INTERVIEW

«Konzentration auf die innere Bewegung»

Wenn sich Bettina Henkel an ihre Kindheit erinnerte, dann passten manche Dinge nicht zusammen. Ungereimtheiten und Unbehagen, die sie veranlassten, mit ihrem Vater die Orte seiner Kindheit aufzusuchen und in Kinder unter Deck der baltisch-deutschen Familiengeschichte während des Nationalsozialismus auf den Grund zu gehen. Eine bewegende Begegnung zwischen den Generationen auf den Etappen einer sehr persönlichen Reise an vertraute Orte, blinde Flecken und wunde Punkte.
 

 
Was steckt eigentlich hinter dem Titel „Kinder unter Deck“?
 
BETTINA HENKEL: Das „Kinder unter Deck“-Manöver, von dem ich im Film erzähle, bestand darin, dass mein Vater uns während Autofahrten in unserer Kindheit diesen Satz zurief, nein zuschrie, und wir uns hinter den Vordersitzen des Wagens zusammenkauern mussten. Es hat mich sehr geprägt. Meine Eltern behaupteten immer wieder, es sei eine Sicherheitsmaßnahme gewesen in Zeiten, wo es auf der Rückbank noch keine Sicherheitsgurte gegeben habe. Diese Version blieb bis zu den Dreharbeiten aufrecht. Ich habe dieses Erlebnis einem Kollegen erzählt, der spontan antwortete: „Ihr wärt vor Kugelhagel bestens geschützt gewesen, aber nicht im Falle eines Verkehrsunfall.“ Als ich meinen Vater mit diesem Kommentar konfrontiert habe, erwiderte der: „Fliegeralarm!“ Durch diese Assoziation wurde mir die Verknüpfung mit seinen Erinnerungen klar und es war das initiale Moment, da nachzubohren.
 
 
Gedanken zu Kinder unter Deck werfen formale wie inhaltliche Fragen auf, sehr rasch stehen aber auch sehr persönliche Fragen im Raum. Unmittelbar reflektiert das wohl auch ein Grundgefühl, das Sie in diesem Projekt von Beginn an begleitet haben muss: gleichzeitig Filmemacherin wie Protagonistin zu sein und in Ihrer Rolle als Tochter auch unkalkulierbaren Emotionen ausgesetzt zu sein. Wie sind Sie mit diesem Spannungsfeld umgegangen?
 
BETTINA HENKEL: Im Zuge der Reise, die ich mit meinem Vater unternommen habe, wurde es quasi unmöglich, diese verschiedenen Ebenen auseinander zu halten. Es war schwer, Tochter zu sein, Sorge um den Vater zu haben, gleichzeitig selber Betroffene zu sein und diese eigene Betroffenheit sehr stark zurückzunehmen. Ich hatte mit meinem Team aber auch vereinbart, dass ich in manchen Situationen gewisse Aufgaben der Regieebne ans Team abgegeben würde und die Kamerafrau Astrid Heubrandtner hat sehr sensibel auf die Situation reagiert. In der Entwicklungsphase, die von Recherchen geprägt war, konnte ich die Emotion gut hinten anstellen und war mir dieser Mehrfachrolle nicht so bewusst. Ich hatte viel über transgenerationale Dynamiken gelesen, dass es mich aber selbst betreffen und einholen könnte, wie stark die bereisten Orte auf meinen Vater und mich wirken würden, das hatte ich tatsächlich unterschätzt. Das Tolle am Film ist die Teamarbeit und ohne mein Team, im Dreh, Schnitt und der Dramaturgie, wäre das für mich filmisch nicht zu bewältigen gewesen.
 
 
Der Film beginnt mit Super 8-Material aus den siebziger Jahren, das für eine Autofahrt in den Familienurlaub steht; Erinnerungen daran spielen eine ganz wesentliche Rolle. Kinder unter Deck ist ein Reisefilm, Fortbewegungsmittel, das Auto im Besonderen, sind daher ein wesentliches Element. Im Kontrast zum Super-8 Film, sitzen nun Sie am Steuer – allein oder mit Ihrem Vater am Beifahrersitz. Wie wichtig war es, dass Sie im Umgang mit Ihrer Familiengeschichte, das Steuer in die Hand genommen haben?
 
