigenen Möglichkeiten. Gilt das auch für kommende Projekte?
 
VERONIKA FRANZ: Unser nächstes Projekt soll sich genau in diesem Sinne entwickeln. Es ist ein Stoff mit dem Titel Durch die Hand des Henkers über ein historisches Phänomen von jungen Frauen, die eigentlich Selbstmord begehen wollten und deshalb einen Mord begingen. Das soll aber kein Kostümschinken werden, sondern eher wie ein Dokumentarfilm aussehen. Es wird also wie ICH SEH ICH SEH wieder ein Hybrid werden zwischen Realität und einer Unheimlichkeit und wird eine große Herausforderung....
 
SEVERIN FIALA: ...der wir uns stellen, damit dir nicht fad wird. (Beide lachen)
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juli 2014