INTERVIEW

«Wir sind Festivals, die physisch stattfinden müssen.»

Als die Diagonale kurz vor Festivalstart  ihre 2020-Ausgabe für unvollendet erklärte, war noch nicht abzusehen, wie sehr der internationale Jahreszyklus an großen und kleinen Filmfestival aus den Fugen geraten und Organisator*innen vor die schwere Entscheidung gestellt würden, abzusagen, zu verschieben, online oder hybride Formen zu entwickeln oder die traditionelle Form zu wagen. Obwohl zu Beginn des Lockdowns noch sieben Monate Spielraum waren, entschied die Viennale schnell, ihre 58. Festivalausgabe anders zu konzipieren und setzte auf weniger Tage, mehr Kinosäle, vor allem aber auf das Kinoerlebnis auf der großen Leinwand.
Ein Gespräch mit Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi über das Planen und den Start in ein Festival, das trotz aller Ungewissheiten an seiner Rolle als anspruchsvolles Publikumsfest festhält.



Als im vergangen März unser Alltag plötzlich aufgehört hat, das zu sein, was er bisher war, hat kaum jemand gedacht, dass es länger als einige Wochen dauern würde. Die Viennale schien weit genug weg zu sein, um von den Einschränkungen betroffen zu sein. Wann ist es dann doch Gewissheit geworden, dass es eine „andere“ Viennale ‘20 geben musste, wenn sie zum geplanten Zeitpunkt stattfinden sollte?

EVA SANGIORGI:
Der Lockdown war der Beginn eines interessanten Denkprozesses, der bis jetzt nicht aufgehört hat. Zunächst einmal ging es darum, unsere Arbeitsweise als Team neu zu organisieren. Für manche war das einfach, weil sie so wie ich mit dem Lap-Top zu Hause arbeiten konnten, für andere war es komplizierter. Mit der Absage der Diagonale im März haben wir begonnen, unser Festival neu und anders zu denken. Wir sind auch gleich mit anderen internationalen Festivals wie Visions du Réel oder Thessaloniki in Dialog getreten, da ja mit dem spontanen Umschwenken einiger Festivals auf Onlinemodus auch die ersten Probleme aufgetaucht sind. Da sie sehr schnell reagieren mussten, haben sich so manche Regeln hinsichtlich Geo-Blocking und der Verfügbarkeit des Films außerhalb des Territoriums, wo das Festival stattfand, verändert. Eine der wesentlichen Fragen, die uns besonders beschäftigt hat, war die Sorge um ein ausgeglichenes Budget. Unser Festival besteht aus einem Kernteam, das sehr früh erweitert und zum Festival hin nicht nur richtig groß wird, die Leute rechnen mit diesem Job im Herbst. Auch wenn das Festival noch sieben Monate entfernt ist, beginnt im Frühling die Zeit zu laufen und März ist ein Zeitpunkt, wo eine ganze Reihe unserer Departments operativ werden. Wir haben uns sehr intensiv mit Budgetfragen beschäftigt und die verschiedensten Versionen durchgespielt, bis hin zum Fall einer Absage.  Darauf aufbauend haben wir verschiedene Szenarien und ihre Auswirkungen auf die Box-office-Einnahmen entworfen. Dies alles, ohne zu wissen, wie lange die Maßnahmen in Kraft sein würden. Ein Festival ist auch eine finanzielle Angelegenheit und der soziale Aspekt, der unser Team betraf, hatte Priorität. In dieser Zeit der Ungewissheit und der Unmöglichkeit, unsere Sponsoren zu kontaktieren, war ein wichtiger Schritt, die Dauer des Festivals von 14 auf elf Tage zu reduzieren. Elf Tage ist noch immer lang und wir waren sehr optimistisch.  Ein zweiter Schritt war die Reduktion der Anzahl der Filme. Sobald klar war, dass Cannes nicht stattfinden würde, stand für uns fest, dass wir weniger Filme, die ausgewählten dafür aber öfter zeigen würden. Anfang Sommer war die Idee geboren, unser Programm auf weitere Kinosäle auszuweiten. Wir überlegten mehrere Varianten und kamen mit fünf zusätzlichen Sälen zu der Lösung, die für unser Team am besten machbar war. Ein weiterer Schritt betraf dann die Anzahl der Filme.


