INTERVIEW

«Sich weiterbewegen, hin zu einer Verbindung von Vernunft und inneren Empfindungen.»

Mati macht gerade Matura und steht am Punkt der unbegrenzten Möglichkeiten, aber auch der Angst, den falschen Schritt ins Leben zu tun: unbekannte Perspektiven in der Stadt oder Sicherheit auf dem Land, weibliche Identität oder männlicher Habitus, innere Stimme oder Erwartungen der anderen? Katharina Mücksteins zweiter Spielfilm L’Animale eröffnet das Leben als stetes Zwischenland, das im Wechselspiel von sozialem Korsett und Freiheitslust, Gewissheiten und Risiko immer wieder auch die Option in neue Richtungen auftut.

 
 
In der ersten Einstellung von L'Animale  bewegen sich zwei Motorradfahrer – gepanzert in voller Schutzmontur – auf ihren Fahrzeugen umeinander, vor allem aber um sich selbst: das Knattern der Motoren, der Schwindel, der Wirbel, die Kraft, die es zu bändigen gilt, das fragile Gleichgewicht, die Selbstbezogenheit. Ist hier gleich eine Metapher im Bild, die all das repräsentiert, was mit der Altersphase der großen Jugendlichen, um die sich Ihr neuer Film dreht, in Verbindung steht?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Das Sujet der Motocross-Fahrer hat mich deshalb so angesprochen, weil es etwas sehr Kraftvolles hat; die gepanzerten Figuren sind ein gutes Bild für die fehlende Durchlässigkeit und die harten, fast undurchdringlichen Oberflächen, die wir mit uns herumtragen. Es ist aber auch einfach ein Symbol für Männlichkeit und Coolness und darum geht es schließlich in meinem Film sehr stark. Es ging mir in dieser Anfangssequenz von L’Animale weniger darum, die Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen, viel mehr wollte ich dem Film etwas Bewegungs- und Actiongeladenes voranstellen. Ich hatte bei diesem Projekt große Lust, alle Möglichkeiten zu nutzen, die das Budget zuließ und die Motorrad-Szenen sind Teil davon.
 
 
Sie erzählen vom Jugendlich-Sein auf dem Land und nicht im urbanen Raum. Was hat Sie dazu bewogen, diese Geschichte auf dem Land spielen zu lassen?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Mich interessiert die Schnittstelle zwischen Stadt und Land – der Speckgürtel – , die auch die Schnittstelle zwischen Natur und Zivilisation ist. Hier lassen sich Themen wie das Romantisieren von Natürlichkeit, das Mystifizieren von Natur versus Zivilisation und Fortschritt sehr gut verorten. Wir leben in einer Zeit, in der ständig darüber verhandelt wird, wohin wir uns orientieren sollen: sehnen wir uns zurück nach einem romantisierten Urzustand oder überwinden wir die Angst vor dem Unbekannten, gehen voran und suchen den Fortschritt? Das ist ein Thema von L’Animale, das ich auf allen Ebenen einfließen lassen wollte: Erzählung, Schauplatz und Tonalität.
 
 
Kam Ihnen diese Zone zwischen Stadt und Land als Lebensumfeld Ihrer Figuren auch insofern entgegen, als es ein Bereich ist, wo traditionelle und offene, zeitgemäße Interpretationen der Geschlechterrollen aneinandergeraten?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Ich beschäftige mich seit meiner Jugend mit feministischer und queerer Philosophie und es irritiert mich sehr, dass wir heute je nach Argumentationszweck alle möglichen, spekulativen Annahmen über die „Natürlichkeit“ der Geschlechterordnung treffen. –Einerseits wollen wir uns als diese empfindsamen, zivilisierten Wesen sehen und andererseits berufen wir uns auf die Natur und unsere Triebe, wenn es uns gerade passt. Was wollen wir also sein, Tier oder Mensch? Und welche Anteile tragen wir in uns. Es hat mich gereizt, diese zwei verschiedenen Arten der Selbstwahrnehmung zusammenzuführen, weil ich glaube, dass zum vollständigen Menschsein beides gehört. Es braucht Kontakt zur Intuition, Verbindung zu irgendeiner Natürlichkeit, Emotionalität ebenso wie einen Willen zur Gestaltung, also eine Emanzipation vom Triebwesen und unbestechliche Vernunft.
 