BETTINA HENKEL: Danke für diese schöne Beobachtung! Ich hatte mir im Zuge der Recherchen ein großes Wissen angeeignet, sodass ich in der Lage war, meinem Vater dieses Wissen bewusst erst im Laufe der Reise mitzuteilen.  Die Prämisse unserer Reise war, dass nicht der Vater der Tochter bestimmte Orte zeigt, sondern dass die Tochter den Vater an Orte führt, die dieser nicht unbedingt sehen wollte, wie z.B. Riga. Somit war auch klar, dass ich am Steuer sitzen und die geplante Route durchziehen würde. Es war ja symbolisch eine Erinnerungsreise zurück zu etwas Vergrabenem, auch Unerwünschtem. Das Super-8-Material, das eine verdichtete Kindheitserinnerung darstellt, hat mir sehr gut geholfen, die Ebenen in der emotionalen Erinnerungsreise zu verknüpfen.
 
 
Mit welchen familiären Narrativen wurden Sie seit der Kindheit ausgestattet? Wussten Sie viel über Ihre Familiengeschichte in Lettland?
 
BETTINA HENKEL: Es gab zum einen die Erzählungen der Großmutter, die mir subkutan vermittelt hat, wie toll die deutsch-baltische Vergangenheit in Lettland war, als wäre es ein Land gewesen, wo Honig und Milch geflossen sind. Gleichzeitig habe ich als Kind auf Familienfesten erlebt, wie angespannt die Situation war und gestritten wurde, bis die Tränen flossen. Den Hintergrund dafür habe ich nie verstanden. Das Narrativ „die Großmutter ist aus Lettland und der Großvater ist gefallen“ war mir bekannt, mehr wusste ich nicht. Im ersten Nachfragen kam die Erzählung zu der Zeit in Polen auf, dass der Besitzer des polnischen Ritterguts Jaronty hinter dem Haus erschlagen worden sei, bevor meine Großeltern im Zuge der Umsiedlung das Gut bezogen. Eine ungeheuerliche Geschichte. Wie stehen diese Erzählungen zueinander? Das in den polnischen Archiven zu recherchieren war übrigens eine sehr langwierige Angelegenheit. 2009 hat mich mein Vater zu einem Kongress eingeladen, in dem es um die Umsiedlung der Deutsch-Balten ging und der ein Anlass sein sollte, dass er mir sein Geburtshaus zeigt. Dieser von deutschen und polnischen Historikern organisierte Kongress fand in Posen statt, mit dem Ziel an der Verständigung zu arbeiten. Ehemals polnische Kinder, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden sind, waren ebenso anwesend wie damals deutsch-baltische Kinder, die dort geboren und angesiedelt wurden. Ein weiteres Moment, das die Idee, einen Film zu machen, genährt hat.
Zunächst wollte ich einen Film über diese Periode drehen, dann kam aber das Motiv „Kinder unter Deck“ wieder stärker an die Oberfläche und mir wurde bewusst, dass ich mehr in die Tiefe gehen musste. Eine wesentliche Ebene für die Konzeption des Films entstand im Zuge der Recherchen, indem ich meinem Vater Bücher über die transgenerationale Übertragung und er mir im Gegenzug Bücher über die historischen Ereignisse, zum Lesen gab, über die wir uns dann ausgetauscht haben. Wenn ich ihn besuchte, haben wir darüber Zweiergespräche geführt, die er „Arbeitssessions“ nannte. Dieses Modell der Arbeitssitzung in Form eines Zweiergesprächs habe ich im Lauf des Films an verschiedenen Orten disponiert und meine Erkenntnisse und Fragestellungen im Bezug auf die jeweiligen Orte eingebracht. An jedem Ort gab es einen Fragenkatalog und eine Mappe mit den Recherchen, die ich dazu angestellt hatte. Mit diesen äußeren Materialien und meinen inneren Fragen sind wir vor laufender Kamera in unsere Arbeitssitzungen gegangen. Mein Vater reagiert und erzählt.
 
