INTERVIEW

«Nichts ist normal. Das wird aber auch das Besondere des Films ausmachen.»

Die Novotny & Novotny Filmproduktion sowie Amour Fou Luxembourg haben als Produzenten von Angelo ein Wiener Rokoko zwischen Opulenz und Abstraktion entstehen lassen. Ein Gespräch über die Dreharbeiten mit Alexander Glehr und Alexander Dumreicher-Ivanceanu.


 
Bei unserem Rundgang durch die eindrucksvollen und schönen 18. Jh.-Kulissen hier in der ehemaligen Sargfabrik des Liesinger Kulturzentrums F23 fiel auch einmal das Wort „extrem“. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir während der Dreharbeiten zu Jud Süß – Film ohne Gewissen 2009 führten, da meinten Sie, es wären für lange die aufwändigstem Drehtage gewesen, für die Sie verantwortlich waren. Ist nun mit ANGELO eine neue Dimension erreicht?
 
ALEXANDER GLEHR: Es fällt mir sehr schwer, da einen Vergleich anzustellen, da bei Oskar Roehlers Film und Angelo vollkommen unterschiedliche Prämissen im Vordergrund standen und auch grundlegend verschiedene Regie-Persönlichkeiten hervortreten. Ich würde beiden Filmen unrecht tun, sie zueinander in Bezug zu setzen. Angelo wird als Film eine andere Form von Opulenz aufweisen, als Jud Süß – Film ohne Gewissen das tat. Was man in Angelo sieht, ist abstrakter, konzentriert sich stärker aufs Wesentliche. Aber genau diese Details sind bis ins Letzte ausgearbeitet, hier wurde mit großem Aufwand jeder Zufall, jede Schleißigkeit vermieden. Für mich als Produzent gewiss in einem noch nie da gewesenem Ausmaß.
 
 
Die Novotny Filmproduktion hat mit Egon Schiele (frühes 20. Jh.), Deckname Holec (1960er/70er Jahre) und nun Angelo (18. Jh.) in kurzer Zeit drei historische Filme realisiert, was gewiss ein Zufall ist. Entsteht dennoch etwas wie eine produktionstechnische Expertise?
 
ALEXANDER GLEHR: Auch das würde ich so nicht sagen, da es viel zu sehr von den Kreativen abhängt. Dass mehrere historische Filme nun in einer Reihe entstanden sind, hat etwas mit der jeweiligen Thematik zu tun. Wenn man in Österreich einen abendfüllenden Spielfilm produziert, dann muss er thematisch eine Relevanz haben. Relevanz deswegen, weil wir weder Produktions- noch Werbebudgets haben, die es uns möglich machen, über den reinen production value das Kinopublikum in die Säle zu locken. Wir müssen Geschichten finden, die das Potenzial haben, Aufmerksamkeit zu erregen und bei den Leuten die Bereitschaft wecken, sich mit einem Thema auseinander zu setzen. Die Historie hat jede Menge Stoffe zu bieten. Was unseren Beruf dann so spannend macht, ist, nicht nur die richtigen Geschichten zu finden, sondern auch die richtigen Momente einer Biografie auszuwählen und diese für ein heutiges Publikum so zu erzählen, dass sie die entscheidende Relevanz entwickeln.
 
 
Worin liegt die heutige Relevanz in der Biografie von Angelo Soliman, der von 1721 bis 1796 gelebt hat?
 
ALEXANDER GLEHR: Das Faszinierende an der Lebensgeschichte von Angelo Soliman ist, dass es eben kein Sklavendrama ist. Es geht nicht darum, die heutige Situation einer kontinentalen Flüchtlingsbewegung mit einer 250 Jahre alten Anekdote zu erklären. Das wäre ein vorschneller Ansatz. Angelo spielt natürlich mit dieser Thematik, es geht vor allem aber geht es um Identität, es geht um ein Finden von sich selbst, um die Frage der Freiheit. Angelo Soliman war ein Privilegierter, einer, der überall dabei war. Aber er gehörte nie dazu. Es geht um einen ganz anders gearteten Rassismus als den, mit dem wir heute zu tun haben. Im frühen 18. Jh. war es ein Interesse, eine Neugier an der Welt, die Angelo zwangsweise aus seinem vermutlichen Geburtsort in Nigeria nach Wien gebracht hat. Die Menschen hier wollten das Exotische kennenlernen, sich mit dem „schwarzen Mann“ auseinander setzen und fühlten sich wahrscheinlich besonders liberal dabei. Eine völlig andere Situation im Vergleich zu heute, wo das Gefühl der Bedrohung und die Angst vor dem Fremden im Vordergrund steht. Die Parallelen zu heute finden sich in der Frage, was es bedeutet, anders zu sein. Wie liberal sind wir als Gesellschaft tatsächlich, wenn wir das Anderssein immer noch so hervorkehren? Warum wird in unserer liberalen Gesellschaft ein erfolgreicher Fußballer, der sich als homosexuell outet, für seinen Mut beglückwünscht? Warum muss man etwas noch immer als besonders hervorkehren, was längst normal sein sollte?
 
