INTERVIEW

«Ich misstraue den stringenten, allwissenden Erzählungen.»

Das Besondere an diesem Film sind seine unzähligen Nuancen und Zwischentöne, die sich in die verschiedensten Richtungen entwickeln könnten. Andrina Mračnikar über ihr Spielfilmdebüt Ma Folie.


2002 bzw. 2006 haben Sie für ihre dokumentarischen Arbeiten, Andri 1924-44 sowie Der Kärntner spricht Deutsch, viel Beachtung erlangt. Nach einiger zeitlicher Distanz zu diesen Filmen und dem Kurzfilm Die Wand ist abgerissen arbeiten Sie nun an Ihrem ersten langen Spielfilm. Wie hat sich dieser Weg vom Dokumentar- zum Spielfilm vollzogen? –  Was ist Tatsache? Was ist Phantasie oder Hirngespinst? – ist ja eine Grundfrage, sie sich durch Ma Folie ebenso wie in gewisser Weise auch durch Ihre Dokumentarfilme, die der Erinnerung gewidmet sind, zieht.

ANDRINA MRAČNIKAR:  Die verschiedenen Formen der Wahrnehmung, die Lückenhaftigkeit der Wahrnehmung und der Erinnerung, das sind sicher meine Themen. Das Fragmenthafte des Erzählten ist ja schon in Andri 1924-44 ein Thema. In Der Kärntner spricht Deutsch geht es auch um Auslassungen, um das bewusste Weglassen von ja nur scheinbar objektiven Dokumenten, um subjektives Erinnern. In meinem Kurzfilm Die Wand ist abgerissen geht es um die oft schmale Grenze zwischen Realität und Fiktion und ihre gegenseitige Einflussnahme aufeinander. Ich misstraue den stringenten, allwissenden Erzählungen. Ich könnte und will keinen allwissenden Erzählstandpunkt einnehmen. Ich find das auch langweilig.


Wie sind Sie vom dokumentarischen zum fiktiven Erzählen gekommen?

ANDRINA MRAČNIKAREigentlich wollte ich nie Dokumentarfilme machen. Mein Wunsch war immer das fiktionale Erzählen. Andri 1924-44 hat sich aus der Aufnahmeprüfung für die Filmakademie ergeben, die Recherche war ein Teil der Aufgabenstellung. In der Folge habe ich dann auch den Film zunächst allein für mich gemacht. Der Kärntner spricht Deutsch ergab sich dann als Folge zu Andri, weil ich mehr zum Thema der Kärntner Partisanen in Erfahrung bringen wollte. Hier stand aber nicht das unbedingte Bedürfnis, einen Dokumentarfilm zu machen im Vordergrund, sondern eine sehr persönliche Entscheidung, die mit meiner eigenen Geschichte zu tun hat.


Worum geht es in Ma Folie?

ANDRINA MRAČNIKAR: Es geht um eine sensitive Liebesbeziehung. Hanna lernt Yann in Paris kennen und lieben. Er beginnt, ihr „lettres filmées“ zu schicken, das sind gefilmte Briefe – kleine, mit dem iPhone gefilmte Essayfilme. Die Liebesgeschichte zerbricht sehr schnell an Yanns Eifersucht und die weiteren „lettres filmées“ werden von Mal zu Mal bedrohlicher. Die Liebesgeschichte kippt in einen Psychothriller, in dem Hanna bald nicht mehr weiß, was stimmt und was nicht, wem sie noch vertrauen kann und was sie noch glauben soll.


Das Drehbuch zu Ma Folie wurde 2005 mit dem Carl Mayer-Drehbuchpreis ausgezeichnet. Das Brüchige der Wahrnehmungen, das Destabilisieren von Gewissheiten bedurfte gewiss einer besonders subtilen und sorgfältigen Drehbucharbeit. Wie verlief der Schreibprozess?

