INTERVIEW

«Der Mensch, der mit seinem Körper und der Krankheit im Streit liegt, ist ein Motiv, das mich sehr interessiert.»

Peter Brunner über Jeder der fällt hat Flügel, einer der Wettbewerbsbeiträge des 50. Filmfestivals von Karlovy Vary.


Der Film steigt ein mit (Traum-) Bildern zu einem von Robert Schumann vertonten Gedicht von Heinrich Heine. Wie sehr hat die Lyrik das Buch zu Jeder der fällt  hat Flügel geprägt?
 
PETER BRUNNER:  Das „Buch“ selbst war mehr eine Collage aus Entwürfen konkreter Situationen, Standfotos von den Drehorten und Aufsichtsskizzen des Hauptmotivs. Es war ein Versuch, mich schon mit der Grundlage freizusprechen. Frei von den Zwängen und den Wartezeiten des Fördersystems auf der einen Seite und frei von dem Prozess des klassischen Drehbuchschreibens auf der anderen. Nicht, dass ich das Drehbuchschreiben verteufeln will - ich habe dreieinhalb Jahre an dem Spielfilmdrehbuch zu To the Night gearbeitet, den ich mit der Freibeuter Film und amerikanischen Ko-Produzenten 2016 in Wien drehen will. Ich hoffe, dass wir die Förderungen bekommen. Aber für Jeder der fällt hat Flügel war ein anderer Prozess notwendig. Mehr wie die erste, intuitive Aufnahme eines Songs. Diese Basis habe ich in einer kurzen Zeitspanne erarbeitet und um sie herum Spinnennetze gebaut. Das Lied von Robert Schumann mit dem Gedicht von Heinrich Heine gehört dazu und wurde schon vor dem Dreh aufgenommen, allerdings haben wir das Klavier weggelassen, um die Stimme einsamer und verletzlicher zu zeigen. Das Lied war von Anfang an ein Stimmungsbarometer. Der Filmtitel ist einer Zeile aus Ingeborg Bachmanns Gedicht Das Spiel ist aus entliehen. Das Gedicht war eine grundsätzliche Inspiration für diesen Film. 
 
 
Nach Mein blindes Herz unternehmen Sie auch in diesem Film den Versuch, die Gedankenwelten einer Person in ihren verschiedenen Schichten in Bilder zu fassen. Kann man darin den Kern ihrer Suche als Filmemacher festmachen?
 
PETER BRUNNER:  Innere und äußere Realität sind ein wesentliches Motiv für mich. Ich interessiere mich schon lange für die phantasmatischen Zustände von anderen wie auch mir selbst und versuche dafür Übersetzungen, Geschichten und Figuren zu finden. Auch mein nächster Film wird von einem Menschen handeln, der, wie ich, auf der Suche ist um mit seinen künstlerischen Mitteln eine Sprache für die Zustände zu finden, die jenseits der Worte liegen.   
 
 
Lässt sich davon auch eine grundsätzliche Suche nach den Grenzen der Filmsprache sehen?
 
PETER BRUNNER:  Je mehr etwas im Unbegrenzten, Ungenauen bleibt, desto schöner ist es für mich. Ungenau heißt nicht, dass alles beliebig ist, sondern, dass manche Ideen als Skizze mehr transportieren und dass das Wesen der behandelten Sache durch die Nichteingrenzung und Nichtbenennung anders fließen kann. Das Abstrakte interessiert mich als Ausgangspunkt. Es ist natürlich ein Risiko, einen Film mit derartig langsamem Puls zu machen –  mit wenig Handlung und Off-Texten. Es geht mir nicht darum, alles von Grund auf neu zu erfinden, aber Blaupausenfilme zu machen – ob kommerziell oder „künstlerisch anspruchsvoll“ – fände ich auch fad. Dieser Film ist ein kleiner Film und nicht für ein großes Publikum entstanden. Deswegen konnten wir so viel ausprobieren.  Die Freiheit von Jonas Mekas’ As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty  hat mit 17 mein Leben verändert. Die Grenzen verschieben sich dauernd. Die Suche nach den Grenzen in der Filmsprache hat für mich etwas mit der Suche nach den Grenzen im Allgemeinen zu tun, was ich seit dem Sandkasten zum Leidwesen meiner Spielgenossen gerne gemacht habe. 
 
 
Trauer, Verlust, Abschied und der damit verbundene Schmerz sind die zentralen Motive in Ihrer neuen Arbeit.  Der Film ist Ihrer Großmutter gewidmet. War Ihr persönlicher Verlust der Großmutter Anstoß zu diesem Film?
 
