INTERVIEW

«Wer darf sich eigentlich herausnehmen zu behaupten, dass jemand auf dieser Welt zu viel ist?»

 

Wer darf sich eigentlich herausnehmen zu behaupten, dass jemand auf dieser Welt zu viel ist? Werner Boote über Population Boom, der bei CPH:DOX seine internationale Premiere feierte.


Der Eröffnungssatz des Films lautet: Ist die Erde zu klein oder gibt es zu viele Menschen auf meinem Planeten? Mit diesem Satz ist auch gleich die These des Films erörtert: alles ist relativ, alles ist eine Frage des Blickwinkels. Hegten Sie bereits zu Beginn Ihrer Arbeit den Verdacht, der Begriff der Überbevölkerung könnte ein Mythos sein oder war dies eine Erkenntnis, die sich erst im Zuge der Recherche ergab?
Werner Boote: Der Film hat sich in der Recherche dorthin entwickelt. Die Idee zum Film geht auf Plastic Planet und die vielen Publikumsgespräche zurück, wo immer wieder der Kommentar fiel, dass die wachsende Weltbevölkerung am Zuviel an Plastikmüll schuld sein müsse. Und so schlug ich meinen Produzenten in der Geyrhalterfilm „Überbevölkerung“ als Thema für meinen nächsten Film vor. Ich ging davon aus, dass der Umgang mit der wachsenden Weltbevölkerung eine der Herausforderungen unseres Jahrhunderts sein muss und suchte nach Beweisen, dass es heute oder zumindest in naher Zukunft schon zu viele Menschen auf diesem Planeten gibt. Anstatt Argumente zu finden, die das untermauern, tauchten immer mehr Hinweise darauf auf, dass die Frage anders gestellt werden muss. In meiner ersten Recherche hat sich die Behauptung, die Welt sei überbevölkert, als unrichtig erwiesen. Dank der Projektförderung im Team hatte ich genug Zeit zur Verfügung, tiefgehender zu recherchieren. Hätte ich das Thema fürs Fernsehen bearbeitet, dann hätte ich nie die Zeit gehabt, mich einer anderen Sichtweise zu öffnen.

Sie gehen nicht einem Phänomen und dessen Symptomen, Problematiken, Fragestellungen nach, wie es oft in Dokumentarfilmen der Fall ist, Sie hinterfragen in Population Boom einen Begriff, ein Wort, das sich als eine Worthülse erweist.
Werner Boote: Ja, es war ein viel abstrakteres Thema. Der Unterschied zu Plastic Planet war der, dass wir nach politischen Meinungen und Aussagen gesucht haben. Hier ging es nicht nur um die Frage, wie viele Menschen gibt es jetzt auf der Welt, sondern, wenn der Begriff der Überbevölkerung ein Mythos ist, was heißt das dann für Probleme, für die man bisher stets die zunehmende Weltbevölkerung verantwortlich gemacht hat – Hunger, ökologischer Fußabdruck etc.? Was bedeutet es, wenn man diesen Themen das Erklärungsmodell Überbevölkerung wegnimmt? Beim ökologischen Fußabdruck wird sehr schnell klar, wo er am schnellsten wächst. Nicht dort, wo die Geburtenraten hoch sind, sondern in unseren Breitengraden. Die Problemstellung wird schnell zu einer Frage unserer Entwicklung in den westlichen Ländern. Wie geht man damit um, dass Länder mit heute hoher Geburtenrate nach westlichen Lebensstandards streben, die sich nicht gerade als gut erweisen? Der Schluss liegt nahe, dass es in eine nachhaltigere Richtung gehen muss.