Seit März ist der internationale Festivalkalender permanent in Bewegung. Manche Festivals werden abgesagt, andere verschoben, andere wiederum wie z.B. CPH:DOX sind ganz kurzfristig im März auf eine hybride Form umgestiegen. Haben Sie auch für die Viennale über hybride Formen nachgedacht? Was hat zur klaren Entscheidung geführt, dass die Viennale als Publikumsfestival stattfinden wird?

EVA SANGIORGI:
Die Frage, ob hybrid oder Präsenzfestival war von Beginn an klar. Ich habe mit Eva Rotter, der Geschäftsführerin der Viennale, sehr lange Gespräche geführt. Zum einen, was unsere finanzielle Situation betrifft, zum anderen darüber, wie sich die Viennale als Festival positioniert, worin unser Auftrag und unsere Verantwortung liegen und wie die Erwartungen an uns aussehen. Die Entscheidung für das Präsenzfestival ist auch ein Statement hinsichtlich der Viennale selbst, als Festival, das Kino in hoher Qualität in die Kinosäle bringt, wo auch die menschliche Begegnung und ein gemeinsames Filmerlebnis zählen. Filme im Rahmen eines Festivals online anzubieten, halte ich grundsätzlich für eine gute Sache, aber es hat nichts mit unserem Selbstverständnis zu tun. Die Viennale ist ein Festival für das Publikum und für die Stadt. Wenn wir an diesem Prinzip gerüttelt hätten, dann hätte sich dieses Event nachhaltig verändert. Mir war es ganz wichtig, am ursprünglichen Festivalauftrag der Viennale festzuhalten.


Frühling und Sommer ist in normalen Jahren wohl die Zeit, wo Sie Festivals besuchen, Filme sichten, Tendenzen und neue Talente aufspüren. Mussten Sie dieses Jahr auch im Hinblick auf Ihre kuratorische Tätigkeit als künstlerische Direktorin Ihren Zugang anders definieren?

EVA SANGIORGI:
Selbstverständlich hat es mir gefehlt, bestimmte Festivals persönlich zu erleben, um auch auf anderen Sinnesebenen wahrzunehmen, wie Dinge funktionieren und die Menschen reagieren. Trotz alledem ist der Prozess der Programmgestaltung letztendlich ein sehr einsamer. Reisen zu Festivals sind erfrischende Momente, den Rest der Arbeit muss ich allein erledigen. Vielleicht hatte ich dieses Jahr mehr Online-Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen. Die waren Teil der digitalen Gruppentherapie, die es während der Pandemie sehr oft gegeben hat. Früher war der Austausch ganz spontan, wenn wir uns bei einem Festival über den Weg gelaufen sind. Es gab eine Zeit besonders zur Jahresmitte, wo deutlich  weniger Filme im Umlauf waren als sonst. Erst im Herbst sind wieder neue Filme verfügbar geworden. Ich habe sehr viel mehr gesichtet, als ich je hätte nehmen können, vor allem auch um mir einen breiten Überblick zu verschaffen.  Grundsätzlich würde ich aber nicht sagen, dass sich mein Zugang in inhaltlicher Hinsicht verändert hat. Das V’20 Programm unterscheidet sich von früheren vielleicht dahingehend, dass es immer auch einen filmgeschichtlichen Schwerpunkt gab. Das findet dieses Jahr in reduzierter Form statt.  Auch wenn Cinematografien und Monografien Teil des Programms sind, so ist der Fokus dieses Jahr dennoch stärker auf dem zeitgenössischen Kino. Wir konnten unsere Auswahlkriterien heuer leicht abändern, weil das Programm 2020 auch diese Ausnahmesituation und was sie für Österreich bedeutet hat, widerspiegeln soll. Das ist einer der positiven Aspekte des heurigen Jahres. Es gibt eine deutlich höhere Präsenz von österreichischen Filmen als in früheren Jahren. Das wird nur einmalig so sein, da ich in keiner Weise beabsichtige, die Arbeit der Diagonale zu übernehmen. Dieser inhaltliche Schwerpunkt entstand vor allem aus Solidarität und Sensibilität anderen Kolleg*innenen gegenüber. Programmieren bedeutet auch wachsam sein, wie sich die Filmbranche ganz allgemein entwickelt, welche Trends  sich in der Filmproduktion abzeichnen, was sich in der uns umgebenden Filmlandschaft tut und da gilt es auch, die Situation anderer Kolleg* nnen, insbesondere in Österreich wahrzunehmen.