PETER BRUNNER:  Meine Oma ist die letzten Jahre ihres Lebens im Rahmen einer Heimpflege betreut worden. Es gibt ein Lied, das ich für meine Oma geschrieben habe.  Es ist auf der neuen Cardiochaos LP, die im Herbst 2015 erscheint und heißt Dementia. Die Demenz hat sie – völlig unromantisch und nicht idealisiert beschrieben – zu einem Schatten ihrer selbst werden lassen. Andererseits ließ sie ihre Augen über ihr Gegenüber schweifen, als würde sie sich nach einem fernen und dennoch vertrauten Geruch sehnen, für den sie keine Worte hat. Es bleibt unklar, wie viel man von seinen eigenen Gedanken in das Verhalten eines so kranken Menschen interpretiert und was oder wer wirklich anwesend ist. Diese Verunsicherung war ein Ausgangspunkt für den Film. Der Mensch, der mit seinem Körper und der Krankheit im Streit liegt, ist ein Motiv, das mich sehr interessiert. Ich bin sehr froh, dass sich die Darstellerinnen im Film so offen auf die schwere Thematik eingelassen haben und auch, dass sie den Kontrast zum Schweren im Leichten und Freien gefunden haben.
 
 
„Seitdem du nicht mehr da bist, hebt sich die Zeit auf. Alles fließt gleichzeitig in mich hinein und steht in mir still.“ – lautet einer der ersten Sätze aus dem Off/den inneren Gedanken der Protagonistin. Nahe und ferne Erinnerungen, Phantasien und Träume fügen sich zusammen zu einem Ganzen, die Zeit scheint in der Tat aufgehoben. Wie sind Sie an das Thema Zeit herangegangen?
 
PETER BRUNNER: So wie ich die Zeit wahrnehme. Sie rennt wie eine Irre hinter mir her oder läuft mir davon. Ein Kampf. „Ruinen zeigen Rückstände und Spuren eines Kampfes“, sagt Anselm Kiefer bspw. Ich bin bei Filmmotiven immer auf der Suche nach Ruinen. Orte, an denen die Zeit eingefangen ist und Fingerabdrücke des Vergangenen sichtbar zu machen sind. Ich habe mich als Kind oft an solche Orte zurückgezogen. Die Zone des Rückzugs im Film, in der Kati sich oft aufhält, ist in Wirklichkeit ein Ort an dem zwei Ex-Militaristen Geschäftsmänner und Arbeitsgruppen zum Zweck der optimierten Teamfähigkeit einem Militärdrill unterziehen. Der Ort und die Geräte wurden aber schon Jahre nicht mehr benutzt und die Natur hat sich an dem Ort ausgebreitet. Dennoch befindet sich an diesem Ort eine Spannung und Atmosphäre von Gewalt. Diese Zwischenwelten, in denen unterschiedliche Zeitebenen sichtbar werden, ziehen mich an. Wenn man will, kann einem der Film wie ein Zeit-Rätsel begegnen. Das muss aber nicht sein. Ich habe in Filmen immer versucht unterschiedliche Ebenen der Wirklichkeit miteinander zu verstricken. Für mich fühlt sich diese Gleichzeitigkeit „normal“ an, weil ich die Welt so wahrnehme.     
 
 
Kati stellt die Frage – „Kann man Gefühle erben“? Eine Frage, die die Großmutter kategorisch verneint. Die Fragen, die der Film aufwirft und denen er nachgeht, sind Fragen, die stark in einem kindlichen Erleben verankert sind. Getragen werden sie von einer 15-jährigen Protagonistin und ihrer vierjährigen Schwester. Welche Rolle haben der kindliche Blick, das kindliche Erleben für diesen Film gespielt?
 
PETER BRUNNER:  Das Angreifen und Untersuchen. Das Ausloten der Grenzen. Unaufregende, dramaturgisch unbefriedigende Momente, in denen doch so viel passiert – dafür hat man Zeit, wenn man ein Kind ist und noch nicht alles, das man macht, einen tieferen Sinn haben muss/soll. Ich weiß noch, wie ich als Kind zum ersten Mal meinen Schatten entdeckt habe. Es gibt Eltern, denen das nicht einmal auffällt, und es gibt Eltern, die das mit ihrem Kind feiern. Der Blick des Kindes ist der Blick, mit dem ich das Haus meiner Oma, in dem der Film spielt, in Erinnerung habe. Automatisch hat dieser Blick den Film gelenkt. Automatisch habe ich mich von Janas Blick und Pias Blick lenken lassen. Wäre es nicht der Blick des Kindes, sondern der eines Unfallchirurgen, wäre der Film wahrscheinlich knapper, der Abschied nicht so idealisiert und nachklingend. Die Phase, in der man erfährt, dass man Sterben wird, war sicherlich für niemanden angenehm. Trotzdem finde ich, dass man als Mensch der Filme macht, auf den kindlichen Blick angewiesen ist und aufpassen muss, dass er einem nicht abhanden kommt.
 