 
Ihrer Protagonistin Mati begegnen wir mit einer seltsamen Frisur, in einem Kleid, das ihr weder steht noch passt – hier fühlt sich jemand nicht wohl in seiner Haut, das ist von Anfang an klar. Sie haben Ihrer Protagonistin von Talea, Sophie Stockinger, eine neue Hauptfigur geschrieben. Warum wollten Sie erneut mit ihr arbeiten? Wie hat diese Figur Form angenommen?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Nach Talea wollte ich unbedingt mit Sophie Stockinger einen weiteren Film machen, bevor sie ganz erwachsen ist. Ich  habe all meine Arbeitsprozesse darauf ausgerichtet, weil ich wusste, wie lange es dauert, einen Spielfilm zu realisieren. Die Zeit war knapp. Sophie war beim Dreh von Talea 14, beim Dreh von L’Animale 18 Jahre alt. Ich habe bei Talea die Erfahrung gemacht, wie viel sich entwickeln kann, wenn wir beide zusammenarbeiten. Es hatte mich so beeindruckt, dass eine junge Schauspielerin ohne jegliche klassische Ausbildung so viel Technik, Gefühl für Figuren und szenisches Verständnis haben kann. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Bei L’Animale hatte ich außerdem den Wunsch, auch mit Sophie ein Stück weiter zu gehen und ihr eine Rolle zu schreiben, die weiter von ihr weg ist. Wir haben uns der Figur der Mati einerseits über viele Gespräche angenähert, andererseits auch über Körpertraining. Im Detail bedeutete das einerseits ein Kampftraining, andererseits Gruppenproben mit anderen Burschen, in denen sie sich einen „männlichen“ Habitus antrainiert hat. Ich mag es sehr, mit den Schauspielern über den Körper einen Weg in die Rolle zu finden. Die Rolle intellektuell erfassen ist die Voraussetzung und eine Sache, jedoch auch mit seinem Sein dorthin zu kommen, eine andere. Als Regisseurin erachte ich den Weg über den Körper als den schlüssigsten. Sophie kann das sehr gut, sie musste aber auch einige Hürden für diese Rolle überwinden.
 