ANDRINA MRAČNIKAR: Der Drehbuchprozess war ein extrem langer. Ich habe den Carl Mayer-Drehbuchpreis zum Thema Angst fürs Treatment gewonnen, danach entstand die erste Drehbuchfassung. Mit einer ersten Produktionsfirma ging ich dann in die Stoffentwicklung, die verlief aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich arbeitete dann wieder eine Weile alleine weiter und ging schließlich zu Witcraft Scenario, mit der ich dann sehr lange entwickelt habe. Das Besondere an diesem Film sind seine unzähligen Nuancen und Zwischentöne, die sich in die verschiedensten Richtungen entwickeln könnten. Man hätte auch einen ganz klassischen Thriller daraus machen können, hätte auf viel explizitere Weise erzählen können. Meine Schwierigkeit lag darin, „Meines“ dabei zu finden und „Meines“ zu behaupten. Bei der letzten Drehbuch-Fassung hatte ich Kathrin Resetarits als Dramaturgin, die mich sehr dabei unterstützt hat mein Thema durchzuziehen. Bei dieser letzten Fassung wurde viel nochmal weggeschmissen und neu geschrieben.


Diese Ambivalenzen zu spielen, stellt auch an die Schauspieler eine große Herausforderung. Wie haben Sie die vier Darsteller, die in den verschiedensten Konstellationen immer wieder als „Paar“ funktionieren mussten, gefunden?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Es gibt eine Vierer-Konstellation mit dem Liebespaar Hanna-Yann, Hannas Ex-Freund Goran und Hannas bester Freundin Marie. Ich musste sowohl eine funktionierende Vierer-Konstellation als auch eine Darstellerin für Hanna finden, die den ganzen Film trägt. Es gibt keine Szene ohne sie. Sie muss eine Frau spielen, die am Anfang eine große Stärke und auch Leichtigkeit hat, die im Laufe der Geschichte aber zu zerbrechen droht. Dass ich Alice Dwyer gefunden habe, ist da ein großes Glück. Ich kannte sie aus Torpedo und ihren früheren Filmen, wir organisierten dann ein großes Casting in Berlin, bei dem sie mich sehr berührt und beeindruckt hat. Gerti Drassl stand für mich schon beim Schreiben als Marie fest, sie wiederum verwies mich auf Sabin Tambrea, mit dem sie in Ludwig II gespielt hatte. Auch er hat ein so nuancenreiches Spiel und passt wunderbar für die Rolle des Yann. Ihn hatte ich schon vor Alice besetzt und schließlich kam als Vierter im Bunde Oliver Rosskopf dazu.


Wie gingen Sie für diesen ersten langen Spielfilm an die Schauspielarbeit heran?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Es war für mich kein Debüt als Spielfilmregisseurin. Davor hatte ich schon Kurzfilme gemacht. Beim Studenten-Projekt Krankheit der Jugend, das wir mit Michael Haneke machten, lag auch der Fokus auf der Schauspiel-Arbeit, wie überhaupt im Unterricht von Michael Haneke ein großer Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit den Schauspielern gilt. Das bereitete mir keine Sorgen.


Messen Sie der Schauspieler-Arbeit auch diese entscheidende Rolle bei?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Nicht allein. Das Casting ist ein Um und Auf. Man braucht ausgezeichnete Schauspieler. Das Tolle am Dreh von Ma Folie ist aber auch, dass hier ein Team zusammenkommt, das sehr gut miteinander arbeiten kann. Das ist ein großes Glück. Mit den Schauspielern habe ich geprobt. Alice war schon ein Monat vor Drehbeginn in Wien, sie hatte auch ein Sprachtraining, um ihr Deutsch ein bisschen weicher zu machen. Und wir haben alles, was in diesem Drehblock gedreht wurde, mehr oder weniger grob durchgeprobt.


Haben Sie als Haneke-Schülerin ähnlich präzise Vorstellungen davon, was die Schauspieler tun sollen oder lassen Sie ihnen Freiraum?

ANDRINA MRAČNIKAR: So klar und eindeutig sind meine Vorstellungen nicht immer, ich bin da offener und probiere Dinge gern aus. Aber bestimmte Dinge sind für mich klar und damit ist der Spielraum schon gar nicht mehr so groß.

Bei meinem Setbesuch wurde gerade eine besonders lange Szene zwischen Hanna und Marie gedreht – vielleicht ein Zufall oder vielleicht Konzept? Wurde prinzipiell wenig auf Schuss/Gegenschuss gedreht? Wie haben Sie mit Kameramann Gerald Kerkletz die Auflösungen und das Kamerakonzept entwickelt?