 
Hinterfragt der Film somit die Werte der Aufklärung, die so gerne als Grundfesten unserer heutigen Gesellschaft in den Raum gestellt werden?
 
ALEXANDER GLEHR: Es war gewiss ein notwendiger Entwicklungsschritt für unsere westliche Gesellschaft, aber was bedeutet „aufgeklärt“ nun wirklich? Wie aufgeklärt können wir heute behaupten zu sein? Ich hoffe, dass Angelo beim Publikum diese Fragestellung in Gang setzt, dass er dazu führt, dass jeder von uns auf gewisse Weise in seinem eigenen, wenn auch noch so subtilen Rassismus unangenehm berührt wird. Dem kann sich keiner entziehen und darin sehe ich Relevanz dieses Films für ein heutiges Publikum. 
 
 
Mit welcher Regiepersönlichkeit hat man es zu tun, wenn man mit Markus Schleinzer einen Film dreht?
 
ALEXANDER GLEHR: Man hat es mit einer extrem anspruchsvollen Persönlichkeit zu tun, er ist jemand , der immer zwei Gedanken weiterdenkt, als man es erwarten würde, der sich in jedem Prozess der Filmherstellung einbringt, die Dinge dadurch aber auch besser macht. Er spielt mit Erwartungshaltungen, arbeitet gegen diese an und schafft dadurch etwas Größeres. Wenn wir uns nach jedem Drehtag die Muster anschauen, dann haben die Bilder in der Tat etwas Erhabenes und Einzigartiges.
 
 
Ein Beispiel?
 
ALEXANDER GLEHR: Allein das Drehbuch hat eine Sprache, die absolut nicht den üblichen Vorstellungen von einem Drehbuch entspricht und in keiner Weise technisch ist. Dennoch vermittelt es ein präziseres Bild von dem, was der Film sein soll, als jede technische Anweisung. In der Finanzierung bereitet so ein Drehbuch natürlich Schwierigkeiten, weil sich jeder etwas anderes erwartet und es aus der Norm fällt. Wenn wir uns die Muster anschauen, dann haben die Bilder in der Tat etwas Erhabenes und Einzigartiges. Ich bewundere den Mut von Markus, weil er das Extrem sucht und alles auf eine Karte setzt. Das auf den Punkt zu bringen, ist mit enormen Aufwendungen verbunden, nicht nur in materieller Hinsicht. Es besteht eine absolute Hingabe seitens des Regisseurs, er fordert diese aber auch von seinem Team ein. Der Dreh ist außerordentlich anstrengend, weil alles im Extrem und nichts normal ist. Das wird aber auch das Besondere dieses Films ausmachen.
 
 
Bedeutet das z.B. unendlich viele Takes, bis alles perfekt am Punkt ist?
 
ALEXANDER GLEHR: Im Gegenteil. Beim Dreh läuft alles wie geschmiert. Was für mich neu und sehr bemerkenswert war, das präzise Durchdenken, Durchfühlen und Durchtasten von allem, was diesen Film betrifft, im Vorfeld. Es muss alles einmal angesehen oder gar angegriffen worden sein, bevor es ins Bild kommt. Das Ergebnis rechtfertigt den Aufwand.
Dementsprechend umfangreich war die Vorproduktion, umso stärker mussten die einzelnen Departments schon im Vorfeld in die kleinsten Details gehen. Das zieht sich durch alle Bereiche durch, vom umfangreichen Casting bis hin zur handverlesenen Auswahl der Komparsen. Seit über einem halben Jahr vor Drehbeginn wird an den Kostümen gearbeitet und an den Perücken geknüpft, die Location-Suche läuft seit Jahren. Das gibt einen kleinen Eindruck davon, wie lange die Vorbereitung schon auf Hochtouren läuft. Markus verhindert jedenfalls mit aller Kraft, dass ihn irgendetwas in dem Moment, wo das Bild für die Ewigkeit festgehalten wird, noch überraschen kann.
 