 
Mati lehnt definitiv ihre Altersgenossinnen ab, sie will aber dennoch wo dazu gehören und hat in der Motorrad-Gang der Burschen einen, aber nicht unbedingt ihren Platz gefunden. Sie behauptet sich in der Beherrschung des Motorrads, ist aber dennoch nicht vor dem machistischen Gehabe der Burschen gefeit und nur so lange unter deren Schutz, solange sie ein potenzielles sexuelles Subjekt für sie ist. Der Umgang zwischen den Geschlechtern ist für diese Generation erstaunlich hart; basiert er auf Ihren Beobachtungen in der Recherche?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Ich sehe das etwas anders: Mati ist solange vor dem machistischen Gehabe gefeit, solange sie so tut, als sei sie einer der Männer. Sobald sie aber zum Objekt wird, ist sie demselben Terror ausgesetzt wie die anderen Mädchen.
Ich habe diese Szenen aus der Sicht geschrieben, wie ich in meiner Jugend gleichaltrige Männer erlebt habe. Ich habe mit Rita Waszilovics sehr viele Burschen und Mädchen gecastet. Und wenn wir den Burschen sagten, wir hätten keinerlei Benimmregeln und sie sollten sich so hemmungslos wie möglich benehmen, dann war vielleicht am Anfang ein bisschen Scham vorhanden, war aber die Handbremse mal gelöst, war keiner in Verlegenheit. Jeder von ihnen wusste, wie herabwürdigend unter Männern über Frauen gesprochen wird. Wir leben zwar in einer Zeit, in der über den Umgang der Geschlechter sehr viel verhandelt wird und das Gebot zur political correctness kaschiert einiges, ich behaupte aber, dass die Praxis dem Diskurs noch lange nicht nachgefolgt ist. L’Animale ist auch ein Film über Männlichkeit und die Frage – Was bedeutet es für ein aufwachsendes Mädchen, einerseits zu spüren, dass es diese männliche Welt gibt, mit sehr viel Macht, Privilegien und der Freiheit, sich schlecht zu benehmen, und andererseits feststellen zu müssen, dass den Frauen in unserer Gesellschaft diese Freiheit nicht gegeben ist. Ich denke, außerhalb der progressiven, urbanen Blasen ist es immer noch sehr schwer für Mädchen oder Frauen, wenn sie im Spiel des Gejagt-Werdens und des Sich-fangen-Lassens nicht unbedingt mitmachen möchten.L’Animale zeigt aber auch, dass diejenigen, die im Genuss der traditionell männlichen Privilegien sind, selbst nur scheinbar frei sind und sich an anderen schuldig machen. Mati macht sich bei übergriffigen Handlungen ihrer Gang an den anderen Mädchen mitschuldig. Sie tut so, als spielte es keine Rolle, dass sie selbst ein Mädchen ist und schließlich ist diese prekäre Position für sie nicht lange aufrecht zu erhalten.
 
 
Sie erlebt erstmals das Dilemma der Emanzipation, dass sich für jemanden zu entscheiden gleichzeitig auch sich gegen jemanden zu entscheiden bedeutet.
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Die Menschen in L’Animale scheinen auf ersten Blick selbstbestimmt und stecken tatsächlich in einem engen, gesellschaftlichen Korsett. Für ihre Befreiung müssten sie die Vorstellung aufgeben, dass alles harmonisch ist, dass man jedem gefällt, dass sich immerzu alles sicher und berechenbar anfühlt. Ich bin von der Sehnsucht getrieben, dass die Gesellschaft per se einen Schritt macht in Richtung Erwachsen-Werden und Autonomie. Das bedeutet, sich als Einzelperson von den kindlichen Wünschen nach Sicherheit und Akzeptanz anderer zu entfernen und als Gemeinschaft kritisch mit Autorität und Macht umzugehen. Es geht darum, sich weiterzubewegen, hin zu einer Verbindung von Vernunft und inneren Empfindungen. Meine Figuren machen deutlich, dass es zwar mit großen Ängsten verbunden ist, sichere Positionen zu verlassen, dass wir es aber auch wagen können. Da verbindet sich das Politische mit dem Persönlichen: Es gibt Dinge, die jede/r für sich persönlich lernen kann, und es gibt Dinge, die wir als Gesellschaft lernen sollten, um Visionen für die Zukunft zu entwickeln.
 
 
Am Land anders als die anderen zu sein, kann schwere Konsequenzen haben.
Das Überwinden der Angst, nennt Mati in der Deutschstunde das zentrale Tor zur Freiheit.  Sind es nicht vielmehr die Angst vor dem Stillstand, vor der falschen Lebensentscheidung, vor einschneidenden Veränderungen, die Mati in dieser Lebensphase rund um die Matura so in Bedrängnis bringen?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Es trifft gewiss für Mati zu. Im Zentrum steht aber auch die Geschichte ihrer Eltern. Auch sie spüren, dass sie da, wo sie sind, nicht für immer bleiben können. Diese Erkenntnis löst ihn ihnen eine unheimliche Angst aus. Sie haben vielleicht eine Ahnung davon, wie ein befreites Selbst aussehen könnte. Der Weg dorthin ist ein schwieriger. Daher interessieren mich Figuren, die zwischen Wollen und Sollen zerrissen sind. Die nach außen eine große Sicherheit vermitteln können, in sich aber zittern, weil sie spüren, sie müssen diese Position nun verlassen. Die Eltern führen uns vor Augen, wer wir werden könnten: Dass wir gewillt sind, sehr viel unter der Oberfläche auszuhalten, was uns nicht wirklich guttut, um die Kontrolle über unseren Schein zu wahren. Sie sind aber auch sehr liebenswert und zeigen uns, dass man nicht alles richtig machen kann im Leben. Die Geschichte der Eltern in L’Animale erzählt davon, welche Schmerzen es verursacht, wenn man spät im Leben draufkommt, dass man sich sehr lange etwas vorgemacht hat, dass man nicht ganz aufrichtig war oder sich etwas nicht erlaubt hat. Dass es aber nie zu spät ist, zu sich zu stehen und eine authentische Art des Seins zu finden.
 
