INTERVIEW

«Wenn man sich in die Situation einer Frau dort versetzt, wird es schwieriger zu werten.»

Es ist ein dünner Grat zwischen immenser Schuldenlast und prekärem Aufenthaltsstatus, auf dem nigerianische Frauen, die als Sexarbeiterinnen in Wien landen, versuchen, sich einen Weg in die Freiheit zu bahnen. Der Absturz ist allgegenwärtig. Manchen gelingt der Schritt aus der Abhängigkeit und ihnen bleibt eine Wahl: als Zuhälterin den Spieß umzudrehen. Sudabeh Mortezai dreht gerade ihren zweiten Spielfilm JOY, der ein gnadenloses Ausbeutungssystem vor Augen führt, das es dem Publikum schwermacht, eine klare moralische Position gegenüber Opfern und Tätern einzunehmen.
 
 
Es ist nach Macondo davon auszugehen, dass Ihr neuer Film wieder sehr stark vom Realen inspiriert ist. War es einmal mehr ein real existierender Ort – ein Straßenstrich am Stadtrand von Wien – der Sie zu Ihrer neuen filmischen Erzählung inspiriert hat oder ging es Ihnen grundsätzlich um das Thema Menschenhandel?
 
SUDABEH MORTEZAI: Es hat dieses Mal nicht mit einem Ort angefangen, es haben da mehrere Faktoren zusammengespielt. Der Anstoß geht gewiss auf Macondo zurück, da wir in diesem Film Statisten aus Nigeria hatten. Als ich die Festivalarbeit für Macondo abgeschlossen hatte und langsam begann, mir Gedanken zu einem neuen Projekt zu machen, kamen das Thema Nigerianer in Wien wieder auf. Wenn man da zu recherchieren beginnt, kommt man sehr schnell auf das Thema Frauenhandel. Es gibt ein hochinteressantes, sehr gut recherchiertes Buch von Mary Kreutzer und Corinna Milborn – Ware Frau – , das schon 2008 erschienen ist und profund Einblick in das System der Zwangsprostitution gibt. Dieses Buch hat mich dann völlig in dieses Thema hineingezogen. Es ist eine so arge Welt, man weiß so wenig darüber, hat aber sehr schnell Urteile parat. Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Wer ist gut? Wer ist böse? Je mehr man sich damit beschäftigt, umso  stärker wird einem bewusst, wie schwierig es ist, auf diese Fragen Antworten zu finden.
 
 
Haben Sie über das Einlesen hinaus auch viele Gespräche mit betroffenen Frauen geführt?
 
SUDABEH MORTEZAI: In einem zweiten Schritt ja. Es begann mit intensiver Lektüre und Internet-Recherche. Es sind auch eine ganze Reihe an Büchern zu diesem Thema erschienen. In Europa ist der Hauptumschlagplatz des Frauenhandels mit Nigeria in Italien. Ich habe in der Recherche auch die Bücher von Isoke Aikpitanyi gelesen, die selbst Opfer des Menschenhandels war und in Italien eine NGO gegründet hat, um anderen Frauen zu helfen.  Ich suchte also einerseits einen theoretischen Zugang und versuchte andererseits in einer frühen Phase mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Interessanterweise stellte sich beim Casting, zu dem sich sehr viele nigerianische Frauen gemeldet haben heraus, dass das Thema Frauenhandel und Prostitution in Nigeria gar nicht so tabuisiert ist. Fast jede der Frauen hat darüber sehr offen geredet, ob sie nun betroffen waren oder nicht. Letztlich ist durch die Inhalte der Casting-Gespräche sehr viel Realität in den Film eingeflossen.
 
 
Sie schreiben eher offene Drehbücher. In welcher Arbeitsphase beginnt das Zusammenwirken zwischen Regie und Produktion?
 
OLIVER NEUMANN: Über das Thema haben wir uns in einer ganz frühen Phase unterhalten. Die Geschichtsfindung ist aber dann Sudabehs Sache und ab einer ersten Treatment-Fassung beginnt dann ein Austausch. Wir waren auch gemeinsam auf Recherchereise in Nigeria.
 
SUDABEH MORTEZAI: Oliver und ich haben schon sehr viel gemeinsam gearbeitet, da ist längst eine Freundschaft und ein großes Vertrauensverhältnis entstanden. Wenn in einer frühen Entwicklungsphase das Projekt noch so ungreifbar ist und ich das noch nicht mit anderen Leuten teilen möchte, weil es noch ganz schwierig ist, es in Worte zu fassen, was es werden soll, dann tausche ich mich mit Oliver darüber aus. Da braucht es eine Offenheit, ohne dass das Projekt zu schnell konkret werden muss. Ich finde es wichtig, dass eine Idee nicht zu schnell in eine Bahn gegossen wird, sondern Zeit hat, sich zu entwickeln. Ich denke alleine an unsere Recherchereise nach Nigeria. Wenn wir die nicht gemacht hätten, hätte der Film nie diese Form angenommen. Solche Ideen brauchen Zeit.
 
