INTERVIEW

«Es lag mir fern, den Fall zu benutzen, um ein reines Betroffenheitskino zu erzeugen. »

Inspiriert ist Stephan Richters Spielfilmdebüt vom Fall eines 2009 bei einem Polizeieinsatz getöteten Jugendlichen. In EINER VON UNS ging es ihm darum, eine neue Sicht auf die Geschehnisse zu entwickeln und eine Reflexion über den Umgang damit in Gang zu bringen. Uraufgeführt wird der Film in der New Directors Competition in San Sebastián.

Einer von uns ist von wahren Begebenheiten inspiriert.  Wie sehen kurz zusammengefasst die Fakten aus, die dem Film zugrunde liegen?
 
STEPHAN RICHTER: In erster Linie wollte ich keine Rekonstruktion der Ereignisse bis ins letzte Detail, sondern viel mehr einen Zeitgeist einfangen, der inhaltlich sehr stark mit dem Fall zu tun hat. Im Sommer 2009 wurde der 14-jährige Florian P. beim Einbruch in einen Supermarkt von einem Polizisten in den Rücken geschossen. Der Junge verstarb wenig später an den Folgen der Verletzung. Der Fall und der öffentliche Umgang damit haben mich damals sehr berührt.  Ich bin zu Beginn meiner Recherchen von Fakten ausgegangen, die ich aus dem Prozess kannte. Dabei handelt es sich vor allem um Dinge, die in der Tatnacht geschehen sind und da bin ich auch, so weit es möglich war, den Fakten treu geblieben. Anhand dieser ersten Informationen habe ich begonnen Figuren zu entwickeln.
 
 
Wie konnten Sie sich in den Fall und seine Begleitumstände einarbeiten?
 
STEPHAN RICHTER: Man muss sich vor Augen halten, dass das ein Fall ist, wo sich niemand darüber freut, dass hier jemand herumzubohren beginnt. Außerdem begann ich erst 2011, also zwei Jahre nach dem Ereignis, am Filmprojekt zu arbeiten. Es war zunächst gar nicht mehr so einfach, an betroffene Personen heranzukommen. Also habe ich begonnen, im Umfeld des Prozesses zu recherchieren. Das begann bei Prozessbeobachtern von Amnesty International, die aufgrund des Menschenrechtsbruches, der dem Fall zugrunde liegt, anwesend waren oder bei Anwälten, um einen analytischen Blick zu bekommen. Dann begann mich Lerchenfeld und der örtliche Supermarkt zu interessieren. Dort habe ich viel Zeit verbracht und sah die Jugendlichen, die dort nicht weit vom Supermarkt unter einer Autobahnbrücke rumhingen und bekam einen Einblick in den Vorstadtkosmos dieses Ortes. Später bin ich auf betroffene Personen gestoßen und bekam Einsicht in Prozessunterlagen. Die waren anfangs eher enttäuschend. Ich hatte erwartet, nach der Lektüre alles zu wissen und hatte de facto mehr Fragen als zuvor. Man arbeitet als Autor ja wie ein Detektiv. Aussagen haben einander zum Teil auch widersprochen. Ich musste einerseits die Fakten herausfiltern und andererseits auch deren Interpretation wagen. Ich habe das herausgearbeitet, was mir am plausibelsten erschien. Eine Schwierigkeit beim Dreh ist dabei, dass man ja nicht an dem Ort dreht, wo es passiert ist. Es macht einen Riesenunterschied, mit einer anderen Architektur konfrontiert zu sein. Daher bin ich auch vorsichtig. Mein Film kann nur eine Interpretation sein, da im Fall viel zu viel im Dunklen geblieben ist. Dennoch glaube ich, dass uns ein authentisches Gesamtbild gelungen ist und es geht ja nicht um eine juristische Rekonstruktion, sondern darum, zu zeigen, wie so eine Situation eskalieren kann.
 
 
Die einzigen Bezüge zur Erwachsenenwelt sind in Einer von uns die Polizei und der Filialleiter. Eltern und familiärer Background bleibt ausgespart. Warum?
 
