INTERVIEW

«Mein Weg war halt ein anderer.»

Von der Gerichtsreporterin zur Filmjournalistin zur Regieassistentin zur Drehbuchautorin zur künstlerischen Mitarbeiterin Ulrich Seidls zur Dokumentarfilmemacherin zur Spielfilmregisseurin und gemeinsam mit Severin Fiala zum diesseits wie jenseits des Atlantiks gefragten Genrefilm-Autorenduo.  Als ein Sich-immer-mehr-Zutrauen beschreibt Veronika Franz den Verlauf ihrer Karriere, in der sie seit dem Durchbruch mit Ich seh Ich seh mit jedem Schritt mindestens zwei Hürden nimmt. Das nächste österreichische Franz/Fiala-Projekt Des Teufels Bad ist in Dreh-Vorbereitung, der Drehstart für das amerikanische Remake ihres Debüts steht kurz bevor. Das 77. Filmfestival von Venedig hat Veronika Franz in die Jury des Wettbewerbs berufen, um unter Vorsitz von Cate Blanchett den Goldenen Löwen 2020 zu küren.


Sie sind für das 77. Filmfestival in Venedig von 2. bis 12. September in die Wettbewerbsjury berufen, um gemeinsam mit Cate Blanchett und u.a. mit Regiekolleg*innen Joanna Hogg, Cristi Puiu* und Christian Petzold (nicht nur) den Goldenen Löwen zu vergeben. Was freut an so einer Einladung?

VERONIKA FRANZ
:  Die Einladung hat mich in Island ereilt, als ich gerade in den brodelnden Schlamm im Schlund eines schwarzen Vulkans geblickt habe (lacht). Ich war sehr überrascht und geehrt, es ist schließlich eine große Anerkennung, damit betraut zu werden, über die künstlerisch herausragendsten Filme des Jahres zu befinden –  nach dieser langen coronabedingten Pause haben sich heuer hoffentlich künstlerisch besonders interessante Arbeiten angesammelt.


Welche Verbindungen bestehen zwischen Ihrer künstlerischen Arbeit und dem Festival von Venedig?

VERONIKA FRANZ:
  Viele! Zum ersten Mal war ich ja 2001 mit Ulrich Seidls Hundstage in Venedig, für den wir gleich einmal den Silbernen Löwen gewonnen haben. Dann folgten weitere Filme von Ulrich Seidl – Paradies: Glaube, Safari und Im Keller –  und Ich seh Ich seh, mein Spielfilmdebüt mit Severin Fiala, hatte in der Reihe Orizzonti 2014 seine Weltpremiere. Da wurde auch der Grundstein zu seinem Erfolg gelegt, als Agenten der Harvey Weinstein-Company quasi über Nacht der Premiere ein Kaufangebot gelegt haben. Abgesehen davon muss ich gestehen, dass mir die Filmauswahl, die das Venedig-Festival trifft, meist besonders gut gefällt – und oft mehr als die von Cannes oder der (früheren) Berlinale. Alberto Barbera hat eine Hand für visuelle Filmemacher*innen und keine Angst vor Genre, was meinem Zugang zum Kino sehr entspricht. Und was die Atmosphäre in Venedig betrifft, so bin ich da sehr bestechlich: Ich liebe Schiffe; so sehr, dass ich sogar schon mit dem Gedanken gespielt habe, auf ein Hausboot zu ziehen. Ich bin auf schwankenden Planken einfach glücklicher als am festen Boden. Insofern ist für mich Venedig das allerschönste Festival.


Diese Juryeinladung ist ja nur das Tüpfchen auf dem „I“ in einer künstlerischen Entwicklung, die sich in den wenigen Jahren seit der Weltpremiere von Ich seh Ich seh durch Projekte in den USA sowie in Österreich mit einem beinahe atemberaubenden Tempo entfaltet hat. Für uns der Anlass, den Wurzeln dieses Erfolgs genauer nachzuspüren. Als erste Verbindung zum Film wird immer Ihre Tätigkeit als Filmkritikerin genannt. Wie fiel grundsätzlich die Entscheidung für den Journalismus?