OLIVER NEUMANN: Ich bin Dramaturg in der Drehbuchentwicklung und ich schneide die Filme auch. Wir haben bei Macondo die Erfahrung gemacht, dass bei Drehbuch-Workshops Dramaturgen etwas im Stoff sehen und aufgreifen wollen. Das kann zu einem frühen Zeitpunkt dann aber auch gegen die Intention gehen, da muss man behutsam sein..
 
 
Wohin genau hat Euch diese Recherchereise geführt?
 
OLIVER NEUMANN: Man muss vorausschicken, dass der Film einen Auftakt und einen Schlussklang in Nigeria haben wird. Der Rest des Films spielt ausschließlich in Wien.
 
SUDABEH MORTEZAI: Es ging bei dieser Reise also viel weniger darum, Drehorte zu finden, als viel mehr darum, die Welt der Frauen zu verstehen und auch den Umstand, wie alltäglich Frauenhandel in Benin-City ist, wo ein Großteil der Frauen herkommt. Wir reden von ganz konkreten Regionen im Süden Nigerias, weniger Lagos, sondern es sind die Bundesstaaten Edo-State und Delta State, wo Frauenhandel nicht nur Alltag, sondern mit den Heimkehrerinnen und den Frauen, die aus Europa Geld nach Hause schicken, ein enormer Wirtschaftsfaktor ist. Die erste Generation von Frauen, die nach Europa gehandelt wurde, vor wohl zwanzig, dreißig Jahren, die glaubte vielleicht wirklich, dass sie nach Europa kommen würden, um als Friseurin oder Kindermädchen zu arbeiten und dann getrickst wurden. Wenn man heute in Benin-City das Thema anspricht, weiß jeder, warum Frauen nach Europa gehen. Die Frauen lassen sich darauf ein, weil es keine anderen Perspektiven gibt und sich eine richtige Industrie entwickelt hat. Man begegnet in Benin-City jenen, die es geschafft haben und jenen, die es auch schaffen wollen. Diese Konfrontation hat mir den Blick geschärft für die Tatsache, wie einfach es für jemanden aus einer privilegierten, europäischen Perspektive ist, eine moralische Position zu dem Thema einzunehmen. Wenn man sich in die Situation einer Frau dort versetzt, wird es schwieriger zu werten.
 
 
Wie stehen die Heimkehrerinnen der jungen Frauengeneration gegenüber. Gibt es etwas wie einen Schutzgedanken?
 
SUDABEH MORTEZAI: Nein. Es ist ein Kreislauf, der sich ständig weiterdreht.
Wir haben zum Beispiel eine Frau kennengelernt, die nach Italien geschickt worden war und in mehreren Jahren in Europa viel Geld verdient und beinahe ihre gesamten Schulden abgearbeitet hatte. Als sie letztlich von den italienischen Behörden nach Nigeria abgeschoben wurde, hat sie ihre Familie als Versagerin verstoßen, weil sie mit leeren Händen zurückkam. Wir in Europa sind sehr schnell empört. Die „Madames“, die Zuhälterinnen oder Ausbeuterinnen, sind selbst ehemalige Prostituierte, die, sobald sie abbezahlt haben, den Spieß umgedreht haben und jetzt ihr eigenes Business führen. Die spontane Reaktion aus einer privilegierten westlichen Position heraus, ist immer die Frage, wie es sein kann, dass eine Frau, die selbst diese Erfahrungen gemacht hat, zur Täterin wird. Wenn man sich das System anschaut, ist es die einzige Möglichkeit. Sie hat aus ihrer Sicht so viel Leid ertragen müssen, dass sie sich sagt: „Jetzt bin ich dran.“
 
 
Sind weibliche Zuhälterinnen eher eine Randerscheinung in diesem System?
 
SUDABEH MORTEZAI: Nein, es ist die Norm.
 
OLIVER NEUMANN: Es war, als du zum ersten Mal über die Idee zu JOY gesprochen hast, ein Grundimpuls ... dass es einen Kreislauf der Ausbeutung gibt.
 