 
Franco Battiatos Chanson L’Animale spielt eine zentrale Rolle nicht nur im Laufe der Geschichte. Was hat dieses italienische Chanson für die Entwicklung des Stoffs beigetragen? Was hat sie veranlasst, im Moment ihrer größten Einsamkeit ihre Hauptfiguren singen zu lassen? Was löst dieser Moment des Singens aus?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Als ich begann, an meinem Buch zu arbeiten, hörte ich zufällig das Chanson von Franco Battiato, das ich davor schon gekannt hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass jede meiner Figuren dieses Lied singen könnte, weil darin das zentrale Thema des Films besungen wird. Battiato singt vom Tier in sich, betrachtet es aber nicht als etwas Triebgesteuertes, sondern vielmehr als etwas Intuitives, etwas komplett Authentisches, das sich nicht verstellen kann. Er wirft auch einen ironischen Blick auf dieses Tier, weil es ständig etwas will, das er aber nicht will oder nicht wollen soll. Zugleich weiß er, dass das Tier sich am Ende immer durchsetzt. Mir gefällt der Gedanke, dass wir das, was in uns drinnen authentisch passiert, nie zurückhalten oder verstecken können, auch wenn wir alle unsere Kräfte mobilisieren, unser gesellschaftliches Korsett noch so eng schnüren. Es wird immer einen Weg nach außen finden und seinen Platz beanspruchen. Ich bin in der künstlerischen Umsetzung immer auf der Suche nach den Dingen, die zwischen den Zeilen sind, die Denk- und Gefühlsräume eröffnen. Musik ist ein Mittel dafür. Da ich Musik nicht manipulativ einsetzen will, lag mir das direkte Verwenden von Musik näher. Der Moment, in dem alle Figuren zu singen beginnen, ist einer, den ich selbst gerne öfter im Kino sehen würde. Es soll ein Moment sein, in dem man sich einfach gehen lassen kann.
 
 
Das Gebäude, das Haus/die Konstruktion per se mit ihren Nischen, Schwellen und Hintertüren, offenen, halbdunklen und dunklen Zonen, perfekt arrangierten oder unfertigen Innenräumen ist ein sehr sprechender Träger all Ihrer Innenszenen. Die Kohärenz zwischen Ort und Szene ist in L’ANIMALE besonders augenscheinlich. Was war Ihnen daran so wichtig?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Als Filmemacherin wie aus Kinozuschauerin habe ich immer Sehnsucht nach Filmen, an denen Ort und Zeit nicht durchgehend so eindeutig zuordenbar sind, sodass man in einen Erzählraum hineinfinden kann, der vielleicht über den Dingen schwebt. Das habe ich gemeinsam mit meinem Kameramann Michael Schindegger und Katharina Haring, die die Ausstattung gemacht hat, versucht herzustellen. Es kommt z.B. während des ganzen Films kein Handy vor, die Häuser sind mitten im Wald, vieles wird ausgespart wie der Weg zur Schule und deren Umfeld. Die Dunkelheit spielt eine große Rolle: als Versteck, als Angst-Ort, als Projektionsraum. Oder es gibt immer wieder ein Bewegen aus unkonkreten, psychoanalytisch bedeutungsvollen Nicht-Räumen hin zu konkreten Räumen. Immer wieder ist es ein Versuch, das Außen und das Innen, das Konkrete und das Unkonkrete zu verbinden.
 