STEPHAN RICHTER: Es leitet einen meist ein Bauchgefühl, wenn man beschließt, sich einem Thema für mehrere Jahre zu verschreiben. Natürlich war ich auf der Suche nach einem Blickwinkel, den man noch nicht kennt und es lag mir fern, den Fall zu benutzen, um ein reines Betroffenheitskino zu erzeugen. Ich wollte eine neue Perspektive auf den Fall entwickeln, der eine Neuinterpretation zulässt und die Möglichkeit bietet, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. So kam mir die Idee, den Supermarkt als Epizentrum, stummen Zeugen und Blickwinkel auf die Welt der Jugendlichen und den Kleinstadtkosmos zu entwickeln. Dem bin ich konsequent gefolgt und so wurden die Jugendlichen zu so wichtigen Charakteren, isoliert von Eltern und Familie. Sie sind ja die einzigen Figuren neben den Menschen die im Supermarkt arbeiten, die dort länger als für einen schnellen Einkauf verweilen. Ein guter Nebeneffekt war es, dass es keine banale Erklärung für die Tat gibt, nach dem Motto, die Familie war nicht intakt oder der Polizist hat Stress mit der Freundin. Der Supermarkt funktioniert ähnlich wie der Esel bei Bressons Au Hazard Balthazar, der eine stoische Konstante im Film ist. Der Tod eines 14-jährigen Jungen in der bunten Warenwelt eines Supermarkts ist etwas extrem Trauriges und in sich so sinnlos, dass ich dem gefolgt bin. Dieser kühle Ort wird in meinem Film zur Metapher für ein Gesellschaftsbild und unsere aktuelle Lebensweise: Schöne, nette Fassaden, das System dahinter liegt im Argen. Aber wir machen weiter. So funktioniert auch der Supermarkt: Wenn etwas umfällt, wird es weggewischt, wenn etwas rausgenommen wird, wird es nachgefüllt. Alles bleibt clean, farbig und voller falscher Versprechen. Menschliche Emotionen prallen ab und werden vergessen.
In letzter Instanz wurde auch mit dem Fall so umgegangen. Jegliche sinnvolle Auseinandersetzung wurde größtenteils verweigert. Am Ende war die Familie schuld, die betroffenen Jugendlichen wurden zu Kriminellen und im breiten öffentlichen Konsens war das auch so in Ordnung. Die Gesellschaft will gar nicht, dass sich etwas ändert. Es geht mir prinzipiell nicht darum, den Fall durch den Film neu aufzurollen und eine strengere Strafe für die Polizisten einzufordern. Ich bin sogar der Überzeugung, dass es Strafe genug ist, mit dieser Tat leben zu müssen. Es gibt keine Gewinner in dieser Geschichte. Es geht mir um einen gesellschaftlichen Umgang mit dem Fall. Das ist ein Menschenrechtsbruch und wie kann man so etwas verhindern? Ich möchte die Frage stellen „Will man in Österreich so mit Kindern und Jugendlichen umgehen und sie als Kriminelle bezeichnen?“ Sie können es nämlich laut Menschenrecht gar nicht sein. Auch Österreich anerkennt die Menschenrechtskonvention, demnach ist dieser Junge ein Kind und Kinder gehören geschützt. So muss man das aufarbeiten und daher richtet sich mein Fokus auf die Kids, weil ich es für wichtiger hielt, da ein Bewusstsein zu schaffen.
 
 
Der Film öffnet eine Klammer, das Ende vorwegnehmend und schließt sie am Ende mit identischen Bildern. Warum haben Sie diese Struktur gewählt?
 