Wie ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass ein Schlagwort, das sich als unhaltbare Behauptung erweist, – wird es nur lange genug und oft genug wiederholt – zu einem ernst zu nehmenden Debattenthema wird?
Werner Boote: Ich habe es ja selbst auch lange nachgeplappert, auch wenn ich bei den Plastikmüll-Debatten schon das Gefühl hatte, dass nicht so ein simpler Schluss gezogen werden kann. Ich denke, es diente als eine gute Ausrede. Als in den siebziger Jahren die Medienkampagne bezüglich der drohenden Überbevölkerung gestartet wurde, war es – das muss man den Menschen, die sie vorangetrieben haben zugute halten - nicht absehbar, wohin die Bevölkerungsentwicklung gehen würde. Am Beginn waren rein politische Interessen dahinter, vor allem 1974, als das National Security Study Memorandum von Henri Kissinger erlassen wurde. 13 Länder sollten demnach ihr Bevölkerungswachstum eindämmen. Damals war dieser Schritt von der Befürchtung bestimmt, der Kommunismus könnte sich in der Welt zu sehr verbreiten. Wirtschaftliche Motive standen damals noch im Hintergrund. „Die anderen sind zu viel“, ist immer eine gute Ausrede. „Die anderen sollten etwas tun“, eine einfache Abwälzung der Verantwortung. Jetzt weiß man, dass ab 2040/50 spätestens 2060 der Zenit erreicht ist und ab dann die Weltbevölkerung zurückgehen wird. In den siebziger Jahren herrschte da berechtigter Weise Panik. Wir hätten versucht, Henri Kissinger für den Film zu gewinnen, er war aber nicht bereit, Stellung zu nehmen. Viele sind heute über ihre damaligen Aussagen nicht so glücklich, weil man mittlerweile weiß, dass die damalige Panikmache nach heutigen Standards übertrieben war. In über neunzig Staaten werden bereits weniger Kinder geboren, als es für eine stabile Bevölkerungsentwicklung notwendig wäre. Es gibt Länder, wo die Bevölkerung schrumpft, und Länder, wo die Bevölkerung am aufsteigenden Ast ist. Gegen 2040 wird sich das ausgeglichen haben. Das hängt vor allem davon ab, wie schnell Länder mit heute hoher Geburtenrate westliche Standards aufnehmen und mittlerweile den globalen Lebensstil übernehmen.

Der zweite Satz: Die vielen Menschen werden so schwer werden, dass die Erde vom Himmel fallen wird, nimmt gleich den ironischen Unterton, der dem Film zugrunde liegt, vorweg. Lädt das Thema zur Ironie ein, weil sich die Behauptung, die Überbevölkerung sei eine Gefahr, per se als eine Ironie herausgestellt hat?
Werner Boote: Ich glaube nicht, dass die Ironie durch das Thema gekommen ist. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Es hat etwas Größenwahnsinniges an sich, sich mit der Gesamtbevölkerung der Erde auseinanderzusetzen. Irgendwann dachte ich mir, dass das Thema einer gewissen Distanznahme bedarf, indem ich den Planeten Erde von „oben“ betrachte. Ironie bringt auch die Absurdität, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, auf den Punkt. Es ist ja ein Menschenrecht, dass jeder bestimmen kann, wann, ob und wie viele Kinder er bekommen will.

Sie positionieren sich als Fragesteller und Regisseur sehr zentral und stellen betont naiv Fragen? Als wiederkehrendes Motiv entdeckt man Sie, stets eine lokale Zeitung lesend, im öffentlichen Raum und fast immer in Begleitung eines schwarzen Regenschirms. Warum wählten Sie diesen Zugang?
Werner Boote: Die Zeitung steht für die Medienkampagne, die hinter dem Schlagwort der Überbevölkerung steht. Ich bin auch in diese Falle getappt und ein Journalist einer Tageszeitung, der schnell etwas über Hunger schreiben muss, schreibt wahrscheinlich sehr schnell, dass es zu viele Menschen in der Welt gibt. Der Regenschirm ist mit dem Logo der World Bank versehen. Es stand bald fest, dass die World Bank eine wesentliche Rolle dabei spielt, wie Länder unter Druck gesetzt werden. Dadurch war der World Bank-Schirm als Reisebegleiter ein Fixpunkt. Dass es sich so auflöst, dass die letzte Protagonistin dann noch mit einem konkreten Fall aus ihrem eigenen Land Stellung nimmt, das hat sich einfach ergeben.
Ich stelle im Film sehr naiv gewisse Fragen, weil meine Gesprächspartner dann direkt darauf antworten müssen und nicht herumreden können. Dass ich im Zentrum bin, hat den Grund darin, dass ich mal einen TV-Film über den Opernsänger Kurt Rydl machte. Dieser Mann ist ständig in Bewegung und es wurde klar, dass man im Film verdeutlichen musste, wieviel der rennt. Ich zeige im Film, wie dieser „Gladiator“ sogar dem Filmteam davonrennt. Ulrich Seidl meinte damals im Schneideraum, dass ich diese komische Situation unbedingt zeigen sollte. Dadurch erkannte ich, dass meine Präsenz im Film mein Anliegen besser transportieren könnte. Das trifft vor allem dann zu, wenn ich die Themen persönlich wähle und sie somit immer etwas mit mir zu tun haben. In dem Moment, wo ich einen Film mache, ist es auch ein subjektiver Film. Ich glaube nicht an Objektivität, auch wenn ich mich um Objektivität und Ehrlichkeit in der Behandlung eines Themas bemühe. Mit meiner Präsenz ist die Subjektivität unmittelbar gegeben und ich halte es auch deshalb für einen interessanten Zugang, weil der Zuschauer einer Person folgt. Diese Person hat sich zuvor auch noch nicht viele Gedanken darüber gemacht, ob zu viele Menschen auf der Erde wohnen und es abgesehen vom Stau, an der Supermarktkassa oder im überfüllten Lift gar nicht bemerkt und plötzlich setzt sie sich mit dem Thema auseinander. Der Film bekommt so einen einfacheren Erzählstrang, als wenn ich die ausgewählten Protagonisten hintereinander reihe. Ich binde das Thema an eine Person, die einer Frage nachgehen und dazu im Zuge einer Reise etwas entdecken will.