 
Jana McKinnon ist eine ganz junge Darstellerin, mit der Sie bereits in Mein blindes Herz zusammengearbeitet haben. Gab diese Arbeit den Ausschlag, dass Sie sie in ihrem folgenden Film als Protagonistin haben wollten?
 
PETER BRUNNER:  Absolut. Ich wollte nach Mein blindes Herz eigentlich To the Night drehen, in dem ich für Jana eine tragende Rolle geschrieben haben. Leider dauert die Finanzierung noch und deswegen war es extrem wichtig, dass wir weiterarbeiten. Unsere Arbeit an Jeder der fällt hat Flügel war anders als zuvor. Wir haben die Figur ausgearbeitet und an ihrem Universum gefeilt anstatt Szenen totzuproben. Jana ist ein echter Spiritual-Warrior! Eine kreative Kollaborateurin. Sie macht ja selbst auch Filme. Ich bin gespannt, was sie noch alles machen wird! Und freue mich auf To the Night.
 
 
Über Renate Hild konnte ich in meinen Recherchen nichts als professionelle Schauspielerin finden, wie trafen Sie auf sie als Darstellerin der Großmutter?
 
PETER BRUNNER:
Das liegt daran, dass sie meine Mutter ist und bisher noch nie vor der Filmkamera gestanden hat. Es ist irre, was für ein Risiko sie eingegangen ist. Aber unser Team hat sie immer aufgefangen und gestärkt. Wir haben mit einem sehr geringen Budget und einer sehr begrenzten Drehzeit gearbeitet. Ohne dieses Team wäre ein derartiger Film nie möglich gewesen. Ich habe diesen Film nur gestalten können, weil ich wusste, dass zwischen Jana und Renate die Verbundenheit sichtbar wird, nach der ich gesucht habe. 
 
 
Haben Ihre Darstellerinnen in der Suche nach Bildern/Gesten/Situationen etwas in der Vorbereitung für den Dreh eingebracht?
 
PETER BRUNNER: Jana hat sehr viel eingebracht im Sinne von Dingen, die ich nicht weiß, die mich nichts angehen und dennoch sind sie in ihrem Spiel im Film zu sehen. Es gibt viele neue Szenen, die am Set durch die Vertiefung der Beziehung zwischen Kati und ihrer Großmutter entstanden sind. Bspw. die Variationen des Schumann-Lieds. Sowohl Renate wie auch Jana haben emotional viel riskiert und sind mir gefolgt, ohne fixen Text und ohne Sicherheitsnetz. Trotz der Improvisationsarbeit gab es immer klare Ziele. Es war natürlich nicht immer alles möglich, aber zumindest gab es die Chance, es zu probieren. Natürlich könnte man sagen, dass es für einen Mann nicht so typisch ist, einen Film über drei Frauen zu machen, umso wichtiger war es, dass ich mich immer wieder auch von ihnen führen lassen konnte. Renate hatte sehr starke Standpunkte zu ihrer Figur und wir haben in der Vorarbeit sehr lange und intensiv an den Stationen jeder Szene gearbeitet.
 
 
Dem Schmerz des Verlustes stehen die schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit der Großmutter gegenüber, die die Bedeutung der Weitergabe unterstreicht. Wie wichtig war Ihnen dieser Aspekt der Weitergabe, der hier durch die Großmutter geschieht, während die Mutter ganz abwesend, der Vater in zwei Telefongesprächen präsent ist.
 
PETER BRUNNER: Die Weitergabe von Erfahrungen ist ja leider nicht möglich, sonst würden wir nicht alle dieselben, dummen Fehler machen müssen. Aber dennoch gibt es nichts Wichtigeres als den Versuch zu unternehmen, die eigene Erfahrung weiterzugeben. Für wen macht man die Filme? Für wen schreibt man die Lieder? Ich glaube nicht, dass ich ein Optimist bin, aber ich bin optimistisch, dass jemand den Film sehen und mit unserem Blickwinkel einverstanden sein wird. Die Backstory von Kati haben wir absichtlich offen gelassen. Es gibt Fährten zu ihren Eltern, aber keine Auflösung. Das Auslassen einer Generation, dieses Zusammensein,  die Brücke zwischen den Generationen, das schafft eine ganz eigene Beziehung. Das hat auch mit der eigenen Freiheit und den Grenzen zu tun, die man vor den Großeltern anders auslebt als vor den Eltern. Zumindest war es bei mir so. 
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juni 2015
«Je mehr etwas im Unbegrenzten, Ungenauen bleibt, desto schöner ist es für mich.»