STEPHAN RICHTER: Die Eröffnungsbilder, die die Bilder des Endes vorwegnehmen, sind Bilder des Stillstandes. Die regungslosen Polizisten und die verletzten Jugendlichen. Für mich haben sie die interessanteste Stimmung, weil es der Moment ist, wo Polizisten darauf warten, dass die Polizei kommt. Das ist ein Moment der vollkommenen Regungslosigkeit, wo keiner mehr handlungsfähig ist. Dieser Moment unterstreicht nochmals die Sinnlosigkeit des Ganzen. Es ist etwas passiert und es gibt nur Verlierer. Der sonst so starre Supermarkt zeigt plötzlich eine eigenwillige Reaktion. Da und dort rinnt etwas aus und das war es.
 
 
Der Supermarkt strotzt vor Geradlinigkeit und farbenfroher Angefülltheit. Dazu kommen auch Szenen, wo einer der Verkäufer immer wieder angelaufene, aber unverdorbene Lebensmittel in den Müll kippt. Konsumkritik wird zu einem sehr präsenten Thema.
 
STEPHAN RICHTER: Wenn man sich für diesen Blickwinkel entscheidet, dann muss man diesen Weg konsequent gehen. Nur so entwickelt dieser Ort eine metaphorische Kraft. Ähnlich wie der Bresson’sche Esel bestimmt der Supermarkt, welche Geschichten ich sehe. So wird aber der festgefahrene kleinstädtische Kosmos in seiner Gesamtheit sehr gut sichtbar. Die Jugendlichen sind die einzigen, die dieses System ein wenig angreifen und dagegen rebellieren. Ich versuche im Film, die Erschütterung, die ich verspürt habe, widerzuspiegeln, und auch diese Resistenz der Gesellschaft gegen Veränderung zu zeigen. Meiner Ansicht nach eignet sich diese übermächtige Konsumwelt des Marktes dafür sehr gut.  2013 hatte ich im Kontext des EKRAN_Regieworkshops in Warschau ein langes Gespräch mit dem Drehbuchautor Antoine Jaccoud (Winterdieb) zu diesem Thema. Ich erklärte ihm unter anderem, dass es in der Geschichte ja letztendlich nur Verlierer gibt. Er dachte kurz nach und sagte zu mir: "Yes, but in the end the supermarket must win."
 
 
Wie ließ sich ein Supermarkt finden, der auch die geeignete Architektur anbieten konnte?
 
STEPHAN RICHTER: Das war alles andere als einfach. Das Spannende an diesen Nicht-Orten ist, dass es immer wieder Menschen gibt, die sich dort ständig aufhalten, obwohl es grundsätzlich ein Ort ist, wo die Leute kommen und gehen. Es musste ein Ort sein, wo man als Jugendlicher wirklich herumhängen will. Lerchenfeld war da architektonisch auf alle Fälle ein Vorbild. Die großen Supermarkt-Ketten hatten aber ein äußerst geringes Interesse mitzuwirken und haben dann auch alle abgesagt. Aber der Supermarkt, den wir dann in Oberösterreich fanden, hat filmisch besser funktioniert, als ich es erhofft hatte. Wir kamen dort an und sahen genau wie in Lerchenfeld Jugendliche am Parkplatz, die dort überall ihre Spuren hinterließen. Vor allem Enzo Brandner, meinen Kameramann, und mich haben auch diese flachen, langen Regalgänge fasziniert. Die gibt es bei den großen Ketten nicht, dort sind sie eher hoch und kürzer. Wir haben sehr viel nachts gedreht, selten bei Betrieb. Außerdem war das ein mittelständischer Betrieb, der keiner großen Kette verpflichtet war. Die Menschen in Wels, die im Markt arbeiteten, waren ganz besonders kooperativ. Nach den sechs Wochen hatten wir das Gefühl, Teil der Familie zu sein.
 
 
Wie erzähle ich Jugend an so einem Ort? Wie hat sich in dieser Frage die Bildersuche gestaltet?