Wie hat sich diese Reiseroute ergeben?
Werner Boote: Einer meiner ersten Arbeitsschritte war, mich zu Hause an den Computer zu setzen, „Überbevölkerung“ einzugeben und Bilder durchzuklicken. Eines der ersten Bilder waren die Menschenmengen auf den Zügen in Bangladesch. Damit war klar, ich muss zu dieser Weltkongregation fahren, um warnende Bilder von der Überbevölkerung der Welt zu finden. Wir suchten einerseits nach großen Menschenansammlungen, andererseits nach Gebieten mit einer besonders niedrigen Bevölkerungsdichte, da stand die Mongolei auf unserer Wunschliste. Weiters ging es uns um Menschen, die man treffen und Ereignisse, wo man dabei sein sollte: z.B. die UNO verkündet den 7.000.000.000sten Menschen auf der Welt. Wichtige Demografen, Menschen, die sich zum Thema äußerten etc. Nach und nach hat sich ein Mosaik zusammengefügt. Er war ein „work in progress“ zwischen Drehen, weiter Recherchieren und wieder Drehen. Wir bewegten uns schrittweise vorwärts.

Dass sich in China jemand vor der Kamera kritisch zur Ein-Kind-Politik äußert, ist ja sehr erstaunlich?
Werner Boote: Erstaunlich war vor allem der Umstand, dass wir offiziell eingeladen wurden. Wir waren die ersten internationalen Journalisten, die überhaupt offiziell von der Familienplanungsbehörde akzeptiert wurden. Das war auch der Unterstützung der damaligen österreichischen Botschafterin in China zu verdanken, hing aber auch damit zusammen, dass in China ein Bewusstsein erwacht, dass etwas unternommen werden muss. Wir drehten 2011, damals war klar, dass eine Lockerung der Familienpolitik kommen würde, ich hatte gefürchtet, dass sie vor dem Kinostart offiziell sein würde. Gekommen ist jetzt eine erste minimale Lockerung. Für die chinesische Bevölkerung ist jeder Tag natürlich tragisch und darauf weist Population Boom auch hin.

Wenn sich die Arbeitsthese bald als Irrtum erwiesen hat, wie hat sich das Thema im Verlauf der Arbeit dann fokussiert?
Werner Boote: Wer darf sich eigentlich herausnehmen zu behaupten, dass jemand auf dieser Welt zu viel ist? Das ist ja der Wahnsinn in dieser Diskussion und deshalb wurde das Thema auch so breit, weil es im Zuge der Recherche auch um Rassismus, Eugenik, Einwanderungspolitik etc. ging. Der kleine umweltbewusste Werner Boote, der nicht will, dass die Welt im Plastikmüll untergeht, sah sich mit einem immer komplexeren Thema konfrontiert. Im Endeffekt ging es darum, dass es ein Film wird, der zu mehr Menschlichkeit und mehr sozialer Gerechtigkeit aufruft. Da ist es dann auch einerlei, ob man in der Mongolei oder in Kenia, beim Bishwa Ijtema oder beim Haddsch dreht. Es ging auch um die Frage, wo man die besseren Bilder drehen kann. Es ist so ein Riesenthema, dass man gar nicht alle Facetten abdecken kann. Ab dem Zeitpunkt, wo feststand, dass die Behauptung, es gebe zu viele Menschen auf der Welt, ein Unsinn ist und als These wegfiel, traten andere Dinge und Zusammenhänge auf den Plan, z.B. mit dem Thema Umwelt.