SUDABEH MORTEZAI: Ja, genau diese fließenden Grenzen zwischen Opfer und Täter haben mich interessiert. Ich habe ja zunächst auch mit dieser Empörung reagiert. Und es ist auch noch etwas übrig davon. Wir kennen das System „Zuhälter zwingt auch mit körperlicher Gewalt eine Frau zur Sexarbeit“. Dass die Grenzen aber fließend sein können und eine Frau, die jahrelang in der Opfersituation ist, sobald sie es schafft, auf die andere Seite wechselt, ist eine andere, spannende Situation, mit der ich mich näher auseinandersetzen wollte. Es bleibt dieselbe Frau, aber was passiert da? Joy, meine Protagonistin, die eine sehr ambivalente Figur ist, macht eine starke Entwicklung durch und das Publikum mit ihr. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist, dass man durch das empathische Miterleben ihrer Geschichte, sich diesem moralischen Dilemma stellen muss. Man kann es anhand ihrer Geschichte begreifen. Warum wird ein Opfer zur Täterin und warum kann innerhalb des System beides existieren. Ein System, das ungerecht ist und aus dem es kein Entkommen gibt, lässt ihr keine Wahl.
 
 
Es geht letztendlich um ein riesiges System der Ausbeutung?
 
SUDABEH MORTEZAI: Es geht im Vordergrund um Nigerianerinnen in Wien, aber nicht nur um das.  Ausbeutungssysteme funktionieren immer ähnlich, machen jeden zum Komplizen, daher steht dieses System auch für andere. 
 
 
Das Echo auf den Casting-Aufruf scheint groß gewesen zu sein? Wie ist es verlaufen?
 
SUDABEH MORTEZAI: Wir haben viele Frauen und nur wenige Männer gesucht. Zu Beginn haben wir uns alle Kandidatinnen angeschaut, auch, um in diese Welt einzutauchen und die Kultur zu verstehen. Der Castingprozess liegt mir besonders am Herzen, weil ich dabei so unheimlich viel lerne. Wir haben im Casting-Flyer nur sehr wenig angedeutet: „Joy erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Nigeria, die in Wien ums Überleben kämpft.“ Ich war sehr neugierig, welche Reaktionen kommen würden. Eine meiner ersten Fragen war, „How do you feel about this subject?“ Viele der Frauen sagten spontan, „Das ist ja meine Geschichte“ und begannen sofort zu erzählen. Bei anderen spürte man, dass sie sich schützen wollten und lieber die Geschichte einer Freundin vorschoben. Meine Prämisse war von Beginn an, dass einzelne Elemente verschiedenster Erzählungen in meine Figuren einfließen würden, niemals hätte ich ein Einzelschicksal 1:1 übernommen. Die nigerianische Community in Wien ist recht groß. Viele nigerianische Frauen haben wir über nigerianische Kirchen (vor allem Pfingstkirchen) entdeckt, da die sonntäglichen Messen eine sehr wichtige soziale Rolle spielen;  andere kamen über Straßencastings in Lebensmittelgeschäften, bei diversen Festen etc. zu uns. Am Anfang verspürte ich etwas wie Skepsis. Mit der Zeit hat sich aber das Projekt in der Community  herumgesprochen und mehr und mehr Leute wollten dann zum Casting kommen.
 
 
Wie hat sich dann in der großen Zahl der Kandidatinnen die Darstellerin der Joy herauskristallisiert?
 
SUDABEH MORTEZAI: Ja, das war ein klarer Fall von „Sie kam rein und ...“ Eva Roth und ich schauten und grinsten uns an. Allein ihr Auftritt gefiel uns schon. Sie hat ein tolles Filmgesicht und sie kann sehr nuanciert Gefühle spielen. Bei ihr verbinden sich Präsenz und eine Tiefe des Spiels. Mit Joy habe ich wie schon in Macondo eine ganz zentrale Figur im Film – so, dass keine Szene ohne sie stattfindet. Und sie heißt tatsächlich Joy – ein schöner Zufall. Für mich ist das ein Name, der zuallererst natürlich die Freude, auch Lebensfreude evoziert, aber auch den christlich-religiösen Kontext. Ich finde es schöner, wenn man mit den realen Namen der Leute umgehen kann. Joy ist ein ganz alltäglicher Name in Nigeria. Wir haben viele sprechende Namen unter unseren Darstellerinnen – Faith, Gift, Blessing ... Neben Joy gibt es noch zwei weitere wichtige Rollen – Precious, ein 17-jähriges Mädchen, die im Film gerade erst in Wien landet und dann gibt es eine Madame, für die die Frauen, die alle in einer WG leben, arbeiten.
 
 
Sind auch Team und Arbeitsweise wieder mit dem von Macondo vergleichbar?
 
SUDABEH MORTEZAI: Das Team, das wieder sehr klein ist, ist dem von Macondo sehr ähnlich. Etwas hat sich im Bezug zu Macondo geändert: wir brauchen diesmal sehr viel Licht, da oft in der Nacht gedreht wird.
 