STEPHAN RICHTER:  Zunächst mal aus der eigenen Erfahrung. Ich bin selbst auch in einer ähnlichen Kleinstadt groß geworden und habe meine pubertären Jahre großteils so verbracht, auch wenn es mir in Ludwigsburg deutlich besser erging als den Jugendlichen in Lerchenfeld. Man besetzt Orte, die in der Anthropologie als „Nicht-Orte“ bezeichnet werden. Das sind Orte, die eine Art Monokultur sind und über ihre Funktion hinaus weder Identität noch Geschichte haben: Malls, Supermärkte oder Fabriken. Diese Orte sind für Jugendliche sehr attraktiv. Auf den Parkplätzen kann man skaten, nachts herumhängen, sprayen, kiffen, tagsüber jederzeit etwas zum Trinken holen. Ich habe durch das Schreiben viel wiederentdeckt, was ich selber gemacht habe. In Krems gibt es ein Jugendzentrum, das sehr gut ist, aber in Lerchenfeld in der Nähe von Krems, wo das passierte, da gibt es nicht viel Angebot.  Darüber hinaus ist der Stadtteil nochmals abgeschottet durch einen Fluss und umzingelt von Schnellstraßen. Jedes Mal, wenn ich nach Lerchenfeld gefahren bin, sind Jugendliche beim Supermarkt bei einer Autobahnunterführung herumgesessen und haben Shisha geraucht. Ich habe das so genommen, wie ich es gesehen habe. Spannend für mich war, dass sich garantiert alle Beteiligten über diesen Ort begegnet sind und sich vielleicht sogar alle kannten.
 
 
Wie entstand die Sprache der Dialoge?
 
STEPHAN RICHTER: Die entstand im Wechselspiel. Ich habe bis fast zwei Wochen vor Drehbeginn immer wieder am Buch gearbeitet. Durch die kontinuierliche Arbeit mit Jugendlichen hat sich viel in einem Actio/Reactio-Spiel beim Proben ergeben. Ich habe versucht, herauszufinden, wie sie reden, um die Dialoge zu verfeinern, sodass sie den Jugendlichen natürlich über die Lippen kommen. Das wurde dann eine Art Leitlinie für alle anderen Schauspieler, denen das, glaube ich, sehr gefallen hat, weil sie aktiv gefordert waren und viel einbringen konnten. Christopher Schärf zum Beispiel, der Viktor spielt,  ist ein Schauspieler, der generell und auch sprachlich sehr viel anbietet. Ich habe dann immer gleich versucht, das zu schreiben. Es gab eine lange Probenphase mit allen Darstellern. Wir haben sechs Wochen am Stück geprobt, aber auch schon davor bei mir im Wohnzimmer oder wo es halt gerade ging. Die jugendlichen Darsteller, allen voran Jack Hofer und Simon Morzé, wurden darüber hinaus hervorragend von Julian Sharp, einem Acting Coach, unterrichtet, dessen Arbeitsweise mich auch sehr dazu inspiriert hat, aus den Szenen noch viel mehr rauszuholen.
 
Castings von Kindern und Jugendlichen dauern oft sehr lange. Wie ist es hier gelaufen?
 
STEPHAN RICHTER: Interessanterweise hatten Rita Waszilovics und ich Jack Hofer relativ schnell gefunden. Das konnte ich dann gar nicht glauben, dass ich so schnell die passende Person gefunden hatte, da ich mich  darauf eingestellt hatte, mindestens 300 Jugendliche zu casten. Rita war sich von Anfang an sicher. Wir casteten dann noch weiter, aber ich sah bald ein, dass es nicht mehr notwendig war. Jack hat so viel Einsatz gezeigt und ich wusste, dass ich jemanden brauchte, der bereit war, sehr viel zu proben und über ein Jahr am Projekt zu arbeiten.
 
 
Das Projekt kam in den Genuss eines der START-Stipendien des BKA. Wie sehr hat es der Idee geholfen?
 
STEPHAN RICHTER: Das START-Stipendium ist der eigentliche Grund, dass der Film realisiert wurde. Ich habe 2011 das Projekt als Kurzfilm eingereicht. Ich kam ja aus der bildenden Kunst, da ich bei Bernhard Leitner und später Erwin Wurm Medienkunst studiert hatte, und bin ohne große Erwartungen an die Sache herangegangen. Barbara Fränzen hat mich ermutigt, einen Spielfilm daraus zu machen. Ich hätte mir das damals gar nicht angemaßt. Ich wurde da sehr unterstützt und von Susanne Wastl vom BKA auch mit der Golden Girls Filmproduktion in Kontakt gebracht, Arash T. Riahi war der Mentor des Projekts. Ohne dieses Stipendium wäre der Film nie zustande gekommen.
 