Sehr spät kommt der Aspekt ins Spiel, dass Kinderkriegen, Familie nicht nur statistische, wirtschaftliche oder soziologische Daten sind, sondern auch eine hochpersönliche und private Angelegenheit, die beinahe außer Acht zu geraten scheint.
Werner Boote: Kinderkriegen ist nicht nur eine reine Privatangelegenheit, es ist seit den sechziger Jahren auch ein Menschenrecht. Es regt mich wirklich auf, dass Menschen wie David Attenborough, der ein interessanter Tierforscher ist, immer noch Plattformen bekommt, um Aufrufe zur Geburtenkontrolle von sich zu geben. Und er ist nicht der einzige Tierforscher, der in diesen Chor einstimmt. Sie machen den Fehler, dass sie die Entwicklungen von Tierpopulationen 1:1 auf den Menschen umlegen und nicht in Betracht ziehen, dass sich der Mensch entwickelt, übereinander wohnen kann und innovativ ist. Es ist heutzutage höchste Zeit, den Fokus auf andere Themen zu richten. Zum Beispiel auf die wirtschaftliche Entwicklung. Mein Trugschluss war zunächst, wenn es immer mehr Menschen auf der Welt gibt, dann gibt es auch immer mehr Konsumenten. Die Wirtschaft müsste eigentlich starkes Interesse an einer stetig wachsenden Bevölkerung haben. Die will allerdings nur zahlungskräftige Konsumenten. In weiterer Folge heißt das, dass die Wirtschaft nichts für die Armen tut. Der Hunger ist ja keine Folge einer zu geringen Produktion an Lebensmitteln, sondern Resultat der weit verbreiteten Armut. Es wird niemand etwas gegen Armut unternehmen, solange die Wirtschaft genügend Profit aus Menschen schlagen kann, die zahlungskräftig sind. Blendet man das Argument Überbevölkerung aus, dann steht plötzlich die Armut zentral im Raum und dann sind wir an einem Punkt angelangt, wo Regierungen dringend aktiv werden müssten. Die Wirtschaft wird es nicht tun. Überbevölkerung war in vielen Aspekten eine willkommene Ausrede. Wenn wir das Hungerproblem nicht mehr auf die Überbevölkerung schieben können, dann muss man sich sachlichen Erklärungen stellen und endlich einmal nach der Ursache der Armut fragen. Das ist der Grund, warum es den Film jetzt gibt.


Es gibt eindrucksvolle Bilder von Ihnen in den Menschenmengen, vor allem in Bangladesch – ein Dreh, der wahrscheinlich zu den beeindruckendsten persönlichen Erfahrungen zählt. Können Sie etwas über Ihr Team und die Kameraarbeit erzählen?
Werner Boote: Wir sind immer zu fünft unterwegs: Produktionsleiter Michael Meisterhofer, Dominik Spritzendorfer und Mario Hötschl machen Kamera, Andreas Hamza, den Ton. Michael hielt uns für verrückt, als wir uns vornahmen, auf diesem Zug mitzufahren. Für mich war klar, dass ich auf dieses Zugdach wollte. Bei den Aufnahmen hatten wir eine Kamera an der Brücke fixiert und Dominik ist mit einer zweiten Kamera auf den Zug geklettert, das war viel gefährlicher. Dann fielen uns die Walkie-Talkies aus, sie wussten also nicht, auf welchem Zug wir waren, Mario drehte einfach einen vollen Zug. Während des Drehs entdeckte er erst, dass wir oben standen. Wir fuhren ungefähr eine halbe Stunde mit. Das Hinaufklettern war relativ einfach, da hatten wir den Ausländer-Bonus. Als wir dann oben waren, wurde mir schon unheimlich, ich hatte ja keine Ahnung, wie schnell der Zug anfahren würde. Wir fühlten uns aber wie in einer homogenen Menschenmasse, die sich wie ein Krake über den Zug gelegt hatte. Wenn ein Tunnel kam, mussten alle in die Knie gehen, ich war dann mit dem Gesäß auf dem Kopf eines anderen, aber es war klar: Wenn wir einander halten, falls es notwendig ist, dann würde alles glatt gehen. Lustig war es insofern, als ich die überfüllten Züge am Beginn des Projekts als Sinnbild für die Warnung vor der Bevölkerungsexplosion im Internet gefunden hatte und weil sich diese Sicht bis zum Ende des Drehs total umgedreht hat. Hätte ich als Filmemacher diese überfüllten Züge nur abgebildet, dann hätte ich nie diesen Bezug gewonnen und diese Menge nicht in ihrer positiven Kraft erlebt. Insofern macht es Sinn, dass ich mich da reinschmeiße. Es ist immer eine Frage, ob man das auch sehen will. Ich glaube, dass es in diesem Moment auch sehr emotional wird, wenn man sich darauf einlässt.

Interview: Karin Schiefer
Dezember 2013