 
War diese fundierte Recherche in privaten bzw. historischen Archiven auch ein Mittel, sich für die Reise mit dem Vater zu wappnen, um seinen möglichen Ausweichversuchen Fakten entgegenhalten zu können. Die Gefahr, dass wieder ein Narrativ entsteht, das nicht den Tatsachen entspricht, war ja gewiss gegeben.
 
BETTINA HENKEL: Ich habe sehr viele historische Archive aufgesucht, beginnend im deutschen Bundesarchiv, dann weiter in Lettland und Polen. Die Gefahr des Ausweichens war immer gegeben. An mindestens einer Stelle im Film wird es auch ganz deutlich, dass es eine offene Frage ist, welchem Narrativ man Glauben schenken will. Andererseits musste ich tatsächlich erst einiges herausfinden, das dann der Geschichte Struktur verliehen hat. Ich wusste z.B. nichts über die Geschichte meiner Großmutter als Kind und Studentin, mein Vater konnte meine Fragen nur sehr lapidar beantworten. Daher habe ich die Pässe und Unterlagen aus verschiedenen Archiven zusammengetragen, wo ich auf Fotos feststellen konnte, dass sie als Kind ganz traurig aussieht und nichts von der Grande Dame ahnen lässt, die sie später für uns verkörpert hat. Das hat mich veranlasst, auch über ihre Eltern zu recherchieren. Natürlich wäre ich auch mit dem lapidaren Wissen ausgekommen, aber ich wollte tiefgreifender nachforschen und dem Fragmentarischen etwas entgegensetzen. Es war ja klar, dass gerade diese Lücke eine Aussagekraft hatte. Das Nicht-Gesagte ist ja auch eine Information, nur offener.
 
 
Die zentrale Figur Ihres Films ist eindeutig Ihr Vater. Wie wichtig war in der Thematisierung der transgenerationellen Weitergabe von Traumata und Tabus die Rolle der Großmutter?
 
BETTINA HENKEL: Das Spannende daran ist ja, dass die Weitergabe über mehrere Generation verläuft, wenn Traumatisierungen nicht bearbeitet und aufgelöst werden können. Schon die Bibel spricht sinngemäß davon, dass die Schuld der Väter bis ins vierte Glied reicht und die Seelen verflucht seien. Es war schnell klar, dass ich eine Generation weiter zurückgehen muss und meiner Großmutter, die nicht mehr am Leben ist, eine wichtige Rolle zukommt. Da sie nicht mehr befragt werden konnte, musste ich sie anders im Film zeigen. Das erfolgt einerseits über die Super-8-Materialien, andererseits versuche ich sie sowohl durch die Erzählung meines Vaters wie auch durch meine lebendig werden zu lassen. Sie ist dann durch das sehr intensive Erleben meines Vaters im Laufe der Arbeit am Film ein bisschen verloren gegangen. Aber wir haben sie in der letzten Schnittphase wieder gestärkt, denn für mich ist sie eine Figur, die ich auch filmisch in ihrer Ambivalenz gerne mochte.
 
 
Einige der emotional sehr intensiven Momente für Ihren Vater sind mit der Kamera eingefangen. Sie lassen seinem Schmerz Raum, manchmal wiederum erlebt man Sie auch unnachgiebig, wo Sie beharrlich und unbequem nachfragen. Wie haben Sie die Dynamik  und den Umgang mit Ihrem Vater erlebt?
 