Das V’20 Programm umfasst Kollaborationen mit anderen Filminstitutionen, aber auch mit Einrichtungen in anderen Kulturbereichen wie Theater, Museen etc. Wie schafften Sie die Gratwanderung zwischen dem Aktivieren lokaler Ressourcen einerseits und dem Wahren der Internationalität, für die die Viennale steht?

EVA SANGIORGI:
Das war ein ganz wesentliches Anliegen und auch Teil unserer Strategie, die wir entworfen haben. Wir waren dieses Jahr angehalten, eine andere kreative Balance herzustellen, dabei nie die internationale Perspektive aus den Augen zu verlieren, aber mit der Freiheit, in diesem Jahr inklusiver agieren zu können. Aus Respekt gegenüber unseren Kolleg*innen der Diagonale, deren Festival abgesagt wurde, haben wir entschieden, diesem Festival einen Raum innerhalb des Programms zu überlassen, einen Raum der gut sichtbar als solcher definiert ist, um sich vom Viennale-Programm abzugrenzen. Andere künstlerische Bereiche ins Programm einzubeziehen war sehr wichtig. Es geschah auf recht spontane Weise. Was dieses Ausnahmejahr gebracht hat, war die Gelegenheit, Dinge zu riskieren und auszuprobieren. Die Viennale ist eine solide und dauerhafte Institution. Dieses Jahr hat alles verändert und die Veränderungen haben auch vor uns nicht Halt gemacht.  


In Ihrer Einleitung zum Viennale-Programm sprechen Sie vor allem von der veränderten Wahrnehmung des Raumbegriffs – vom unendlichen Raum des Kinos in Zeiten, wo der Raum der sozialen Zusammenkunft von einem Virus besetzt ist. War es eine der wesentlichen Aufgaben, die konkreten wie die abstrakten Festivalräume neu zu denken?

EVA SANGIORGI:
Ich denke, ja. Ein Blick auf den Stadtplan genügt, um zu sehen, dass sich die Geografie des Festivals verändert hat, über den ersten Bezirk hinausreicht und nun Säle in der Nähe des Hauptbahnhofs, aber auch in der Nähe des Gürtels im 7. Bezirk bespielt. Und dann ist bei einem Festival der zwischenmenschliche und soziale Raum ganz wesentlich. Dieses Jahr liegt der Fokus ganz eindeutig auf der Essenz des Festivals – den Filmen und dem gemeinsamen Erleben der Vorführung in einem Saal. Es wird auch dieses Jahr Gelegenheit zu Gesprächen und Dialog nach den Filmen geben, aber nur so weit es die Sicherheitsvorschriften erlauben. Alle anderen sozialen Events fallen dieses Jahr aus. Dass es keine Festivalzentrale geben wird, war eine Entscheidung, die wir sehr früh gefällt haben, weil es vorhersehbar war, dass diese dicht gedrängten Räume nicht erlaubt sein würden. Aber wir haben uns andere Dinge ausgedacht, wie z.B. Pop-up Settings. Wir hatten auch vor, Gespräche mit nationalen und internationalen Vertreter*innen der Filmbranche zu organisieren. Daran haben wir lange festgehalten, es letztendlich doch abgesagt, weil es mit den aktuellen Reisebestimmungen nicht realisierbar gewesen wäre. Darauf müssen wir bis nächstes Jahr warten. Und ich glaube, dass die Menschen langsam von den Online-Veranstaltungen genug haben und manchen FilmemacherInnen fällt es schwer, noch die Energie für virtuelle Q&As aufzubringen. Manche FilmemacherInnen sind auch enttäuscht, dass sie nicht reisen und nach Wien kommen können. Es wird Q&As geben, wo die FilmemacherInnen anwesend sind, einige werden online stattfinden und manche werden uns eine Videobotschaft schicken, es ist aber nicht für jedes Screening eine Form von Q&A vorgesehen. Die Reisebeschränkungen ändern sich täglich, die Viennale ist ein langes Festival und da werden wir uns noch auf einige kurzfristige Änderungen einstellen müssen.


