INTERVIEW

«Prickelnd und strange...»

Alice hat sich mit ihrem Sohn Joe ihr Mutterglück erfüllt und auch beruflich einen großen Wurf gelandet: Ihre gentechnisch fabrizierte Blume Little Joe erfreut als schöne Gestalt und verspricht, ihre Betrachter glücklich zu machen. Doch irgendwie scheint sich plötzlich so Einiges gegen Alice zu wenden. Jessica Hausner lässt in ihrem fünften Langfilm Little Joe die Kräfte des Kinos sich verselbständigen, um sie umso virtuoser zusammenwirken zu lassen und dem Zweifel ein filmisches Fest zu bereiten.
 

 
 
Es gibt zu Ihren Filmen meist einen kleinen Anstoß, der etwas Großes ins Rollen bringt. Was hat Sie für Ihren fünften Langfilm ins Milieu der Wissenschaft geführt?
 
JESSICA HAUSNER: Der Auslöser zu Little Joe hatte dieses Mal etwas mit Frankenstein zu tun: Ich dachte an eine weibliche Version der Frankenstein-Geschichte. Im frühen Gedankenaustausch mit meiner Ko-Autorin Geraldine Bajard tauchte sehr bald die Idee auf, dass es sich bei der Protagonistin um eine Gentechnikerin handeln könnte, womit ein aktuelles Thema gegeben war. Eine weiterer Clou der Geschichte war der, dass es ein Happy End geben musste. Frankenstein würde am Ende seine Kreatur nicht umbringen, sondern im Gegenteil, sie würden in wechselseitiger Harmonie miteinander leben. Wir dachten an ein leicht skurril-ironisches Happy-End.
 
 
Alice, die Protagonistin in Little Joe, ist Mutter eines heranwachsenden Jungen und eine ehrgeizige und talentierte Gentechnikerin. Einer der Grundkonflikte in Little Joe liegt im Dilemma zwischen ihren Ansprüchen, gerne Mutter zu sein und es beruflich weit bringen zu wollen. Ein schwer vereinbares Gegensatzpaar. Nun ist sie in der genetischen Pflanzenzüchtung als genetic breeder tätig; auch eine Mutter ist ein „genetic breeder“. Das Gegensatzpaar ist gleichzeitig auch das Gleiche. Dass alles gleich und auch das Gegenteil sein könnte, scheint der Grundtenor Ihres fünften Langfilms Little Joe zu sein.
 
JESSICA HAUSNER: Ganz grundsätzlich interessiere ich mich für ambivalente, nicht lösbare Situationen, die in sich widersprüchlich sind und für die es keine Antwort gibt. Man könnte es auch Gordische Knoten nennen. Die Lebenssituation von Alice, die ihr Kind und auch ihren Beruf liebt und beiden nicht gerecht werden kann, bildet einen klassischen Gordischen Knoten. Die Spannung, die daraus resultiert, treibt auch die Hauptfigur von Little Joe an.
 
 
Eine andere Frage, die sich durch Ihre Arbeiten zieht, ist die, wie verlässlich bzw. vage unsere Wahrnehmung ist: Jene der Umwelt, jene der uns nahen Menschen, jene von uns selbst.
 