BETTINA HENKEL: Bei den ersten Gesprächen mit ihm vor der Kamera, die ich 2009 gemacht habe, ist er sehr eloquent und reflektiert, weicht aber immer auf größere politische oder historische Fragestellungen aus und verbirgt sich dahinter. Je länger wir zusammengearbeitet haben, desto mehr zeigte er sich. Interessant war, dass er sich besonders auf der Reise vor der Kamera geöffnet hat. In der ersten Szene in Murnau erzählt er noch sehr launig, dass er nie ein Haus bauen wollte, weil es einem die Russen ja wieder unterm Sattel wegschießen würden. Er spricht vom Gefühl der Lebensunsicherheit, scheint aber drüber zu stehen und es nicht an sich ranzulassen? Als er in Riga durch die briefliche „Stimme“ der Mutter konfrontiert wird, reißt es ihn zum ersten Mal. Diese wiederkehrenden Stimmen seiner Eltern scheinen ihm sehr unter die Haut zu gehen. Auch an den Gräbern, die wir an dem Kindheitsort seiner Mutter besuchen, wird er sehr emotional und spürt ihre andere, ihre traurige Seite , die ich eigentlich erst reinbringe. Es gibt auch einen Moment, wo mein Vater mir vorwirft, dass er sich benützt fühlt und Grenzen überschritten sind, so wie das seine Mutter immer getan habe. Er entwickelt mir gegenüber ähnliche Aggressionen, die er seiner Mutter gegenüber gehegt hat und die mich als Tochter auch sehr treffen, obwohl ich ja diese Grenzen ganz bewusst herausfordere. Mit dieser starken Emotionalität und intergenerationalen Psychodynamik hatte ich irgendwie wider besseres Wissen nicht gerechnet – mein eigener blinder Fleck?
 
 
Eine Ausnahmesituation war gewiss dadurch gegeben, dass Ihr Vater durch seinen Beruf als Psychoanalytiker sehr artikuliert und selbstreflektiert ist. Dennoch interessanterweise gerade in der Selbstbetrachtung auch blinde Flecken auftauchen.
 
BETTINA HENKEL: Er ist durch seinen beruflichen Hintergrund für den Film gewiss ein Geschenk, weil er etwas sichtbar macht, was anderen nicht möglich ist. Ich glaube, dass sein Zugang für viele Menschen bewegend und anregend ist, über sich selbst nachzudenken. Die blinden Flecken, die er als Psychoanalytiker bei sich selber hat, haben mich schon früh interessiert, weil er das Manöver „Kinder unter Deck“ so rationalisiert hat, für mich aber der emotionale Gehalt und die rationale Erklärung nicht übereinstimmten. Ich selbst wiederum habe beim Einsprechen meiner Voiceover-Stimme im Studio erlebt, dass ich bei der Stelle „Kinder unter Deck“ Herzklopfen bekommen habe. Es war sehr interessant zu spüren, wie tief verankert und emotional beladen das in mir drinnen sitzt. Ja, mein Vater ist eloquent und reflektiert, weshalb wir seine Gefühlsdimensionen auch gut verstehen können. Ein Diskussionspunkt im Schnitt und zum Teil schon in der Konzeption war der Umstand, dass durch die Recherchen den Eltern meines Vaters keine mörderische Verbrechen unter den Nationalsozialisten nachzuweisen war – was mich natürlich gewissermaßen erleichterte, aber hier ist Vorsicht geboten. Mein Vater ist als Kriegskind schwer traumatisiert, was wir im Film gut spüren können, aber die unmenschlichen Gräueltaten, die das belegen, bleiben sozusagen aus oder werden nicht geschildert und braucht es auch nicht. Es kann nicht um einen Wettkampf der Traumatisierten gehen  – wer ist der_die Traumatisierteste? Ich halte diese Erkenntnis für den Knackpunkt. Wenn Menschen schwerst traumatisiert sind, wird es umso schwieriger, diese Erfahrungen nach außen zu bringen und zu formulieren. Ich wollte keine schrecklichen Fluchtgeschichten und Kriegstraumata erzählen, sondern genau dieser Mittelweg und die Konzentration auf die innere Bewegung waren mir wichtig. Ich fand es wichtig, da eine Balance zu finden und weder die Heldin noch die Verbrecher zu zeigen. Es wäre so einfach, sich mit der Heldin zu verbünden und den Verbrecher abzulehnen. Ich wollte aber gerade durch die Ambivalenz einen Anstoß für das eigene Nachdenken liefern. Das eigene Nachdenken kommt erst durch das Oszillieren zwischen diesen Polen in Gang, dadurch, dass man manche offene Fragen auch stehen lässt. Ich löse nicht jeden Konflikt auf.
 
 
Ein sehr schönes formales Element stellen die anfänglich kaum sichtbaren Schwarzweiß-Portraits, die nach und nach nicht nur Farbe, sondern auch Kontur annehmen. Auf welche Überlegungen geht dieses Stilmittel zurück?
 
