Wenn sie arbeitet, tut Mira das in den Weinbergen ihrer Familie. Wenn sie frei hat, dann gehört ihre Zeit dem Eishockeysport,
für den sie intensiv trainiert und sich als Kapitänin ihres Teams voll einsetzt. Mira, die Protagonistin von Wenn wir die Regeln brechen, ist eine eigenwillige junge Frau, die wie am Eis zwischen ihren Welten gleitet, sich verliert und wiederfindet. Clara Sterns
Spielfilmdebüt wurde im Frühling 2021 abgedreht.
Wenn wir die Regeln brechen ist Clara Sterns Debütfilm. Wie sind Sie auf die Filmemacherin und ihr Projekt aufmerksam geworden?
WOLFGANG WIDERHOFER: Clara Stern hat einen bemerkenswerten Kurzfilm gemacht – Mathias. Wir kannten Clara schon sehr lange, da sie schon als Studierende
bei uns mitgearbeitet hat, beim Kinofilm Anfang 80. Als Clara 2017 den Carl Mayer-Preis gewonnen hat, war der Moment da, wo
wir ins Gespräch gekommen sind.
MICHAEL KITZBERGER: Was uns an Mathias gefällt, ist eine Handschrift und eine Art und Weise, mit Figuren umzugehen, die von großem Interesse und
Respekt geprägt ist. Ein Umgang, der von der Figur nicht Besitz ergreifen will, sondern in einer beobachtenden Distanz bleibt
und dabei dennoch die Zuseher*innen sehr stark involviert. Das ist eine Qualität, die Clara auszeichnet und die beim aktuellen
Projekt sehr deutlich wird.
WOLFGANG WIDERHOFER: Es geht in Wenn wir die Regeln brechen um Themen, die eine große Sensibilität und Genauigkeit erfordern. Und das sind Stärken von Claras Erzählen, da sie unaufhörlich
an ihrem Buch feilt, bis die Figuren eine große Tiefe erreichen.
Begann ausgehend vom ausgezeichneten Konzept mit dem damaligen Titel Training bereits eine starke dramaturgische Zusammenarbeit
beim Drehbuch?
WOLFGANG WIDERHOFER: Die Geschichte hat viele Ebenen und Handlungsstränge, es gibt viele Beziehungen und Beziehungskonstellationen und auch ein
Ereignis in der Vergangenheit, das eine starke Wirkung auf die Charaktere hat. Das Tolle an der Zusammenarbeit mit Clara ist,
dass sie als professionelle Autorin in der Lage ist, mit jeglichem Feedback produktiv umzugehen.
MICHAEL KITZBERGER: Clara bleibt dabei immer am emotionalen Grundkern der Geschichte, an dem sich ihre Arbeit orientiert. Viele Motive von Training
sind gleichgeblieben, auch wenn sich die Geschichte rundherum sehr stark verändert hat. Sie hat immer präziser das Essentielle
herausgearbeitet, was auch dazu geführt hat, dass die Geschichte am Ende sehr dicht – und für den Dreh eine große Herausforderung
war.
Mira, die Hauptfigur von Wenn wir die Regeln brechen, ist genderfluid. Es geht im Film nicht nur um das Brechen von Regeln, sondern im weiteren Sinn auch um das Aufbrechen von
einem (binären) Denkmuster. Hat das für Sie in der Arbeit Zugänge oder Sichtweisen verändert?
WOLFGANG WIDERHOFER: In der gemeinsamen dramaturgischen Arbeit geht es meist darum, dass man sich mit Figuren im Zustand starker Verunsicherung
beschäftigt. Das ist etwas Universelles, das auf die meisten Erzählungen zutrifft. Jedoch die besondere Art der Verunsicherung
und die Lösung oder Entwicklung innerhalb dieser Verunsicherung, das macht dann wieder jede Erzählung ganz einzigartig. Und
natürlich hat hier das drängende Naturell der Hauptfigur Mira, die in vielfacher Hinsicht zwischen den Welten lebt‘, der
Erzählung Dimensionen und Richtungen gegeben, die unvorhersehbar und für mich neu waren. Ich will nicht zuviel verraten, aber
Clara hat zu diesem Themenkomplex wunderschöne erzählerische Momente geschaffen. Dazu kommt für mich persönlich, dass Fragen
nach der Geschlechtszugehörigkeit – ähnlich etwa wie Fragen nach Hautfarbe oder sozialer Gerechtigkeit – immer Anlass sind,
die eigenen Privilegien und Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
MICHAEL KITZBERGER: Da kommt auch ein intergenerationeller Aspekt ins Spiel. Clara gehört einer jüngeren Generation an Filmemacher*innen an,
als wir beide es sind. Und die Themen der jungen Filmemacher*innen sind andere als die Themen in unseren jüngeren Jahren.