JESSICA HAUSNER: Auch das ist ein aktuelles Thema. Ich habe verstärkt den Eindruck, dass wir in einer Zeit der multiplen Wahrheiten leben. Man kann Richtig oder Falsch nicht mehr eindeutig voneinander unterscheiden, sei es durch die Wissenschaft, sei es durch die Überinformiertheit aus dem Internet. Es wird immer empfohlen, Internet-Seiten auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, aber wer soll das denn überprüfen? Es ist gar nicht möglich, in der Überfülle die „richtigen“ Informationen herauszufischen. Interessant finde ich dabei, dass die Wissenschaft heute die Funktion übernommen hat, die früher die Religion geleistet hat, indem sie sagte, was richtig und was falsch sei. Heute haben wir es mit einer sehr ausgeprägten Wissenschaftsgläubigkeit zu tun, weil man sich so stark nach einer objektivierbaren und ultimativen Antwort sehnt. Ist Gentechnik nun gut oder schlecht? Wir haben in der Recherche sehr viele Interviews mit Wissenschaftlern geführt und festgestellt, dass man, je nachdem, mit wem man spricht, auch unterschiedliche Sichtweisen bekommt. Je genauer man hinschaut, umso unschärfer wird das Bild, das man sich machen kann. Die Personen, die am meisten wissen, geben die widersprüchlichsten Aussagen. Es entsteht ein Kaleidoskop von verschiedensten Aspekten, das sehr viel mit unserer Wahrnehmung zu tun hat. Jeder Mensch bildet sich seinen eigenen Blick auf die Welt und formt sich seine eigene Wahrheit. Genrefilm als Erzählform liefert wie bei Märchenerzählungen am Ende eine klare Antwort und der Knoten löst sich. Daher hat es sich geradezu aufgedrängt, einen Genre-Variations-Film zu machen, bei dem die Erwartungshaltung „Was wird am Ende die Antwort sein?“ überraschenderweise zu einer Vielfalt an Antworten führt: es gibt bei Little Joe Lösungen, aber jeder kann sich seine aussuchen. Es ist nicht so, dass nur eine die Richtige ist.
 
 
Wo würden Sie das Genre von Little Joe einordnen?
 
JESSICA HAUSNER: Für mich haben Genrefilme etwas von Märchenfilmen, weil sie formal nach klaren Regeln funktionieren und auch gesellschaftlich moralisch genaue Vorgaben machen, was zu tun bzw. nicht zu tun ist. Science Fiction ist das eine Genre, Psycho-Thriller das andere Genre, das in Little Joe wirksam wird. Normalerweise wird im Psycho-Thriller am Ende klargestellt, wer die Verrückten waren und wer die Bösewichte, die die Verrückten ausgenützt haben. In meinem Film ist das anders. Am Ende weiß man immer noch nicht, wer mit seinen Behauptungen nun Recht hat.
 
 
LITTLE JOE ist ein sehr subtil und perfid konstruiertes Drama in einem vielschichtigen Spiel von Dilemmata und Oppositionen: es geht um Natur und Künstlichkeit, Nähe und Distanz, Vertrauen und Misstrauen, Verpflichtung und Freiheit, Witz und Angst, Mutter-Sein und Karriere, allein oder im Team arbeiten, allein oder mit einem Partner leben. Sie haben diesmal von Beginn an mit ihrer Ko-Autorin Geraldine Bajard zusammengearbeitet. Könnte man sagen, dass die gemeinsame Drehbucharbeit eine sehr fein abgestimmte Gleichgewichtsübung war?
 
JESSICA HAUSNER: Wenn zwei Leute eine Thematik hin- und herwenden, dann kann diese spannende Widersprüchlichkeit erst entstehen. Wenn ich in die eine Richtung argumentiere, argumentiert Geraldine möglicherweise in die andere. Auf diese Weise spielen wir miteinander das Good cop/Bad cop-Spiel, das sehr wichtig ist. Wir arbeiten seit Lourdes miteinander, ein Film, den ich in meinem Schaffen als einen Wendepunkt betrachte. Seither verspüre ich das Bedürfnis, Filme zu machen, die widersprüchlich argumentiert sind. Das war der Moment, wo mir bewusst geworden ist, dass ich das nicht alleine herstellen konnte, sondern eine Partnerin dazu brauchte. Das ist seither Geraldine. Uns vereint ein ähnlicher Sinn für Humor, gleichzeitig hat sie oft ganz andere Ansichten. Es ist gerade diese Reibung, die bei uns so gut funktioniert.
 
 
Das Spiel mit Oppositionen ist ein Grundcharakteristikum der Komödie. Ihre Lust, der beunruhigenden und destabilisierenden Grundthematik der Geschichte, den Schalk entgegenzuhalten, ist diesmal sehr stark durchgekommen. Warum? Wie ließ sich dieser Schalk einbetten?
 