ANDRINA MRAČNIKAR: Gerald und ich lösen recht minimalistisch auf, aber nicht starr und distanziert. Wir wollen den Figuren, vor allem Hanna, nahe sein. Den beobachtenden Außen-Blick setzen wir gezielt ein, wenn er Observation suggerieren soll. Der Rhythmus, zum Beispiel von Schuss/Gegenschuss Szenen, von denen es einige gibt, wird sich noch im Schnitt mit Karina Ressler ergeben. Es kristallisiert sich aber jetzt schon heraus, dass das wohl nicht der ganz konventionelle Schuss/Gegenschuss-Rhythmus wird.
Gerald kenne ich schon sehr lange von der Filmakademie, es ist sehr toll, wenn man jemanden findet, der so engagiert ist und den die gleichen Dinge an einem Stoff faszinieren.


Wo trifft sich sein Blick mit Ihrem Blick?

ANDRINA MRAČNIKAR: In dem, was vielleicht gar nicht gleich sichtbar ist. Im Grundthema, das unter allem liegt. Es geht auch um Bilder, um Abbilder. Um Darstellung und Selbstdarstellung. Wie gibt man sich vor anderen? Welches Bild will man, dass der andere von einem hat? Was bedeuten Bilder in den Medien, wie beeinflussen sie uns? Diese Fragestellungen sind uns wichtig. Unsere Blicke ergänzen einander wunderbar.


In Ma Folie ist vieles in vielerlei Hinsicht eine Balanceakt, wo immer etwas kippen kann. Einer dieser Grenzgänge vollzieht sich zwischen den Genres – der Film bewegt sich vom Liebesfilm zum Horrorfilm.

ANDRINA MRAČNIKAR: Es beginnt alles wunderschön, wie eine große Liebesgeschichte. Ich wollte unbedingt, dass die Geschichte in einer Normalität verankert ist. Ich wollte nichts esoterisch Fremdes, sondern einen Psychothriller, der in realistischen, glaubwürdigen Beziehungskonstellationen verankert ist. Ich wollte, dass die Liebesgeschichte lange in ihrer Schönheit besteht, auch wenn Dramaturgen immer wieder den Einwand hatten, dass sich der Thriller von Beginn an abzeichnen müsste. Ich finde, dass viele gute Horrorfilme mit einer Idylle beginnen. Das Kippen finde ich spannend. Wenn etwas, das so schön begonnen hat, kippt ins Bedrohliche, wenn Figuren kippen, wie sie es eigentlich allesamt in Ma Folie tun. Der Genrefilm hat mich natürlich auch gereizt, weil es Spaß macht, mit dem Genre zu spielen.


Es gibt auch ein Genre im Genre – Yanns mit dem iPhone aufgenommene „lettres filmées“. Wie werden sie technisch realisiert?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Die „lettres“ werden in der Tat mit dem iPhone gefilmt. In meiner ersten Drehbuchfassung war es noch eine Videokamera. Im Laufe des Schreibens hat sich dann die Technik so massiv verändert. Ich glaube, in der ersten Fassung hat Yann noch VHS-Kassetten verschickt. Inzwischen sind es Links, die man auf jedem Computer und Smartphone öffnen kann. Wir haben uns für´s iPhone entschieden, weil die Kameras eine sehr gute Qualität haben, und sie sind handlich, man kann jederzeit filmen und gefilmt werden.


Wie werden sich die „lettres“ formal vom restlichen Film unterscheiden?

ANDRINA MRAČNIKAR: Sie werden sich formal sehr stark unterscheiden, sie werden natürlich aus der Hand gefilmt. Und sie haben mehrere Ebenen. Sie bestehen aus Dingen, die wir während des Drehs mit dem iPhone filmen, dann kommen Yanns „eigene“ Sachen dazu, die wir zum Teil in Paris filmen werden, da wird auch noch improvisiert, experimentiert. Und dann bestehen sie aus bereits existierendem Filmmaterial, das abgefilmt wird, weil es auch in den „lettres filmées“ um das Spiel zwischen Realem und Nicht-Realem geht. Yann zitiert in seinen „lettres filmées“ zum Teil sehr bekannte Filme, verwendet aber auch Found Footage, wie man es zum Beispiel im Netz findet. Irgendwann verschwimmt die Grenze zwischen dem, was er tatsächlich erlebt und gefilmt hat und dem, was er abgefilmt hat. Das ist natürlich auch eine riesige Rechte-Frage, weil es sehr viel Material gibt, bei dem die Rechte geklärt werden müssen und die im nächsten Schritt dann auch für uns leistbar sein müssen.