 
Aus diesem Hintergrund rührt gewiss der hohe Anspruch in der Bildgestaltung? Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Enzo Brandner?
 
STEPHAN RICHTER:  Arash T. Riahi schlug ihn als Kameramann vor. Was mir an seiner Arbeit so gefiel, war diese seltsame, eigenartige Präzision seiner Handkamera. Ich habe meinen Film sehr stark in diesem Gestus gesehen. Elephant von Gus van Sant oder auch We Need to Talk about Kevin waren wichtige Referenzen für mich, weil es Filme sind, die mit traumatischen Gewaltszenarien und Jugendlichen zu tun haben. Im Laufe der Zusammenarbeit mit Enzo hat sich dann zusätzlich auch eine formale Ebene herauskristallisiert und wir haben ja teilweise sehr strenge und präzise Bilder des Supermarktes gestaltet, um sie der lebendigen Welt der Jugendlichen gegenüber zu stellen.
 
 
Ein Thema aufzugreifen, wo Polizei Kritik ausgesetzt ist, ist heikel. Auf welchem Grat mussten Sie da wandern?
 
STEPHAN RICHTER: Ich wollte weder Jugendliche noch Polizisten in irgendeiner Weise schonen oder zu brav und diplomatisch arbeiten, um Kritik aus dem Weg zu gehen. Ich habe das herausgearbeitet, was mir begegnet ist. Die Kluft zwischen Jugendlichen und Polizei ist seit diesem Fall noch viel größer geworden. Ich wollte aber im Film deutlich machen, wie klein die Distanzen zwischen beiden Seiten sind. Sie halten sich ja immer wieder in Sichtweite voneinander auf. Absurderweise  gibt’s zwischen der Welt der Jugendlichen und der der Polizei Schnittmengen, aber Kommunikation findet nur über die Distanz oder das Gesetz statt. Das ACAB-Graffiti (All cops are bastards) im Film, das wir übrigens so in Wels vorgefunden haben, ist ein gutes Beispiel dafür. Ich möchte bewusst machen, dass es eigentlich eine vertane Chance ist. Was spricht dagegen, einmal zu den Kids zu gehen und zu fragen „Wie geht’s euch?“  Was ich zeige, ist vielleicht polizeikritisch, aber nicht polizeifeindlich. Jeder vernünftige Polizist wird einsehen, dass im Fall Florian P. einiges schief gelaufen ist und hier ein Bedarf an Aufarbeitung besteht. 
 
 
Dramatischer Kern der Handlung ist die Schlussszene im  Supermarkt. Welche Überlegungen haben Sie dafür angestellt?
 