JESSICA HAUSNER: Der Schalk entsteht meiner Meinung nach aus einem Erkenntnismoment heraus, in dem man plötzlich seine eigene Lächerlichkeit begreift. Wann ist man denn lächerlich? Möglicherweise dann, wenn man glaubt, Recht zu haben. Daher rührt der Schalk in Little Joe: Es geht nämlich nicht nur um die Figuren, sondern es wird auch unsere Haltung zu Filmgeschichten auf den Arm genommen und darüber ein Witz gemacht, wie sehr wir beim Filmeschauen denken, dass eins und eins zwei ist und eine Geschichte Sinn machen muss. Das ist der Witz der darunterliegt. Die Ästhetik des Films, die Kamerapositionen relativieren immer wieder den Blickpunkt, von dem aus die Geschichte erzählt wird und manchmal ist das eben auch auf eine lakonische Weise witzig, wenn die Kamera zunächst zwar auf die Protagonistin zufährt, im entscheidenden Moment dann aber einfach weiter an ihr vorbeifährt. Wir werden nie erfahren, wie die Sache im Off schließlich weitergegangen ist.
Ich freue mich, wenn gelacht wird, denn darum geht es ja eigentlich. Schon bei Lourdes gab es die Momente, wo ich genau an den Tabustellen, einen Anlass zum Lachen gegeben habe. Ich will damit sagen: Man kann über Religion lachen, man kann über Wissenschaft lachen, und zwar in dem Moment, in dem man begreift, das wir alle dieser Sehnsucht erliegen, Antworten zu finden, wo es keine Antworten gibt.
 
 
Sie haben erstmals auf Englisch gedreht und bereits das Drehbuch und somit die Dialoge auf Englisch geschrieben. Wie sehr wirkt sich eine andere Sprache auf den Entstehungsprozess aus? Färbt eine andere Sprache auch auf die Gestaltung einer Figur ab?
 
JESSICA HAUSNER: Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die englische Sprache kommt mir sehr entgegen, weil sie knackig und präzise, schlicht und trocken ist. Es lassen sich Dinge einfach und witzig sagen, ohne pathetisch zu sein. Etwas, was mir im Deutschen schwieriger vorkommt. Man flüchtet sich dann im Österreichischen in Dialekt und Umgangssprache, um diese Art von trockenem Witz herzustellen. Die englische Sprache liefert das von vornherein und eignet sich daher für meine Art von Humor. Ob es auf die Entwicklung der Figuren eine Auswirkung hat, könnte ich nicht sagen. Die Figuren und die Geschichte haben wir entwickelt, unabhängig davon, ob sie in England oder anderswo spielt. Englische Finanzierungspartner von BFI und BBC sagten mir, dass sie zunächst schon die Befürchtung hatten, dass aus einem englischsprachigen Film einer österreichische Regisseurin, ein möchte-gern englischer Film herauskommen könnte. Sie finden aber nun, dass der Film seinen ganz eigenen Charakter hat, egal, ob er auf Englisch oder Deutsch gedreht worden wäre. Sie sind erleichtert, dass es kein „britischer“ Film geworden ist. Ich habe mich aber auch nie darum bemüht, besonders „authentisch“ zu sein. Ich bin ja eher eine Liebhaberin der Künstlichkeit.
 
 
Lourdes haben Sie auf Französisch, Amour Fou in einem literarischen Deutsch des frühen 19.Jhs. Little Joe auf Englisch gedreht. Hat es beim Drehen einen Vorteil, wenn die Sprache der Dialoge sich von der Alltagssprache abhebt?
 
JESSICA HAUSNER: Ich finde, das ist ganz angenehm. Beim Drehen gerät man leicht in einen Wiederholungszwang, sieht immer noch einen kleinen Fehler und will eine Szene immer noch einmal wiederholen. Da ist es wichtig, kurz vor die Tür zu gehen und nochmals zu überlegen. Die fremde Sprache hilft mir da, eine angenehme Distanz auf die eigene Arbeit zu halten.
 
 
Um für den wissenschaftlichen Aspekt von Little Joe die Grundlage zu schaffen, gab es gewiss eine intensive Recherche im Bereich der genetischen Pflanzenzüchtung. Wie haben Sie recherchiert? Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gezogen, die vielleicht überraschend waren? Wie sind die Grenzen zwischen dem Faktischen und der Fiktion ineinander verschwommen?
 