Was hat die Umsetzung des Sicherheitsprotokolls für das Team und auch für das Publikum in der Praxis bedeutet?

EVA SANGIORGI:
  Wir hatten anfangs das Gefühl, vor einem riesigen Berg zu stehen. Wir können in den Kinosälen mehr oder weniger 50% belegen, wobei jeder Saal unterschiedlich ist und es auch zu verschiedenen Konfigurationen führt, je nachdem, ob Einzelsitze oder 2 Plätze nebeneinander gebucht werden. Das Festival ist drei Tage kürzer als sonst; die traditionellen Viennale-Kinos können wir ca. zur Hälfte belegen und dazu kommen die so genannten Circuit-Kinos – Votiv Kino, Le Studio, Blickle, Filmcasino und Admiralkino. Alles in allem werden wir etwas mehr als 50% des Vorjahresangebots an Tickets bereitstellen können. Ich bin zunächst von 100 Filmen ausgegangen, das war dann doch zu wenig und letztendlich sind es rund 120 Programme geworden. Wir hatten z.B. im Hauptprogramm 2019 135 Langfilme, dieses Jahr sind es 86, die Zahl der Screenings ist heuer trotz der geringeren Zahl an Filmen um 10% höher. Und der Vorverkauf ist im Vergleich zum Vorjahr besser angelaufen. Beim Gartenbaukino haben wir es so eingerichtet, dass es drei Eingänge und drei Ausgänge gibt, das Boxoffice haben wir nach draußen verlegt und überdacht, damit sich die Leute, falls es regnet, unter dem Dach anstellen können. Das Team mussten wir neu organisieren und auch mehr Leute engagieren, weil wir für jeden Kinosaal ein eigenes Team brauchen und niemand zwischen den Sälen wechseln darf. Und mit den Covid-Tests haben wir einen netten neuen Kostenfaktor entdeckt. Das Kernteam wurde in den letzten Wochen einmal wöchentlich, jetzt kurz vor Festivalbeginn sogar alle zwei Tage getestet.  


Was werden Sie dieses Jahr am meisten vermissen?

EVA SANGIORGI:
Ich denke, dazu gehören einige der sozialen Rituale, die zu einem Festival gehören: spontan am Anfang oder Ende eines Screenings vorbeischauen. Ich werde die Menschenmenge im Foyer des Gartenbaukinos vermissen. An der Bar kurz einen Kaffee trinken, mit Leuten reden, spontane Filmtipps geben. Es wird mir sicherlich etwas von der sozialen Wärme fehlen, aber ich bin vor allem sehr froh, dass es uns gelungen ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Festival stattfinden kann.


Die Viennale ist eines der vielen Festivals, die dieses Jahr ihren Auftrag und ihre Form überdenken mussten. Haben Sie das Gefühl, dass 2020 ein Schnitt sein wird, der sich sehr grundlegend auf die Zukunft der Filmfestivals auswirken wird?

EVA SANGIORGI:
In internationaler Hinsicht ganz gewiss. Da wird es eine Erneuerung  brauchen und ich fürchte auch, dass es für einige Festivals schmerzhaft sein wird. Ich mache mir z.B. Sorgen um FICUNAM in Mexiko, um Festivals in Ländern, wo die allgemeine Situation des Kulturbereichs fragiler ist, wo Arbeitsbedingungen und soziale Absicherungen nicht so geschützt sind wie hier. Aber es betrifft auch Festivals in Europa. Wir hatten einen regen Austausch mit San Sebastián, das wie die Viennale ein Festival ist, das von der Finanzierung her stark von den Zuschauereinnahmen abhängig ist und mit starken Restriktionen bei der Bespielung der Kinosäle konfrontiert war.  Da ist eine Online-Version keine Lösung. Wir sind Festivals, die physisch stattfinden müssen.


Interview: Karin Schiefer
Oktober 2020




«Was dieses Ausnahmejahr gebracht hat, war die Gelegenheit, Dinge zu riskieren und auszuprobieren. Die Viennale ist eine solide und dauerhafte Institution. Dieses Jahr hat alles verändert und die Veränderungen haben auch vor uns nicht Halt gemacht. »