BETTINA HENKEL: Der Film brauchte eine Struktur, die nicht gerade in Form nummerierter Kapitel erfolgen sollte. Natürlich hat die Reiseroute eine strukturierende Linie gezogen, es geht aber auch um einen Erinnerungsprozess, der durch die Erzählung in Gang kommt. Jeder kennt das aus der eigenen Erfahrung, wie durch einen Anstoß immer mehr Erinnerungen an die Oberfläche gelangen. Diese langsame Verdeutlichung der Konturen und Farben stellen ein ganz einfaches, analoges, bildliches Moment dar. Ein gutes Beispiel ist das Foto mit den vier Kindern und der Puppe: Man sieht zunächst die Puppe, also ein Detail, dann kommen die Kinder und nach und nach der Kontext zum Vorschein. Das Entwickeln von Erinnerung und auch eines in diesem Fall historischen Kontexts ist ein strukturierendes Element, das im Schnittprozess auch eine Hilfestellung war. Der Film ist ja auch an die Lebenschronologie seiner Figuren gebunden. Wir sehen die Großmutter als Kind, dann meinen Vater und schließlich auch mich. In der Vorbereitung des Drehs haben wir nach Gemeinsamkeiten gesucht, wie wir diese Leben parallel führen und überlegt, wo wer eingeführt wird. In diesem Zusammenhang haben wir auch herausgefunden, dass sowohl meine Großmutter als auch mein Vater sehr gute Schachspieler waren und beide auch Mediziner. Die bestimmenden Frage war: Wo gibt es Ähnlichkeiten und wo bricht es auseinander? Die Bilder stehen immer auch für Etappen in den Lebenschronologien im Kontext historischer Ereignisse. Das letzte Bild meines Vaters zeigt ihn mit 40, wo sein Zwillingsbruder und auch er einen radikalen Bruch in ihrem Lebenslauf vollziehen. Mich sieht man gegen Ende, wo ich als Kind auf den Schultern meines Vaters sitze. Es ist ein Bild, über das sich mein Vater sehr freut, weil es belegt, dass es auch eine Vertrautheit zwischen uns gegeben hat und wir weisen mit einem Augenzwinkern darauf hin, was Erinnerung eigentlich macht: Im Film kommt von mir der Vorwurf, dass er kein liebevoller Vater gewesen sei und dieses Bild bezeugt nun doch, dass er es nach seinen Möglichkeiten auch war. So versuchen wir, die Ambivalenz am Schwingen zu halten.
 
 
Der Film hat einen Epilog, wo Sie Ihren Vater mit einem zeitlichen Abstand von einem Jahr wieder treffen. Warum war dieser zeitliche Schnitt wichtig?
 
BETTINA HENKEL: Der Abstand war sehr wichtig. Wir hatten sogar zwei Nachdrehs. Da die Psychodynamik zwischen uns beiden an manchen Orten so stark war, ist manchmal die lebensgeschichtliche Erzählung meines Vaters, die aber fürs Verständnis wichtig war, verloren gegangen. Die Ereignisse auf der Reise haben zum Teil seine Erzählung so überfrachtet, dass wir nach einem Jahr noch ergänzende Dinge nachgedreht haben. Dazu kommt, dass mit jedem Monat Abstand neue Erkenntnisse wirksam wurden. In so einem Prozess passiert sehr viel. Mein Vater hatte immer darum gebeten, im Anschluss an die Reise-Drehs die Gespräche ungeschnitten nochmals sehen zu können. Das hat viel in ihm ausgelöst und er begann sich selbst zu verstehen, was in ihm vorging. Es war ein prozessuales Mittel, das im Film nicht abgebildet ist, das aber in der Vorgangsweise eine wesentliche Rolle spielte. Er hat auch sehr bald von manchen Passagen erste Rohschnitte gesehen und damit auch unsere Arbeitsweise. Das war wichtig, um abzuklären, wie ich ihn zeigen konnte, ohne seine Grenzen zu überschreiten. Die Sequenz, wo er nach seinem Schwächeanfall auf der Bank liegt, ist mit ihm abgesprochen. Ich wollte es lange nicht zeigen, es erwies sich aber als dramaturgisch sinnvoll und ich holte mir sein Einverständnis. Grundsätzlich hatte nicht nur er, sondern auch meine Familie, für die ich eine eigene Kino-Vorführung organsiert hatte, ein Veto-Recht. Mein Vater hat es genutzt, um zu reflektieren, es hat aber letztlich niemand in Anspruch genommen. In so einem Reflexionsprozess gibt es ein Vorher und ein Nachher und es war mir ganz wichtig, dass ich ihn nicht entblöße. Ich finde, er macht eine so gute und würdevolle Arbeit im Film und behält stets seine Souveränität. 
 