Wie sehen die iPhone-Filme auf der Leinwand aus?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Wir haben bereits Test-Screenings gemacht und es schaut erstaunlich gut aus. Es erinnert ein wenig an digitales Super 8 und unterscheidet sich ganz klar vom restlichen Film.


Ma Folie enthält einen Film im Film. Es geht auch um die Tatsache, wie sehr die Filmkamera in unseren Alltag eingezogen ist und das Überwacht-Sein zu einem Faktum geworden ist, was berechtigten Anlass zu paranoiden Gedanken gibt. Inwieweit geht es Ihnen auch um eine Reflexion über das Medium?

ANDRINA MRAČNIKAR:  Diese Frage hat sich mir ganz früh schon gestellt, weil es sich in mir sträubt, Filme zu machen, die das Medium nicht reflektieren. Mein Wunsch ist, Filme zu machen, die spannend und berührend sind und doch permanent das Medium reflektieren. Mir geht es in meiner Arbeit um die Reflexion des Erzählens. In Ma Folie geht es nicht zuletzt um das Hinterfragen von Bildern. Nur, weil etwas abgefilmt wurde, muss es nicht wahr sein. Man weiß nie genau, was man sieht. Dass das Thema des „Überwacht-Seins“ in den letzten Jahren so präsent geworden ist, verstärkt die Relevanz des Ganzen.


Der erste Drehblock ist nun abgeschlossen. Hierbei hat es sich um einen Studio-Dreh gehandelt. Welche Drehorte wurden im Studio gebaut. Warum wurde im Studio gedreht?

ANDRINA MRAČNIKAR: Es ist jetzt etwas mehr als die Hälfte gedreht. Viele Innenmotive sind abgedreht, wir haben aber nicht nur im Studio gedreht, sondern auch im Flex, bei der Polizei, im Amalienbad... Im Herbst drehen wir dann alle Außenszenen, Ma Folie soll von der Stimmung her ein Herbstfilm sein. Bei den Innenaufnahmen spielt vieles in Hannas Wohnung, daher standen wir vor der Frage, ob wir eine Location suchen. Ein Studio kostet auf den ersten Blick zwar mehr, spart aber auch Vieles und dadurch, dass wir so viele Drehtage in Hannas Wohnung hatten, kamen unsere Szenenbildnerin Alexandra Maringer und der Produzent Lukas Stepanik in ihrer Kalkulation zu dem Ergebnis, dass die Vorteile überwiegen. Man gewinnt insgesamt viel Zeit, fürs Licht hat das Studio große Vorteile, man hat kaum Tonstörungen und wir konnten den Grundriss so bauen, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich glaube, für einen anderen Grundriss hätte ich das Drehbuch umschreiben müssen. Hannas Wohnung hat etwas labyrinthartiges, man kann in dieser Wohnung wunderbar im Kreis gehen und im nächsten Zimmer verschwinden. Man kann von einem Raum in den nächsten fallen, gleichzeitig gibt es viele Durchsichten und Tiefen. Dafür sind natürlich Alexandra und Gerald mitverantwortlich.

Was steht im Herbst noch auf dem Plan?
ANDRINA MRAČNIKAR: Zum Beispiel Hannas Arbeitsplatz, ein Kinderschutzzentrum, und viele Außenszenen: in der Lobau, in der Innenstadt und am Donaukanal, der eine zentrale Rolle spielt.
Wir haben noch drei Drehwochen ohne Paris, wo nur die allererste Szene spielt, vor uns. Ende Oktober sollte das Drehen abgeschlossen sein. Was dann in der Fertigstellung noch Zeit kosten wird, ist der Feinschnitt der „lettres filmées“, die es einzubetten und zu gestalten gilt.

Interview: Karin Schiefer
2013