 
Das Außen ist in Ihren Bildern eindeutig von der grünen Natur dominiert, die in ihrer sommerlichen Gefälligkeit, in ihrer Unheimlichkeit und in ihrer Schutzfunktion zu erleben ist.
Für die Motocross-Bahn haben sie allerdings eine rein mineralische, vegetationsfreie Welt aus Schotter und Stein gewählt. Auch der Parkplatz mit der Leinwand eines aufgelassenen Autokinos ist sehr beeindruckend. Wie wählten Sie ihre Außenlocations aus?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Für Mati und die Burschen haben wir den Steinbruch und das verlassene Autokino ausgesucht, weil ich dem Ganzen einen westernartigen Anstrich geben wollte. Ich wollte zeigen, wie stark man sich fühlen kann, wenn man so unheimlich cool ist und meint, es gehöre einem die Welt und man könne über andere entscheiden. Wenn man ständig in Konkurrenz zu den anderen ist, sich an ihnen misst und unheimliches Selbstvertrauen daraus bezieht, den anderen zu besiegen. Als Jugendliche habe ich es an Männern ungemein beneidet, dass sie in einem so einfachen System von ständiger Verbrüderung, dann wieder in Konkurrenz agieren. Ich hatte Lust auf einen Film, in dem ich mit männlichen Sujets spielen konnte und da gehört der entsprechende Raum dazu. Der Steinbruch ist für mich wie eine Wüste in einem Western. Die Gruppe hat ganz spezielle Räume, die alle wie eine Arena sind, in der sie ihre eigene Herrlichkeit inszenieren. Und was den Steinbruch betrifft: es war eine wahnsinnige Logistik und zugleich ein riesiges Vergnügen, dort tagelang mit Quads herumzufahren und Motocrossfahrerinnen und -fahrer zu filmen.
 
 
Es gibt zwei Ventile, über die die Jugendlichen ihre Energien, gestauten Hormone, Wünsche nach Freiheit abbauen – das Motorradfahren und das Tanzen – letzteres, um bei sich zu sein, mit dem anderen in Verbindung treten, um Grenzen zu überschreiten, die ohne Tanz tabu wären. Wie haben sich diese Tanz-Szenen entwickelt, wie haben Sie sie inszeniert/choreografiert?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Beim Schreiben ist das Tanzen ein sehr geeignetes Ventil, meine Figuren aus der Kontrolle zu entlassen, um zu zeigen, was in ihnen vorgeht. Wir haben uns für die Disco-Szenen der Burschen viel überlegt, welche Musik sie hören, wie sie dazu tanzen. Es hat großen Spaß gemacht, diese Szenen zu entwickeln und den Burschen etwas schräge Tanzstile einzuschreiben. Beim Tanzen von Mati und Carla ging es darum, dem etwas entgegenzusetzen und zu zeigen, dass Tanzen auch verbindend sein kann. Manchmal ist es einfacher, sich miteinander zu bewegen als miteinander zu sprechen. Eine richtige Choreografie gab es bei den meisten Tanzszenen nicht, aber das Tanzen habe ich vorab geprobt, um zu sehen, wer wie stark aus sich herausgehen kann. Wo Spielhandlung und Tanz ineinander übergehen, habe ich hingegen choreografiert.
 
