INTERVIEW

«Er ist ein ziehender, lebendiger Musikant.»

Bernhard Pötscher hat sein Portrait des Akkordeonisten Otto Lechner bewusst DER MUSIKANT genannt. Er entfaltet darin die Facetten eines faszinierenden Musikers, der, ohne zu sehen, den Klangraum seines Instruments stets auf unkonventionelle Weise erweitert, für sein Publikum auf einzigartige Weise Text und Musik miteinander vereint und für sich die Topografie der Welt in Töne transformiert.
 
 
Über den österreichischen Komponisten und Musiker Otto Lechner, den Sie in DER MUSIKANT portraitieren, habe ich folgende Zeilen gefunden: ein österreichischer Akkordeonist, der dem Akkordeon ein völlig neues Image verleiht... bekannt für seine experimentellen, unvergleichlichen und manchmal verrückten Kompositionen. Inwiefern stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Wenn man Otto Lechner biografisch-musikalisch betrachtet, trifft das absolut zu. Er hat verschiedene Phasen vom Pianisten zum Akkordeonisten und umgekehrt durchlaufen, das Akkordeon wieder salonfähig gemacht und dessen verstaubtes und volksmusikalisches Image samt dem nationalen Touch, der ihm anhaftete, mit Bravour beendet. Das akademische Spiel hat er für sich nie in Anspruch nehmen können, da er ja keine Noten lesen kann. Als Vierjähriger hat er das Instrument in die Hand genommen und es im Laufe der Zeit in alle seine Möglichkeiten zerlegt. Bei meinem Film handelt es sich ja um keine Biografie, sondern es ging mir um die Vielfältigkeit seines Spiels, die sehr viel über sein Wesen erzählt.
 
 
Otto Lechner hat auch die Filmmusik zu Ihrem Film Bora (2019) gemacht. Wie lange reicht Ihre Verbindung zu seiner Musik zurück? Was haben Sie von ihm in der Auseinandersetzung mit dem Wind mitgenommen?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Das Akkordeon ist ja das Wind-Instrument schlechthin. Ich kenne niemanden, der vergleichbar so emotional und spontan musikalisch auf Dinge reagieren kann wie Otto. Ich kannte seine Musik und hab ihn dann einfach darauf angesprochen, ob er die Filmmusik machen würde. Ein Aspekt des Films Bora bestand darin, etwas sichtbar zu machen, was nicht sichtbar ist. Otto Lechner kann das.
 
 
Was bedeutet es für einen Filmemacher, einen nicht sehenden Menschen für ein visuelles Medium zu portraitieren? Welches Verhältnis zur Kamera haben Sie mit Ihrem Protagonisten entwickelt?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Das ist eine Fragestellung, der man sich von Anfang an stellen muss und die einen begleitet. Man merkt schnell, wie behindert man selbst ist durch das eigene Unwissen vom richtigen Umgang mit einer nicht sehenden Person. Ich habe mir selbst auferlegt, keine digitalen Hilfsmittel wie z.B. Stabilisierung in meiner Kameraarbeit zuzulassen, die mir das Gegenüber-Sein hätten vereinfachen können. Es ist ja nicht nur ein visuelles Thema, sondern auch ein Verantwortungsthema. Als Filmemacher ist man Voyeur und diesem Umstand muss man sich auch stellen. Es hat eine Weile gebraucht, bis Otto das Vertrauen gefasst hatte. Für mich war klar, dass im Film ausschließlich Otto über seine Form des Nicht-Sehens oder Sehens reden wird. Er hat seinen Umgang damit und das ist die Form, die ich akzeptieren musste. Mein Ziel war, dass man diesen Umstand vergisst und nur den Musiker vor sich hat.
 
 
Wie ist das Akkordeon zu seinem Instrument geworden?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Ich glaube mich richtig zu erinnern, dass er als Vierjähriger zunächst ein Kinder-Akkordeon in Händen hielt und dann hat er Klavier gelernt. Wobei man sich vor Augen halten muss, dass in einem kleinen Ort im Dunkelsteiner Wald in NÖ aufgewachsen ist und dort Klavier gelernt hat. Er kommt aus der Gegend, aus der auch Josef Hader oder Falco stammen. Und er hatte übrigens später eine blinde Akkordeonlehrerin. Als Volkschüler war er in der Blindenschule und hat dann durchgesetzt, in die normale Schule zu gehen und hat das Gymnasium in Melk absolviert. Ich glaube, die Idee Musiker zu werden, ist ziemlich früh entstanden. In seinem musikalischen Werdegang ist er sehr vielen Musikern treu geblieben und spielt schon seit Jahrzehnten mit ihnen. Er war auch im Film Accordeon Tribe (2003) von Stefan Schwietert bereits einer der Protagonisten.
 