OLIVER NEUMANN: Wie in Macondo wird auch JOY chronologisch gedreht und die DarstellerInnen bekommen nie das komplette Drehbuch, sondern nur den Inhalt des jeweiligen Tages. Bei Macondo konnte man gegebenenfalls auf eine genauer geschriebene Fassung zurückgreifen, in JOY hingegen wird noch stärker improvisiert. Ich denke da im Besonderen an die Szenen in der WG.
 
SUDABEH MORTEZAI: JOY lebt noch viel stärker von der Improvisation. Im Drehbuch ist kaum ein Dialog ausgeschrieben. Mit den Frauen macht es großen Spaß zu arbeiten, weil sie so eine enorme Spielfreude an den Tag legen. Jede nimmt ihre Rolle ein und wenn man ihnen eine Situation vorgibt, befüllen sie diese mit unglaublichen Geschenken. Es gibt ruhigere und dann wieder dialogstarke Momente. Wenn man es mit Macondo vergleicht, dann gibt es weniger, dafür aber längere Szenen, von denen ich hoffe, dass die geplante Länge auch mit der entsprechenden Intensität einhergeht. Das Drehbuch ist eher ein dramaturgisches Grundgerüst. Wenn ich mir nicht sehr früh gute Gedanken über eine Gesamtdramaturgie machen würde, würde es sich beim Dreh nicht von alleine herauskristallisieren. Was die Details betrifft, ist es mir lieber, man entdeckt sie im Prozess und lässt es geschehen.
 
 
OLIVER NEUMANN: Durch das chronologische Drehen beziehen sich die Darstellerinnen auf das, was sie am Vortag erlebt haben und nehmen diese Erlebnisse von sich aus in den neuen Drehtag mit.
 
SUDABEH MORTEZAI: Oliver schaut sich das Material sehr schnell an und gibt mir sehr rasch Feedback. Das heißt, wenn es etwas gibt, auf das ich noch sehr rasch reagieren muss, dann tu ich das auch. Das ist das Tolle an dieser Methode.
 
OLIVER NEUMANN: Wir haben bereits zwei von vier Drehblöcken gedreht und nun können wir für die hinteren Blöcke sehr gut sehen, wohin das Material der ersten Blöcke auf die noch nicht gedrehten Blöcke ausstrahlt und wo es noch Ausarbeitungen braucht.
 
SUDABEH MORTEZAI: Das ist ein ungewöhnlicher Luxus. Man braucht immer wieder Distanz zu dem, was man gedreht hat. Dafür ist in einem kontinuierlichen Dreh weder Zeit noch Energie, sich damit zu befassen. Wir haben jetzt die erste Hälfte grob geschnitten, man versteht, wie die Szenen funktionieren und wohin sie strahlen. Für den bevorstehenden dritten Drehblock habe ich nun einiges umgeschrieben oder zumindest umgedacht.
 
 
Wann entstanden die ersten Drehblöcke?
 
SUDABEH MORTEZAI: Wir haben im letzten August zu drehen begonnen, haben Ende September/Anfang Oktober fortgesetzt und jetzt Ende November beginnen wir den dritten Block.
 
OLIVER NEUMANN: In diesem Block gibt es eine Besonderheit: es wird eine Szene geben, die während eines Krampuslaufs spielt, und wir wissen, dass es schwer wird etwas zu wiederholen. An denn Tagen werden wir jeden Abend schneiden, um sofort zu überprüfen, ob wir noch weiteres Material benötigen.
 
 
Wo werdet ihr diese Szenen drehen?
 
SUDABEH MORTEZAI: Dafür haben wir sehr viel überlegt und recherchiert, damit es möglichst authentisch und dokumentarisch, aber dennoch inszeniert ist. Wir werden in Bad Gastein drehen, wo das Brauchtum sehr ernst genommen wird und diese Läufe eine lange Tradition haben. Die lassen sich natürlich nicht viel von mir sagen und ändern ihren Krampuslauf nicht, weil eine Regisseurin da ist. Wir waren aber schon zwei Mal dort und haben Gespräche mit den Krampusgruppen geführt. Sie kennen uns, aber gewisse Dinge müssen organisch passieren. Diese Momente, wo ein Risiko dabei ist, wo Ängste dabei sind, die sind für mich das Aufregendste. Wenn ich eine ganz präzise Vorstellung von einer Szene habe und dann klappt es beim Dreh auch genauso, dann bin ich natürlich sehr zufrieden. So viel Spaß, wie sich auf etwas mit völlig ungewissem Ausgang einzulassen, macht es aber nicht.


Interview: Karin Schiefer
November 2017
«Mein Wunsch und meine Hoffnung ist, dass man durch das empathische Miterleben ihrer Geschichte, sich diesem moralischen Dilemma stellen muss.»