 
Sie haben mit vielen Jugendlichen gearbeitet, wie haben sich Casting und Vorbereitungsarbeit gestaltet?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Ich habe sowohl für die Rolle der Carla als auch für die Burschenclique sehr viele Teenager gecastet. Die Castingagentin Rita Waszilovisc, die auch Einer von uns von Stephan Richter mit Jack Hofer, Simon Morzé und Dominik Singer besetzt hat, hat mir die drei auch für meine Motorrad-Gang vorgeschlagen. Als wir zum ersten Mal gemeinsam geprobt haben, war schnell klar, dass das eine optimale Konstellation war. Sie waren aus der vorangegangenen Dreherfahrung heraus wie eine eingeschworene Gruppe, mit der Sophie nun spielen musste – das spiegelte sehr gut, was in der Geschichte passiert. Die Darstellerin der Carla wollte ich ein bisschen älter als Mati haben. Für diese Rolle habe ich einige junge Schauspielerinnen getroffen – Julia Richter war überzeugend, weil sie so eine Lässigkeit hat. Ich wollte eine Figur, die zeigt, dass man ein selbstbestimmtes Mädchen sein kann, ohne sich zu verstellen. Diese Stärke, keinen Wert darauf zu legen, allen zu gefallen, das hat Julia sofort ausgestrahlt.
 
 
Die Literatur klopft immer wieder in Form von Zitaten aus dem Deutschunterricht an. Wie sehr ist für Sie auch die Literatur eine Inspirationsquelle? Wie wichtig ist in dieser Lebensphase eine Lehrerpersönlichkeit?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: Für mich war Schule immer sehr zwiespältig: ein Gefängnis und zugleich das Fenster zur Welt. Ich wollte Schule auch als Ort zeigen, an dem Gesellschaft gebildet wird. An dem ein paar wenige Leute versuchen, Werte und große Gedanken zu vermitteln. Und vieles hat sich mir ganz gewiss über die Literatur eröffnet. Im Film fließt mehrmals ein Zitat von Goethe aus seinem Gedicht Die selige Sehnsucht ein. Darin kommt die Strophe vor „Und so lang du das nicht hast/ Dieses: Stirb und Werde/ Bist du nur ein trüber Gast/ Auf der dunklen Erde.“ Beim Schreiben hatte ich Assoziationen mit Kostümfilmen, Geschichten des 19. Jahrhunderts, in denen die Menschen so stark am gesellschaftlichen Korsett leiden, mit ihrem inneren Aufbegehren kämpfen.
 
 
Wer gewinnt im Leben? Die Angst oder die Leidenschaft? Ein Blick in die Generation der Eltern lässt einiges offen. Weder von ihrem Vater noch von Mati werden wir erfahren, ob sie sich eindeutig, und wenn zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlen. Wie mutig Mati in ihre Zukunft gehen wird, bleibt ebenso ungewiss. Vieles bleibt in Schwebe. Ging es Ihnen auch darum, eine Erzählung in diesem Schwebezustand zu schaffen?
 
KATHARINA MÜCKSTEIN: In der Drehbucharbeit habe ich sehr viel mit Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer und Libertad Hackl über das mögliche Ende von L’Animale gesprochen. Ich bin immer wieder zu dem Punkt zurückgekehrt: Im Hinblick auf die humanistische Emanzipation, aber auch das Geschlechterthema in der heutigen Gesellschaft, fände ich es romantisierend, eine finale Emanzipation zu erzählen. Da ich aber allen Menschen zutraue und wünsche, sich zu befreien, möchte ich das Publikum ermutigt aus dem Film entlassen. Emanzipation ist möglich. Alle Figuren des Films erkennen letztlich: Wer sich emanzipiert, gegen Konventionen stellt und nicht überall mitmacht, der hat auch mit Feindseligkeit und möglicherweise Aggression zu rechnen. Da stehen wir als Gesellschaft. Ich konnte mich nicht zu einem Happy End durchringen, ich wollte auch kein fatalistisches Ende schreiben, somit war klar, dass der Film offen enden muss.
 
 
Interview: Karin Schiefer
November 2017
 
«Mir gefällt der Gedanke, dass wir das, was in uns drinnen authentisch passiert, nie zurückhalten oder verstecken können, auch wenn wir alle unsere Kräfte mobilisieren, unser gesellschaftliches Korsett noch so eng schnüren. Es wird immer einen Weg nach außen finden und seinen Platz beanspruchen. »