 
Sie filmen immer wieder auch das Akkordeon als Objekt, ein sehr komplexes Instrument in seiner Architektur. Worin besteht für Sie die Einzigartigkeit dieses Instruments?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Es ist ein dreigeteiltes Instrument, links Bass, rechts Diskant und dazwischen sind Balge, die auf- bzw. ausgeblasen werden. Akkordeons sind sehr schöne und auch sehr unterschiedliche Objekte. Otto hat natürlich eine Sammlung, aber er spielt in erster Linie auf einem sehr einfachen Instrument. Grundsätzlich geht es darum, dass er es selber tragen muss, wenn er auf Reisen ist und es ist ein ziemlich schweres Instrument. Ich habe das Akkordeon nicht in seiner Ästhetik allein betrachtet. Da geht es vielmehr um ein Gesamtpaket: Es zählt ja auch die Haltung des Akkordeonspielers, um zwei ganz verschiedene Bewegungen und dann kommt dazu, dass Otto auch singt und den Rhythmus vorgibt. Bei ihm ist das Akkordeon nicht nur ein melodisches Instrument, sondern auch ein Rhythmusinstrument. Er nimmt es, zieht es auseinander und legt es auf seinen Knien ab … Es ist ein sehr spielerisches, musikalisches Erleben mit ihm.
 
 
In den Gesprächen bringt Otto Lechner die Idee ein, dass Musik auch geografische Orientierung sein kann. Hat seine Wahrnehmung der Welt auf Ihre Dramaturgie gewirkt und ein „neues“ Sehen geschaffen?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Ich bin ein Verfechter des Ansatzes, eher weniger zu drehen als wie ein Hamster alles einzusammeln. Ich glaube, dass das für die Konzentration sehr wichtig ist. Ich wollte niemals eine Biografie erzählen, mein Film ist vielmehr die Begleitung einer Person über einen bestimmten Zeitraum, in diesem Fall über ca. eineinhalb Jahre. Ottos Elternhaus stand als Drehort fest, da ich, wenn ich seinen Umgang mit Sehen und Nicht-Sehen entdecken will, in Räume musste, die ihm sehr vertraut waren. Oft waren wir nur zweit unterwegs, bei den meisten sehr privaten Szenen waren nur wir zwei. Es war toll zu erleben, wie er sein Elternhaus vorstellt, durchs Haus marschiert und darüber reflektiert, dass der Garten hinterm Haus keine Märchenwiese ist. Eine wesentliche Frage war die nach seinem musikalischen Werdegang. Man geht mit ihm spazieren und erfährt, dass er die Geografie als musikalische Orientierung nimmt, beginnend mit seinem Orgelspiel als Kind in der Kirche.
 
 
Wurde sein Talent bald wahrgenommen?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Nicht so sehr. Es ging eher darum, den blinden Buben zu beschäftigen, um es frech zu sagen.
 
 
Das heißt sein Werdegang als Musiker zeugt von sehr viel Selbstbehauptung?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Ja, ganz sicher. Ich glaube nicht, dass wir alles steuern. Da gehören auch Glück und Fügungen im richtigen Moment dazu. Es hat sich niemand in seinen Weg gestellt, es war aber auch nicht so, dass ihn jemand als Wunderkind wahrgenommen hätte.
 
 
Wie kam es, dass der Zug zu einem der wesentlichen Drehorte geworden ist.
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Das hat mit der Frage zu tun, wie sich ein blinder Mensch autonom bewegen kann. Er wohnt in Wien in der Nähe des Franz-Josefs-Bahnhof und in Gars am Kamp auch in der Nähe des Bahnhofs. Dazwischen kann er sich frei bewegen.
 
 
Als freien Musiker beschäftigen ihn auch existentielle und wirtschaftliche Fragen. Wie sehr bestimmen auch diese Überlegungen seine Projekte?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Diese Frage beantwortet er im Film, indem er sagt, man darf nur nicht nervös werden und aus Existenzangst Blödsinn machen. Wenn man Dinge macht, die man eigentlich nicht machen will, dann sinkt der Verkaufswert. Er hat da einen sehr pragmatischen Zugang und man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er seit eh und je Akkordeon spielt. Er hat seinen Vater, der ein Transportunternehmen hatte, im Lastwagen begleitet, wenn er in den Weinbergen die Erde entfernt hat. Um Geschäfte anzubahnen sind sie in den Wirthäusern gesessen und der Bub hat dort musiziert.
 
 
Man sieht Otto Lechner auf einem Kirchturm oder am Loire-Ufer in Frankreich spielen, auf einer Schaukel im Wald oder auf einem ratternden Traktor. Kann man sagen, dass er auch das Format, wo und wie Musik stattfinden kann, immer wieder erweitert?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Ich glaube, diese ungewöhnlichen Räume für Musik haben viel mit seiner Arbeit mit dem französischen Akkordeonisten Arnaud Méthivier zu tun. Räume zu entdecken ist für Otto schwieriger. Aber es ist erstaunlich, wie schnell er sich darauf einlässt. Wir haben bei einem Jazzfestival in Junas in Südfrankreich gedreht, wo die beiden innerhalb von vier Tagen drei Konzerte an ganz verschiedenen Plätzen gespielt haben. Das war emotional so mitreißend. Besonders die Draufgabe einen Tag später mit dem Konzert am Loire-Ufer. An diesen Tagen habe ich ganz tolle Konzerte erlebt und auch aufgenommen.
 