Das ist für uns herausfordernd und inspirierend – dazu gibt es aber eine Grundhaltung von uns und unserer Firma, die es ermöglicht,
diesen Raum zu öffnen. Es braucht eine Klarheit darüber, dass diese Themen für die Gesellschaft wichtig sind.
Ein zentrales Motiv ist der Umstand, dass Mira Eishockey als Leistungssport betreibt, was gewiss aus einer produktionstechnischen
Sicht von der Location, über das Casting bis zur Choreografie der Spielszenen eine komplexe Herausforderung dargestellt haben
muss.
MICHAEL KITZBERGER: Claras Konsequenz und Hartnäckigkeit, dieser Idee nachzugehen, war bemerkens- und bewundernswert. Sie hat in Christian und
Sandra Klepp, unseren beiden Eishockey-Coaches, Verbündete gefunden, die eines der besten österreichischen Dameneishockeyteams,
die Vienna Sabres, betreuen. Sie haben unsere beiden Hauptdarstellerinnen, Alina Schaller und Judith Altenberger, unter ihre
Fittiche genommen und mit ihnen bis zum Dreh im Frühling 2021 trainiert. Eine weitere Herausforderung war, 30 Eishockeyspielerinnen
(Miras Team und gegnerische Teams) zu besetzen. Clara hat gemeinsam mit Lisa Oláh bei den Vienna Sabres, dem österreichischen
Nationalteam und anderen Vereinen gecastet. Es war eine besondere Leistung, unter den Eishockeyspielerinnen auch potentielle
Schauspielerinnen zu finden, da es im Team ja auch Sprechrollen gibt. Und all das sehr schnell, da die Finanzierung lange
offen war. Gleichzeitig musste unbedingt zu Ende der Eishockey-Saison im April gedreht werden, weil es die einzige Möglichkeit
im Jahr ist, eine Eishalle über mehrere Tage hinweg für einen Filmdreh anzumieten. In dieser kurzen Zeitspanne hat Clara mit
Lisa die Spielerinnen gefunden, mit den Eishockey-Coaches Choreografien für bestimmte Spielszenen erarbeitet und gemeinsam
mit ihrem kongenialen Kameramann Johannes Hoss in Einstellungen aufgelöst, und diese wurden dann mit den neu formierten Teams
trainiert.
Wo gab es in Wien die Möglichkeit, die Szenen auf dem Eis zu drehen?
MICHAEL KITZBERGER: Es gibt in Wien nur eine große Eishalle, die Albert-Schulz-Halle bzw. Erste Bank Arena in Kagran, wo nur die Trainingshalle
das ganze Jahre beeist wird, die beiden Zuschauerhallen aber aus Kostengründen zu Saisonschluss abgetaut werden. Während der
Saison ist dort ständiger Betrieb und entsprechender Lärm. Daher waren die Dreharbeiten nur nach Saisonende möglich, wenn
alle Teams mal für kurze Zeit Pause machen. Dieses Ende hängt aber immer davon ab, wie weit die Vienna Capitals als Hausherren
der Halle in der laufenden Saison kommen – was die Drehplanung sehr spannend gestaltet hat
Am Ende ist sich alles gut ausgegangen.
Der Film ist auch über die Eishockeyszenen hinaus sehr stark von Bewegung bestimmt. Wie wurde in dieser Hinsicht die Kameraarbeit
gelöst?
WOLFGANG WIDERHOFER: Da müssten wir jetzt Regie und Kamera befragen. Aber ganz kurz: Gedreht wurde in Cinemascope, um auch der Weite der Landschaft
und den Emotionen gerecht zu werden. Eine große Qualität dieses Films sind seine dynamischen Wechsel von sozialen Welten,
von Farben, von Hell und Dunkel, alles getragen von Dynamik und Kontrast. Allein was die Kameraarbeit betrifft, entsteht gerade
ein wunderschön komponierter Film, montiert von Matthias Writze, mit dem Clara auch schon bei Mathias zusammengearbeitet hat.