JESSICA HAUSNER: Die Grundidee, dass die Pflanze die Menschen auf irgendeine Weise befällt, war zu Anfang schon vorhanden. Dann begannen wir zu recherchieren, wie das möglich sein könnte. Wir wollten natürlich nicht wie bei Bodysnatchers außerirdische Seed-Pots auf die Erde fallen lassen, sondern wir waren daran interessiert, eine realistische Storyline zu finden. Wir haben mit Humangenetikern, Pflanzengenetikern, Neurologen etc. gesprochen und hatten auch zwei Wissenschaftler, die uns durch das gesamte Projekt begleitet haben. Auf ihre Anregung hin haben wir gemeinsam die Theorie eines Virus entwickelt, der von der Pflanze auf den Menschen überspringt. Ein Virus kann sich am ehesten so stark verändern, dass so eine Mutation theoretisch möglich ist. Es ist noch immer nicht sehr wahrscheinlich, aber es sollte ja auch in gewisser Weise eine unwahrscheinliche Geschichte bleiben. Die Virus-Version wäre zumindest denkbar.
 
 
Wie sehr haben Sie Themen, wie die Durchdringung der Privatsphäre durch moderne Technologien, die ethische Verantwortung des Wissenschaftlers oder die Dystopie von der völligen Gleichschaltung der Menschen beschäftigt?
 
JESSICA HAUSNER: Letzteres ist genau das, was ich nicht erzählen wollte. Ich würde niemals einen Science-Fiction-film drehen, wo am Ende alle Menschen gleichgeschaltet und entmenscht durchs Leben stapfen. Das halte ich für ein überholtes Klischee. Es ist gut, dass es Romane wie 1984 oder Brave New World gibt, aber das ist schon lange her. In der heutigen Zeit geht es um etwas anderes: nämlich, dass das schlicht und einfach unsere Zukunft ist. Also schließen wir Freundschaft mit ihr! Es wird eine Zukunft sein, wo Menschen ge-gentechnikt und optimiert sind und wir vielleicht mit Computern zusammenleben, die menschlich aussehen. Ich habe keine Lust, darüber nachzudenken, dass es früher so schön war, als eine schiefe Nase noch eine schiefe Nase war. In Zukunft werden wir alles optimieren. Ich fühle mich nicht aufgefordert, darüber zu urteilen, ob das gut oder schlecht ist. Mich interessiert zu überlegen, was es mit uns machen wird und den Blick in die Zukunft zu wagen, ohne zu sagen, dass es unbedingt schlecht werden wird. Es wird – wie immer – alles seine Vor- und Nachteile haben.
 
 
Neben der thematischen ist die zweite große Sphäre des Films die visuelle. Ein Protagonist des Films ist die Blume – Little Joe. Wie hat diese Blume zu ihrer Gestalt gefunden?
 
JESSICA HAUSNER: Zu Beginn gab es auch die Überlegung, eine echte Blume zu nehmen. Aus logistischen Gründen mussten wir diese Idee aber schnell verwerfen, weil man echte Pflanzen über einen längeren Zeitraum zu wenig unter Kontrolle hat. Die Blumen mussten ja für den Dreh drei Wochen lang gleich ausschauen. Ich habe dann ein Vorbild gefunden – Scadoxus Haemanthus, die so genannte Blutlilie. Dann habe ich verschiedene Designer und Prop-Maker um Entwürfe gebeten. Wir haben uns für Marko Waschke entschieden, weil er sehr gut den humorigen Unterton verstanden hat. Eine unserer Vorgaben für die spätere Animation war dann, dass die Bewegungen der Blume mechanisch wirken sollen, ähnlich einer Marionette. Es ging immer darum, auch die Ironie des Ganzen zu transportieren. LITTLE JOE sollte nie ein Wissenschaftsthriller werden. Marko Waschke hat dann mit einem Team von 20 Leuten in wenigen Wochen die Blumen, die wir ja zu Hunderten brauchten, gebastelt. Alles in vier Blütenstadien: geschlossen, halboffen, mittel offen, ganz offen.
 
 
Farbigkeit ist schon seit Lovely Rita ein bestimmender Faktor in Ihrer Arbeit. So dominant wie in Little Joe war es wohl noch nie: beginnend mit den roten Haaren der Protagonistin, dem Rot der Blumen, dem Grün in seinen Nuancen für das Labor ... Welche Ansprüche haben Sie in der Zusammenarbeit mit Ihrer Schwester Tanja Hausner für Kostüm und Katharina Wöppermann für die Ausstattung beschäftigt?
 