 
Wohin haben Sie ihn noch begleitet?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Das meiste haben wir in Österreich gedreht, da allerdings ganz unterschiedliche Dinge. Ich wollte einfach eine bestimmte musikalische Dramaturgie und Entwicklung in der Erzählung haben. Die Lieder und Texte sind ja auch Teil von ihm und erzählen sein Leben. Ich habe unterschiedlichste Konzerte gebraucht, um all diese Facetten zu bekommen. Das Konzert an der Loire bildet im Film einen emotionalen Höhepunkt. Die Form und die Länge des Ausspielens ist für mich eine Notwendigkeit, die zeigt, dass es Respekt vor dieser Art des Musik-Machens braucht. Es geht eben nicht darum, dass man sich ein paar Zuckerl aussucht, sondern dass man Stücke in ihrer Entwicklung kennenlernt, laut und leise hört, die Bögen mitbekommt.
 
 
Ein wesentliches Element seiner Bühnenprogramme besteht auch im Zusammenwirken von Literatur und Text, aber auch Songs, für die er auch getextet hat. Welche Rolle spielt der (literarische) Text in seiner musikalischen Arbeit.
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Franz Kafka ist in seiner literarischen Prägung sicherlich das Leitmotiv. Im Film erzählt er, dass ihm Josef Hader zwei mit Kafka-Texten besprochene Kassetten zu seinem 20. Geburtstag geschenkt hat. Damals hat es weder Hörbücher noch Internet gegeben, um sich als nicht sehender Mensch Literatur aneignen zu können. Durch seine Behinderung hat Otto Lechner einen ganz anderen Zugang zu Kafka. Er hat ihn ganz anders begriffen. Und das ist ein wichtiger Teil seines Lebens geworden. Bis heute. Otto ist mittlerweile ein unheimlich belesener Mensch, besucht Vorlesungen und nutzt die Möglichkeiten, die das Internet bietet. Seine Beziehung zur Literatur ist eine Lebensgeschichte. Er macht Literatur zu Musik.
 
 
Es gibt im Film mehrere besonders lange Einstellungen von Konzerten. Warum haben Sie sich für diese Dauer entschieden? Hat das Komprimieren und Auseinanderziehen der Ziehharmonika im Rhythmus, im „Atem“ des Films eine Rolle gespielt?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Ich habe nicht den Eindruck, dass ich durch die langen Einstellungen Langsamkeit erzeuge. Für mich hat sich durch diesen Film die Chance geboten, etwas zu beobachten und zu erfassen. Das ist eine Fähigkeit, die weitgehend verloren gegangen ist. Es steht für Respekt meinerseits gegenüber dem Menschen, der seine Kunst darbietet. Ich kann ihn beobachten, gleichzeitig ist es auch eine filmische Erzählung. Man sieht ihn in der ersten Sequenz in einem weißen Anzug vor einer schwarzen „Wand“, das Publikum ist nicht sichtbar, am Schluss sitzt er ebenfalls im weißen Anzug dem nun sichtbaren Publikum gegenüber. Der Film erzählt in einer vielleicht etwas naiven Form der Übersetzung, vom Sehen und Gesehen-Werden als einem zentralen Thema. Auch bei Gesprächen versuche ich, sie nicht zu schneiden, sondern lasse Gedankengänge ausformulieren, denn oft stellt sich heraus, dass erste Absichten zu zweiten, ganz anderen Ergebnissen führen. Mir geht es darum, dass man zuhören lernt und begreift. Rhythmus und Schnitt haben aus meiner Sicht weniger mit Tempowechsel zu tun, sondern das ist etwas, das sich aus der Musik ergibt, die übrigens Paul Sedlacek geschnitten hat. Es war also auch ein anderer Geist dabei.
 
 
Was Sie wiederholt in Ihren Filmen beschäftigt, ist die Frage etwas Nicht-Sichtbares filmisch zur erfassen.
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Das Sehen wie auch das Zeigen von Sehen beschäftigen mich praktisch ein Leben lang. Ich glaube, eine Bildästhetik gefunden zu haben, die kohärent ist und die mir ermöglicht, ohne große Anstrengung etwas zu erzählen. Und ich forsche weiter.
 
 
Was hat Sie bewogen, den Titel DER MUSIKANT zu wählen?
 
BERNHARD PÖTSCHER:
Es heißt eben nicht Der Musiker, sondern DER MUSIKANT, ein Begriff, der viel stärker aus dem Ländlichen kommt und auf eine viel freiere, nicht akademische Form des Musik-Machens verweist. Ein bisschen schwingt da auch das Verrufene der ziehenden Musikanten mit. Bei Otto gibt es nichts Verrufenes, aber er ist ein ziehender, lebendiger Musikant.


Interview: Karin Schiefer
Juni 2025



«Ich kenne niemanden, der vergleichbar so emotional und spontan musikalisch auf Dinge reagieren kann.»