Wie erschwerend war Konstellation Debütfilm und Produktionsbedingungen in einer (Post-) Corona-Phase?
MICHAEL KITZBERGER: Die Corona-Drehauflagen (regelmäßige PCR-Tests, Masken, Hygienemaßnahmen) haben Team und Darsteller*innen sehr diszipliniert
mitgetragen, und wir hatten auch keinen positiven Fall in der Drehzeit. Es gibt eine andere Dynamik, die ich für Debütfilme
(aber nicht nur für diese) als sehr herausfordernd empfinde, und die in der Corona-Zeit besonders deutlich geworden ist, auch
weil Teams aufgrund des vielen Contents, der zur Zeit produziert wird, sehr stark nachgefragt sind; und es ist marktwirtschaftlich
nachvollziehbar, dass sie dort zusagen, wo mehr bzw. länger (wie bei einer Serie) zu verdienen ist. Man muss als Debütant*in
unter den ganz normalen kollektivvertraglichen Rahmenbedingungen arbeiten und unser Budget war für das konkrete Buch zwar
sehr eng, aber trotzdem ist es bei über 2 Mio Euro gelegen – wodurch ein großer Druck auf eine Regisseur*in entsteht, die
die Chance hat, ihren ersten Film zu machen, der unter den schwierigen Rahmenbedingungen gelingen muss. Denn dieses Gelingen
entscheidet wieder über den nächsten Film. Da eine nicht-selbstausbeuterische Lösung zu finden, um für Debütfilme eine Entspannung
zu schaffen, so wie das Werkstattprojekt einmal gedacht war, wäre wunderbar. Denn Debüt- und künstlerische Filme sorgen für
Innovation, für das Entdecken von neuen Talenten, neuen Gesichtern – all das, was am Ende ja auch den Streamern und dem Fernsehen
zugutekommt. In unserem Fall gibt es etwa mit Alina Schaller, Judith Altenberger und Tobias Resch gleich drei neue‘ Gesichter
in Hauptrollen zu entdecken – für alle drei wird es eine große Chance sein, und umgekehrt werden sie die Filmwelt bereichern.
Mit welchen Themen in Wenn wir die Regeln brechen hoffen Sie, Ihr Publikum zu bewegen und zu treffen?
WOLFGANG WIDERHOFER: Der Film ist sehr emotional erzählt, für die Figur steht viel am Spiel. Die individuellen Probleme und Kämpfe der Hauptfigur
Mira übertragen sich ja auf die Art des möglichen Zusammenlebens als Gemeinschaft, als Gesellschaft. Und das ist wohl eine
der großen Fragen der kommenden Jahre, auch nach den Verwerfungen durch Corona. Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben? Wenn wir die Regeln brechen tritt hier klar für Toleranz, Offenheit, Angstfreiheit und Mut zur Lebendigkeit ein. Vielleicht erreicht das den einen oder
die andere. Wie es jedoch generell mit dem Kinobetrieb nach Corona weitergehen wird, noch dazu, wenn jetzt so viele Filme
gleichzeitig auf den Markt drängen? Das alles sind Fragen, wo ich mir sehr schwer tue, etwas bezüglich Publikum zu prognostizieren.
Wir wünschen uns jedenfalls, dass dieser Film auch ein breiteres Publikum finden wird.
MICHAEL KITZBERGER: Wir wollen Filme so produzieren und erzählen, dass sie eine lange Wirkmächtigkeit haben und dass man sie auch ein paar Jahre
später neu entdecken kann. Es geht uns auch nicht in erster Linie darum, einen Nerv der Zeit zu treffen oder einen kurzfristigen
Erfolg zu erzielen, sondern darum, etwas Universelles zu erzählen. Geschichten, die hier, aber auch woanders funktionieren.
Sie sollen Menschen so bewegen, dass sie anfangen, nachzudenken, Fragen zu stellen. Und das ist nicht unbedingt mit Quantität
zu messen, sondern eine Sache von individueller Qualität. Die Buntheit der unterschiedlichen Welten und das Physische in Wenn wir die Regeln brechen wird sehr viele Menschen bewegen. Diese Ambivalenz steckt drinnen: Drama und Lebensfreude. Und ich glaube, dass es gerade
nach dieser Corona-Einöde etwas ist, was sehr zum Leben hin öffnet und Freude machen wird, es im Kino gemeinsam anzuschauen.
Interview: Karin Schiefer
Mai 2021