 
Wo sind die Dreharbeiten vonstatten gegangen?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Begonnen haben wir im Dezember 2016 in Österreich. Gut sechzig Prozent wurden in Luxemburg und seiner weiteren Umgebung gedreht. Darunter im Château Meysembourg in Luxemburg und in einer sehr schönen mittelalterlichen Kirche in Sillegny im Norden Frankreichs, und letzte Woche haben wir in Belgien die Eröffnungsszene gedreht: Boote, die im 18. Jh. mit den Kindern an den Küsten Europas angekommen sind. Auch für diese Szene kann ich unterschreiben, was Alex soeben erzählt hat. Markus Schleinzer hat eine künstlerische Vision davon, wie die Bilder aussehen sollen und die Geschichte erzählt wird. Es ist sowohl von Produktionsseite als auch von Seiten der anderen Departments nur über einen elliptischen Zugang möglich, sich dieser Vorstellungskraft gleichsam fliegend anzunähern. Es hat etwas von einem Walzertanz. Die Eröffnungsszene ist symptomatisch: es zeigt Kinder und Jugendliche aus Afrika, die vor den Küsten Europas ankommen. Ein Bild, das wir heute auch kennen. Der Unterschied ist der, dass es sich im 18. Jh. um Zwangsverschleppungen handelte. Wir haben in Europa u.a. deshalb sehr viel Wohlstand erreicht, weil Menschen aus Afrika nach Europa und Amerika verschleppt wurden. Der Film zeigt ein rückwirkendes Echo dessen, was wir heute sehen. Wir haben jahrhundertelang die Menschen gezwungen zu kommen, jetzt herrscht in Europa teilweise eine Stimmung des Unverständnisses dafür, dass die Menschen freiwillig zu uns kommen. Sie kommen auch aufgrund der Tatsache, dass wir Europäer über Jahrhunderte die Lebensräume und Ressourcen beengt haben. Angelo ist ein Film, der auf mehreren Ebenen lesbar sein wird, extrem heutig und aktuell.
 
Wie sah der Studio-Dreh in Luxemburg aus?
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Das Kernstück, war ein großartiger Palast in Luxemburg, den wir als schwarzes, innen von Flammen getöntes Palais gestaltet haben. im Zuge der Handlung zum Großteil niedergebrannt aussehen musste. Auch das war ein herausragendes Erlebnis, zunächst ein Set aufzubauen, um es dann von Innen mit Flammenwerfern zu rösten und zu schwärzen. Die Idee war, dass dieser Palast von innen ausbrennt. Wir haben sehr viel im Studio gedreht, aber auch Außenaufnahmen in alten Gebäuden, die sich perfekt in die Harmonien und Disharmonien dieses Films einfügen, der sich zwischen Realismus und Artifizialität bewegt. Ich finde das spannend: der Film hat ein sehr realistisches Moment, weil die Details so perfekt und vorausschauend gestaltet sind, und gleichzeitig führt das in eine Phantastik. Es ist weder ein realistischer noch ein psychologischer Film. Diese einerseits künstlerische, traumverwandte und andererseits faktische Welt schafft eine Verbindung aus Magie und Realismus, die Angelo auszeichnen wird.
 
 
Wie sehr bewegt sich die Geschichte Angelo Solimans zwischen Fiktion und historischen Fakten?
 
ALEXANDER GLEHR: Die Elemente, die historisch belegbar sind, hat Markus aufgegriffen, aber natürlich auch interpretiert. Es handelt sich eindeutig um eine Fiktion, die aber sehr stark dem Forschungsstand entspricht. Aber natürlich wird es auch Soliman-Experten geben, die mit Markus’ Auslegungen nicht in allem einverstanden sind.
 
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Der Film ist wie Literatur. Er ist nahe an den Quellen und zugleich große literarische Erzählung, die von einer belegbaren Faktenlage ausgehend ein filmisches Buch schreibt. Was wir heute am Set sehen, ist stellvertretend für diese Arbeit. Wir haben eine Szene gedreht, wo es sehr dunkel war; das Kerzenlicht als Lichtquelle, mit dem Markus und der Kameramann Gerald Kerkletz über weite Strecken gearbeitet haben, transportiert etwas von der Essenz des Films. Dieses Licht ist historisch verbürgt; in Luxemburg, wo wir in den geschwärzten Palais-Räumen drehten, haben wir mit hunderten Kerzen gearbeitet, was eine ganz besondere Atmosphäre erzeugt. Wir haben uns da sehr genau daran gehalten, wie damals mit Kerzen beleuchtet worden ist und gleichzeitig schafft das in einem Film von heute keine realistische Atmosphäre, weil unsere Sehgewohnheiten andere sind (vielleicht mit Ausnahme von Kubricks Barry Lyndon). Auch wenn es also der Realität entspricht, dass wir mit Kerzen beleuchten, schafft das kein realistisches Bild.
 