JESSICA HAUSNER: Ich wusste auf alle Fälle, dass die Blume rot sein musste. Rot ist eine Signalfarbe, die in allen meinen Filmen eine Rolle spielt. Rita hat rote Schuhe, Flora einen roten Koffer, meine Protagonistin in Lourdes einen roten Hut. Diese Farbe stand fest. Was die anderen Farben angeht, bestimmt immer stärker meine Schwester Tanja die Farben. Tanja kommt am Beginn mit unzähligen Bildern, die sie von Zeitschriften bis Kunstbüchern zusammengesammelt hat, und auch mit ihrem Farbvorstellungen. Die rote Blume und die hellgrünen Labormäntel waren die Basis dieses Farbkonzepts. Die Farben sind so wichtig, dass der Kameramann Martin Gschlacht beim Einrichten des Bildes darauf besteht, dass die Stand-ins im Kostüm sind, weil die Farben für die Lichtsetzung so entscheidend sind. Die Bilder funktionieren nur mit dem Kostüm.
 
 
Der Look des Films steht für eine gegenwärtige Zeitlosigkeit, für eine Gratwanderung zwischen Plausibilität und Künstlichkeit. Wo wollten Sie die Grenzen ausreizen und überschreiten?
 
JESSICA HAUSNER: Das überlasse ich Tanja. Sie hat im Laufe der Zeit ihren eigenen Stil entwickelt, der viel damit zu tun, dass sie Kostüme entwirft, die nicht ganz verortbar sind. Es könnte sein, dass jemand nur morgens das falsche Stück aus seinem Kasten gegriffen hat oder aber auch, dass der eigenwillige Kleidungsstil uns in die Vergangenheit oder Zukunft versetzt. Letztlich ist es eine Stilisierung, die sich einer direkten Deutbarkeit entzieht. Mit ihrem starken Farbkonzept erreicht Tanja eine Ästhetisierung und Stilisierung, die im Vordergrund stehen, während die Bezüge von Ort und Zeit in den Hintergrund treten. Tanja destilliert auch, indem sie Charaktereigenschaften bis zur Skurrilität übertreibt. Ein gutes Beispiel dafür ist das T-Shirt des Laborleiters Karl, das er in verschiedenen Farbvariationen trägt. Da hat sie einen eigenen Griff. Die Gratwanderung zwischen plausibel und künstlich begleitet uns durch die gesamte Arbeit. Einzig das Schauspiel ist ein Faktor, wo es nicht kippen darf. Das muss authentisch und glaubwürdig sein, auch wenn ich den Schauspielern manchmal einen karikaturistischen Unterton suggeriere, damit sie das Lustige an einer Szene besser darstellen können.
 
 
Die seit Ihren ersten Filmen bestehende Zusammenarbeit mit Kameramann Martin Gschlacht beeindruckt dieses Mal ganz besonders mit ihren Kamerabewegungen – einerseits die horizontalen und drehenden Bewegungen und die völlig überraschenden Durchfahrten. Welche Überlegungen gab es dazu?
 
JESSICA HAUSNER: Eine Konstante in unserer Arbeit ist das Spiel zwischen On und Off. Wie verhält sich die Kamera im Verhältnis zu den handelnden Figuren? Es geht uns um die Entlarvung des Blicks, um den subjektiven Blick. Ich will miterzählen, dass mein Blick auch nur ein möglicher Blick auf das Geschehen und nicht der allumfassende Blick ist. Meine Filme erzählen keine lückenlose Welt, sondern im Gegenteil, sie verweisen darauf, dass auch ich keine eindeutige Sicht auf das Geschehen habe. Ich zeige einen Ausschnitt, aber im Off passiert gleichzeitig vielleicht gerade das, was wichtig gewesen wäre, was wir alle aber leider versäumt haben. Vielleicht wäre ausgerechnet dort die Antwort gelegen. Es gibt Kamerafahrten an Personen vorbei. Wenn eine Kamera auf jemanden zufährt, dann besteht die Hoffnung zu verstehen, was dieser Mensch sagt und was es für die Geschichte bedeutet. An ihm jedoch vorbei und auf den Vorhang zuzufahren, bedeutet ein Augenzwinkern und erzählt davon, dass alles relativ ist und wir nicht wissen, ob die Figur nun Recht hat. Es relativiert unseren Blick auf das Geschehen.
 