STEPHAN RICHTER: Es gab eine bekannte Faktenlage: Die Jungen waren in Partylaune und haben in der Nacht allen möglichen Blödsinn gemacht. Darüber hinaus gab es die Darstellung von einem geplanten Einbruch. Das halte ich für Unsinn. Ich habe viele Supermärkte gesehen und dabei ist eines klar geworden – mit einem Schraubenzieher kriegst du keinen Supermarkt auf. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hab bei der Recherche die Geschäftsführer verschiedener Supermärkte immer wieder gefragt „Wie würden Sie einbrechen?“  und meist deuteten sie auf kaputte Rolltore oder Ähnliches. In Wels, wo wir gedreht haben, hat eine Mitarbeiterin einfach auf den Müllcontainer gedeutet, durch den man schnell ins Innere gelangte. Natürlich reizt das einen 14-jährigen Jugendlichen und das zieht auch die Grenze für mich zu einer kriminellen Tat. Es gibt einen Unterschied ob ich nun mit Brecheisen und Schlagbohrer anrücke oder ob ich spontan merke, „Hey geil, ich kann da reingehen.“ Wer will nicht mal nachts in einem Supermarkt sein? Mir war wichtig, diesem Eindringen in den Supermarkt eine gewisse Beiläufigkeit zu geben, die dem Zuschauer im Sinne einer Leichtigkeit auch Freude macht, ohne jede kriminelle Intention. Am meisten störte mich damals, dass stets von Kriminellen die Rede war. In diesem Alter ist so etwas nicht kriminell. Es macht nur einen großen juristischen Unterschied hinsichtlich des Gebrauchs einer Schusswaffe, wenn eine kriminelle Intention gegeben ist. Deshalb ist der Vorfall mit Ausdrücken wie „von langer Hand geplant“ etc. so dramatisiert worden.  Ich habe auch versucht, auf Polizeiseite klar zu machen, welche Stresssituation ab dem Moment gegeben ist, wo sie den Supermarkt betreten. Der Supermarkt ist ein Labyrinth und da bei Dunkelheit bewaffnet herumzugehen, in der Annahme, dass vielleicht irgendwo jemand ist, ist eine unangenehme Situation. Dazu kommen zwischenmenschliche Faktoren, z.B. in der Szene, wo die Polizistin zunächst den Geschäftsführer anruft und der Polizeikollege sich ausgebremst fühlt und deshalb anordnet hineinzugehen. Er will vor dem jungen Supermarktmitarbeiter nicht überstimmt werden und unprofessionell wirken. Deshalb geht er rein. Die korrekte Vorgehensweise wäre gewesen – draußen bleiben, den Marktleiter holen oder einen Schäferhund reinzuschicken. Dann wäre Florian P. mit einem ordentlichen Schrecken davon gekommen, seine Eltern hätten ihm ordentlich den Kopf gewaschen und er wäre am Leben.
 
 
Ein wiederkehrendes Element – Metapher der Freiheit und Selbstbestimmtheit – ist die Autofahrt, die bildtechnisch sehr interessant gelöst ist. Ist das Auto die Gegenwelt?
 
STEPHAN RICHTER: Eigentlich gehören Supermarkt und Auto untrennbar zusammen. Für Jugendliche ist es darüber hinaus unheimlich toll, wenn jemand ein Auto hat. In diesem Fall ist es Viktor, der damit punktet. Außerdem glaube ich, dass im Zusammenhang mit der Tatnacht das Auto eine sehr entscheidende Rolle spielt. In dem Moment, wo Julian in dieses Auto einsteigt, steckt er in der Falle. Das Auto ist ein spannender, enger Raum, wo andere Gesetze herrschen.  Für Viktor, der sonst kaum Fuß im Leben fassen kann, ist der aufgetunte BMW das einzige was ihm geblieben ist. Es ist wichtig für ihn, dass er damit 14-Jährige beeindrucken kann und seinen Status behält. Und es gibt ja auch eine Szene, wo die Polizisten im Auto sitzen und so wird klar, wie die beiden Lebenswelten einander ähnlich sind. Die sitzen auch sehr viel Zeit im Auto herum und fahren durch die Gegend.
 
Wie kam es zum Titel Einer von uns?
Stephan Richter: Die Titelfindung war eine schwere Geburt. Wir haben sehr lange daran gearbeitet. Zuvor hieß das Projekt sehr lange Wir waren da. Daran gefiel mir der „Wir-Begriff“, der eine Gemeinschaft beschreibt und sofort die Frage aufwirft, wer damit gemeint ist, oder ob es mich als Zuseher auch einbezieht. Einer von uns hat eine ähnliche Wirkung, Er ist nur noch ein wenig provokanter. Wer ist der „eine von uns“?  Ist es der Polizist? Der Jugendliche?  Der Punkt, den ich berühren will, ist der, dass hier eine Gemeinschaft ist, die gar nicht merkt, dass sie eine Gemeinschaft ist. Alle leben klassisch kapitalistisch in ihrem eigenen Kosmos und an den anderen vorbei. Wir urteilen über Florian P. und auch die Polizisten sehr hart, obwohl sie eben „zu uns“ gehören sollten.
 