 
Eine Erkenntnis des Films: Die Zeit heilt keine Wunden. Wie sehr ist es Ihnen ein Anliegen, mit Ihrer Arbeit auch andere Menschen zu ermutigen, familiären blinden Flecken auf den Grund zu gehen?
 
BETTINA HENKEL: Im Epilog schildere ich in zwei Sätzen, wie es mir ergangen ist. Ich spreche das Fremdheitsgefühl an, das sich stark verändert hat und mittlerweile sogar verschwunden ist. Und, dass ich erst im Schnittprozess bemerkt habe, wieviel Raum ich meinem Vater überlassen hatte. Ich habe sein traumatisches Erleben ebenso wie das der Großmutter viel stärker erlebt als ich mich selbst gespürt habe. Nun kann man einwenden, ich bin ja die Filmemacherin und muss daher meinen ProtagonistInnen den Raum lassen, was auch stimmt. Außerdem bringe ich mich ja mit meiner Voiceover-Stimme ein, gleichzeitig ist es auch aus trauma-psychologischer Sicht systemimmanent, dass ich ihm diesen Raum gebe. Das ist eine Erkenntnis, die ich ans Ende stellen wollte. „Die Zeit heilt keine Wunden“ ist einerseits eine Ermutigung und auch ein Appell, dass man etwas tun muss, dass emotionale Prozesse und Fragen nicht von allein in Gang kommen. Der Satz geht im Übrigen auf die große Psychoanalytikerin Margarethe Mitscherlich zurück und soll zum Nachdenken ermutigen.
 
 
Sind Sie mit dem Wissen, dass die Großeltern auf der Täterseite waren, ins Projekt gegangen oder ist es eine Erkenntnis aus dieser Arbeit?
 
BETTINA HENKEL: Ja, ich ahnte es, wusste es aber nicht genau. Das ist unangenehm und es hat letztlich die Beziehung zwischen meinem Vater und seiner Mutter zerstört, dass sie den Nationalsozialismus für gut befunden hat und davon keine kritische Distanz nehmen konnte. Die Eltern meines Vaters hätten ohne pro-nationalsozialistische Haltung dieses Gut Jaronty in Polen nicht bekommen. Es wäre zu milde betrachtet, sie nur als Profiteure und Mitläufer sehen, aber es ist die Tendenz von uns allen, denjenigen die wir lieben nicht mit Verbrechen in Verbindung bringen zu wollen. Damit habe ich mich zu Beginn sehr intensiv auseinandergesetzt. Wenn man sich mit der Traumaforschung auseinandersetzt, stößt man sehr schnell an den Punkt, dass diese Forschung an den Nachfahren der Holocaust-Überlebenden ansetzt. Ich habe mich mit dieser Thematik auseinandergesetzt und mir ist klar geworden, auf welch ambivalentem und schwierigem Terrain ich mich bewege. Ich stelle im Film auch die Frage, ob man angesichts des Leids eine Tätergeschichte erzählen kann. Das ist eine Frage, die man wohl nur durch gemeinsame Arbeit mit Menschen und ihren unterschiedlichen Herkünften und Familiengeschichten gemeinsam klären kann.


Interview: Karin Schiefer
Mai 2019
 
«Die Traumaforschung setzt bei den Nachfahren der Holocaust-Überlebenden an und mir ist klar geworden, auf welch ambivalentem und schwierigem Terrain ich mich bewege. Ich stelle im Film auch die Frage, ob man angesichts des Leids eine Tätergeschichte erzählen kann. Das ist eine Frage, die man wohl nur durch gemeinsame Arbeit mit Menschen und ihren unterschiedlichen Herkünften und Familiengeschichten klären kann. »