VERONIKA FRANZ: 
Ich habe zunächst Germanistik und Philosophie studiert und mich sehr früh für Horrorfilme interessiert; in den achtziger Jahren war besonders der eher trashige Horrorfilm ein sehr männlich belegtes Terrain, als interessierte Frau galt man eher als Alien. Ich wusste nicht so recht, wohin mit mir. In der Schule hatte ich ein vielfältiges Talentespektrum, was mir jetzt als Regisseurin vielleicht zugutekommt, weil man verschiedenste Aufgaben zu bewältigen hat: Ob es darum geht, die richtige Tapete auszusuchen, einen Karpfenteich zu suchen, eine Geschichte zu schreiben oder mit Schauspielern umzugehen. Begonnen habe ich dann als Gerichtsreporterin bei der APA, was schon eine sehr theatralische Form des Journalismus ist. Gerichtssaal ist Drama mit echten Menschen, da wird über Menschen wie in einer Inszenierung mit verteilten Rollen entschieden. Danach bin ich dann zu der Tageszeitung Kurier gewechselt und begann über die künstlerische Form des Dramas – den Film – zu schreiben. Ich habe mir also mein Wissen autodidaktisch erarbeitet, wie später auch beim Filmemachen, das mit Recherche und Regieassistenz für Ulrich Seidl begonnen hat. Ich bin jemand, die gerne ins kalte Wasser springt und sich lieber über Learning by Doing vorwärtsarbeitet als durch graue Theorie. Offenbar bin ich nicht feig. Ich bin sehr neugierig, will jeden Tag was erleben und mich dabei, wenn möglich, weiterentwickeln. Ulrich Seidl-Filme eignen sich sehr gut dafür, jeden Tag etwas zu erleben.


Wann hat sich dann das Bedürfnis geregt, selbst kreativ im Film zu arbeiten?

VERONIKA FRANZ:
  Zum entscheidenden Schritt des künstlerischen Schreibens kam es, als ich im Alter von 30 ein Jahr nach New York gegangen bin. Auch im Englischen bin ich übrigens Autodidaktin und heute noch oft unsicher (lacht), da ich in der Schule ursprünglich nur Französisch, Latein und Altgriechisch gelernt habe. Wie auch immer, nach sieben Jahren Arbeit im Journalismus hatte ich damit dann eine persönliche Krise. Um dieser zu begegnen, ging ich nach New York und schrieb für den Freizeit-Kurier unter dem Titel New York Stories wöchentlich eine satirische Reportage. Das war mein erster halber Schritt zur Fiktion. Das Leben in New York wurde außerdem zur großen Befreiung vom redaktionellen Alltag. Meine Idee, dasselbe danach in Moskau zu machen, hat mein damaliger, sonst sehr fördernder Chefredakteur aber nicht gestattet, obwohl die NY-Stories ziemlich erfolgreich waren. Die Rückkehr nach Wien war dann ein Zurück zu dem, was ich eigentlich hinter mir gelassen hatte. Ein Rückschritt im wahrsten Sinn des Wortes. Das war keine leichte Zeit für mich, bis ich dann ein Interview mit Ulrich Seidl zu Tierische Liebe (übrigens für die Austrian Film News) machte und mich spontan bei ihm bewarb. Er hat mich dann tatsächlich ohne jegliche Vorkenntnisse für eine Doku engagiert. Das war 1996, für Bilder einer Ausstellung. Die Vorarbeiten habe ich aus meiner journalistischen Erfahrung heraus dann noch gut hinbekommen. Als es dann aber an die Dreharbeiten ging, war alles neu und wie gesagt: ein Sprung ins ordentlich kalte Wasser.


Was bedeutet die enge Zusammenarbeit bei einem Ulrich Seidl-Film an Austausch, Recherchen, Prozessen, welche Form von Buch entsteht vor dem Dreh?