 
Sound, Musik und Stille spielen eine große Rolle. Was war dabei Ihr Anspruch?
 
STEPHAN RICHTER: Ich habe mir eine Zusammenarbeit mit Maja Osojnik und Matija Schellander gewünscht, weil ich Sounddesign und Musik gleichberichtigt behandelt haben wollte. Supermärkte sind Orte, wo ständig etwas brummt und zischt und knarzt. Ich beschloss, bevor uns das zu einem großen Nachteil wird, diesen Umstand lieber zu nutzen und es als dramaturgisches Element zu unterstreichen. Ein Supermarkt erzeugt eine sehr eigenartige Stimmung. Nach einigen Drehtagen waren wir immer total ermattet – das kalte Licht, die permanenten Geräusche, das seltsame Raumklima – das schlägt sich auf die Psyche. Diese Stimmung wollten wir auch über den Sound vermitteln. Majas und Matijas freier Umgang mit Musik und Sound hat mir immer schon gefallen und die beiden waren von der Idee begeistert.
 
 
Ging es Ihnen mit diesem Film auch darum, eine Diskussion in Gang zu bringen?
Stephan Richter: Nach der damaligen Berichterstattung und der derzeitigen Stimmung im Land ist es offen gesagt sehr schwer zu sagen, was ich mir wünsche. Es ist eine Geschichte, die echte Menschen betrifft. Ein erneuter Medienaufruhr, mit dem ich locker umgehen kann, hat für andere Menschen ganz andere Konsequenzen. Ich will keine neue Konfrontation heraufbeschwören, das ist ja genau damals passiert und hat viele Beteiligte zu Unrecht sehr verletzt und ihnen das Leben schwer gemacht. Ich erinnere an Michael Jeannes fürchterliches Zitat in der Kronen Zeitung: „Wer alt genug zum Einbrechen ist, ist alt genug zum Sterben.“ Die andere Seite waren verletzte und zornige Jugendliche, die ihren Glauben an das System verlieren. Wem soll das weiterhelfen?
Persönlich fände ich es wichtiger, dass der Film eine Diskussion über Jugendarbeit und über Polizeiarbeit auslösen könnte und man der Frage nachgeht, wie da auch Schnittmengen entstehen könnten. Das wäre produktiv und da besteht auch der größte Bedarf. Ob man nun nach Lerchenfeld bei Krems geht oder in Wien bleibt – es gibt überall dieselben Probleme. Kids, die wenig Ausdrucksraum und Anerkennung bekommen. Es ist kein neues Problem. Ich würde mir wünschen, dass der eine oder andere eine neue Haltung zu diesem Vorfall einnimmt und feststellt, dass er solche Zustände in der Gesellschaft, in der er lebt, nicht will. Diese Grenze darf nicht nochmals überschritten werden. Es wird ja auch ein Präzedenzfall geschaffen. Wenn es einmal ohne Konsequenzen durchgeht, sagen wir dann das nächste Mal, wenn ein 14-Jähriger erschossen wird wieder, „Der war ein Krimineller, also ist das gut so“? Oder reicht beim nächsten Mal schon weniger? Das Konfliktpotenzial besteht ja weiter. Was darf der Staat? Wo darf er eingreifen? Woher rührt diese Obrigkeitshörigkeit, dass man sagt: Das hat ein Polizist gemacht, also muss es richtig sein.  Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was da überhaupt passiert ist und dass wir, also die Gesellschaft, das sicher nicht wollen. Es ist den meisten Leuten nicht bewusst, dass da ein Kind erschossen wurde. Aber das ist nun mal Fakt, das kann man drehen und wenden wie man will.
 
 
Interview: Karin Schiefer
August 2015
« Der Tod eines 14-jährigen Jungen in der bunten Warenwelt eines Supermarkts ist etwas extrem Trauriges und in sich so sinnlos, dass ich dem gefolgt bin.»