 
Ganz besonders präsent ist in Little Joe der Sound bzw. die Musik. Warum fiel die Wahl auf den japanischen Komponisten Teiji Ito?
 
JESSICA HAUSNER: Teiji Ito hat auch Filme von Maya Deren vertont, die in den vierziger und fünfziger Jahren Experimentalfilme gemacht hat. Sie ist eine Regisseurin, die mir die Augen geöffnet hat, ihre Filme inspirieren mich immer wieder. Ich glaube vor allem deshalb, weil sie ohne Spezialeffekte, einfach nur durch Schnitt und Inszenierung eine surreale Welt entstehen lässt, das beeindruckt mit sehr. Bei ihr versetzen Füße, die die Stiegen hinaufgehen, allein durch die Art und Weise, wie sie gefilmt sind, den Zuschauer in eine völlig andere Welt. Ihrer Arbeitsweise fühle ich mich sehr nahe. Ich denke auch an ihre Schnitttechnik, wo durch einen Bewegungsschnitt Raum und Zeit überbrückt werden. Maya Deren hat dieses Medium extrem gut verstanden und ausgereizt. Ihr Film Meshes of the Afternoon ist auch durch die Musik so großartig. Durch sie bin ich auch auf Teiji Ito gekommen. Seine Musik ist einerseits mitreißend und emotionalisierend, andererseits auch eine befremdlich, seltsame Musik, die für sich selbst steht. Die Musik unterstreicht den Film einerseits und zugleich stellt sie sich völlig solistisch auch dagegen. Deshalb funktioniert es auch. Ich hätte keinen Komponisten engagieren können, weil ich keine Musik für den Film wollte, sondern eine, die sich dagegen stellt.
 
 
LITTLE JOE legt auch nahe, eine persönliche Dimension anzusprechen: Sie kennen gewiss die Zerrissenheit zwischen Mutter-Sein und hohen beruflichen Ansprüchen, vor allem aber haben Sie es mit der Einladung von Little Joe in den Wettbewerb um die Goldene Palme ins alleroberste Segment der Anerkennung geschafft, wo es nach wie vor schwierig ist, sich gegen männliche Präsenz zu behaupten. Was bedeutet diese Einladung für Sie?
 
JESSICA HAUSNER: Im Wettbewerb von Cannes zu laufen, macht schon einen gewissen Unterschied. Das merke ich an den Reaktionen der Menschen und daran, wie sehr nun meine bisherige Arbeit wahr- und vor allem auch ernst genommen wird. Es ist ein wichtiger Schritt und ich bin sehr glücklich, dass es so gelaufen ist, gerade weil wir nicht damit gerechnet hatten. Little Joe ist mein erster Film, bei dem ich dachte: „Wo auch immer er laufen wird, ich lasse mir davon mein Filmemachen nicht schubladisieren. Ich mache meine Filme so, wie ich es gut finde, und will mich an Dingen freuen, die mir gefallen und es wird schon jemand anderem auch gefallen.“ Insofern war das eine großartige Überraschung, dass dieser Film so positiv aufgenommen wurde. Es ist nun bald zwanzig Jahre her, dass ich meinen ersten Langfilm Lovely Rita gemacht habe und jetzt glaube ich an einem Punkt zu sein, dass ich mit meinen Leuten – Martin Gschlacht, Karina Ressler, Tanja Hausner, Katharina Wöppermann – über Jahre etwas entwickelt habe. Klar mag ein Film mehr Anklang finden als ein anderer. Aber wir werden unseren Weg einfach weitergehen. Wir wollen etwas wagen, das prickelnd und strange ist...


Interview: Karin Schiefer
Mai 2019
 
«Meine Filme erzählen keine lückenlose Welt, sondern im Gegenteil, sie verweisen darauf, dass auch ich keine eindeutige Sicht auf das Geschehen habe. Ich zeige einen Ausschnitt, aber im Off passiert gleichzeitig vielleicht gerade das, was wichtig gewesen wäre, was wir alle aber leider versäumt haben. Vielleicht wäre ausgerechnet dort die Antwort gelegen.»