 
Markus Schleinzer hat, bevor er selbst als Regisseur zu arbeiten begann, sehr lange als Casting-Agent gearbeitet. Zuvor ist das Wort „handverlesen“ gefallen. Wir sehr hat er den Casting-Prozess geprägt?
 
ALEXANDER GLEHR: Wir haben mit mehreren Leuten zusammengearbeitet. Markus gibt aber sehr genaue Vorgaben und trifft bis zum letzten Komparsen die Entscheidungen. Dass der Cast international ist hat sich aus der Geschichte ergeben. Angelos Weg beginnt in Italien und führt über Frankreich und Tschechien nach Österreich. Französisch war die Hofsprache und von Angelo Soliman weiß man, dass er nur sehr bedingt des Deutschen mächtig war. Angelo-Darsteller hatten wir insgesamt vier: ein Kind, einen Jugendlichen, einen jungen und einen alten Mann. Den junge Mann würde ich als Hauptdarsteller nennen, der hatte aber nur 16 von 35 Drehtagen. Der Film zeichnet einfach das Leben von Angelo Soliman nach und dafür benötigten wir vier Darsteller. Alba Rohrwacher spielt die Comtesse, die sich Angelo vom Sklavenboot holt, ihn aufnimmt und ihn als „Paradiesvogel“ für ihren goldenen Käfig aussucht, ihn erzieht, ihm Sprache und Musik beibringt, Zugang zu Bildung verschafft und ihn auf das Leben im Adel vorbereitet.
 
ALEXANDER DUMEREICHER-IVANCEANU: Ich finde, dass der Cast den Film, aber auch die Geschichte Europas sehr gut widerspiegelt. Makita Samba, der den jungen Angelo spielt, ist ein französischer Schauspieler, Jean-Baptiste Tiémélé, der den alten Angelo spielt, wurde in der Elfenbeinküste geboren und ist seit den siebziger und achtziger Jahren ein bekannter Theater- und Filmschauspieler in Frankreich; Lukas Miko spielt Kaiser Josef II., Alba Rohrwacher ist Italienerin, Larisa Faber aus Luxemburg, spielt Angelos Frau, die aus Flandern kam  – Luxemburg und Flandern waren unter Maria Theresia ebenso wie Teile des heutigen Italien mit dem Österreich der Habsburger verbunden, das passt also auch zusammen. Das Casting spiegelt kongenial die geschichtliche wie die narrative Struktur des Films wider. Markus’ jahrzehntelange Erfahrung als Caster hat hier einen höheren Casting-Geist einfließen lassen, die Besetzung ist wirklich sehr beeindruckend.
 
 
Was steht nun bei einem so minutiös vorbereiteten und präzise gedrehten Film für den Postproduktionsprozess bevor?
 
ALEXANDER GLEHR: Es wird gewiss nicht einfacher werden (lacht). Und das ist auch gut so. Bei diesem Film ist alles im Extrem und reizt in allen Dingen die Grenzen aus. Ich bin als Produzent überzeugt, dass ein großartiges Ergebnis anders nicht denkbar ist. Ich suche die Auseinandersetzung mit den Regisseuren. Es kann keinen Film geben, wo alles friktionsfrei und ständig im Optimalen abläuft; das ist allein bei den Rahmenbedingungen, mit denen wir in Österreich arbeiten, schon nicht möglich. Für mich ist diese Zusammenarbeit mit Markus Schleinzer wieder eine tolle, neue Erfahrung. Eine Erfahrung, die ich wirklich schätze. Was ich bei Markus großartig finde, ist, dass es immer um die Sache, um das Werk geht. Er ist mir ein Freund geblieben, auch wenn wir uns noch so oft in den letzten Monaten wegen der Produktion in die Haare geraten sind. Ich rechne nicht damit, dass die Postproduktion einfacher werden wird. Wir werden am Ende der Produktion ziemlich erschöpft sein, ich glaube aber auch, dass wir wieder einen Markstein gesetzt haben, der halten wird.
 
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU: Den Schnitt wird Pia Dumont übernehmen, die nach Die Nacht der 1000 Stunden auch schon Erfahrung mit künstlerischen Erfahrungen hat. Ich glaube wir sind gerüstet. Alex hat recht, der Film geht in jeder Hinsicht – inhaltlich, erzählerisch, ästhetisch – an die Grenzen. Das wird in der Postproduktion nicht anders sein. Man kann auf den Film in jeder Hinsicht gespannt sein.


 
Interview: Karin Schiefer
Juni 2017