VERONIKA FRANZ:
  Ich habe erfahren, wie schwierig es ist, wenn man als Autorin Drehbuchautorin werden will. In Bildern und für einen Film zu schreiben ist gänzlich anders als ein Buch oder Reportagen und ich habe das bei Ulrich Seidl gelernt. Für Hundstage, das am Ende aus sechs Geschichten besteht, haben wir ursprünglich dreizehn Geschichten geschrieben. Die Ideen kamen von ihm oder mir. Ganz anders als etwa jetzt in meiner Zusammenarbeit mit Severin Fiala, mit dem ich an einem Tisch sitze und jede Idee gemeinsam bespreche, war es mit Ulrich Seidl immer ein alternierendes Arbeiten, ein Hin und Her, ein Geben und Nehmen.

Außerdem sind seine Filme sehr oft von der Wirklichkeit und Menschen, die wir kennengelernt haben, beeinflusst. Sowohl René Rupnik, der spätere Protagonist von Der Busenfreund und der auch in Paradies: Glaube spielt, als auch Erich Finches aus Hundstage und  Import Export, gehen etwa auf die Recherche für Bilder einer Ausstellung zurück. In Hundstage war sehr viel fiktiv, für Import Export gab es Grundideen, die einer Zeitungsmeldung oder einem Menschen entsprungen sind. Dann wird sehr intensiv recherchiert und die Geschichte erfunden.

Früher hat Ulrich Seidl in Interviews immer wieder gesagt, dass es für seine Filme kein Drehbuch gibt. Zumindest hat man das öffentlich so verstanden, weil es vorab keine geschriebenen Dialoge gibt. Das heißt allerdings überhaupt nicht, dass dem Ganzen kein Drehbuch zugrunde liegt. Wie hätte man die Filme ohne Buch denn finanzieren können? Seine Arbeiten sind für spontane Veränderungen stets offen. Man schreibt bei Ulrich Seidl die Geschichte wie eine Kurzgeschichte, nur viel, viel genauer; dann sucht man die Darsteller*innen und dann wird die Geschichte neu geschrieben, weil diese etwas einbringen. Ändert sich die Location, dann schreibt man die Geschichte wieder neu und dann geht es in den Schneideraum, wo man ohnehin gemeinsam mit dem/der Editor*in die Geschichte wieder neu schreibt. Drehbücher sind bei Ulrich Seidl einer ständigen Weiterentwicklung unterzogen, in die sehr viel Recherche und Ideen hineinfließen. Meine Mitarbeit beschränkte sich dabei von Anfang an nicht nur auf das Drehbuch – inzwischen nennt er mich ja auch „künstlerische Mitarbeit“ –, sondern umfasste verschiedenste Positionen über den gesamten Entstehungsprozess des Films hinweg.  


Wann begann sich der Wunsch nach einer eigenen Filmsprache zu konkretisieren?

VERONIKA FRANZ: 
Zuerst habe ich neben der Arbeit mit Ulrich Seidl aus existentiellen Gründen lange noch als Filmjournalistin weitergeschrieben. Es ist ja nicht so, dass man von der Filmarbeit, selbst mit einem so renommierten Regisseur wie Ulrich Seidl, leben kann. Irgendwann war für mich der Punkt erreicht, wo ich mich nicht mehr eigenständig kreativ, sondern eher wie die ewige Assistentin gefühlt habe. Wir hatten ja auch gemeinsam eine Produktionsfirma gegründet und ich hatte dann die Idee, selbst einen Dokumentarfilm zu machen, als ich zufällig Peter Kern kennengelernt habe. Das hatte ich mir in handwerklicher Hinsicht inzwischen zugetraut. Allerdings war für mich klar, dass ich das nicht alleine machen konnte. Ich hatte zwei Kinder, die Zusammenarbeit mit Ulrich und meinen Job als Journalistin. Severin Fiala studierte damals noch an der Filmakademie und ich fragte ihn, ob er das Projekt nicht mit mir gemeinsam machen wollte. So ist es zum ersten Filmprojekt mit ihm gekommen. Wir haben ganz ohne Geld mit einer ausgeborgten Kamera von der Filmakademie begonnen und zu dritt Peter Kern besucht: Severin hat den Ton gemacht, ein Freund von der Filmakademie die Kamera, ich habe die Interviewerin gegeben. Wer Peter Kerns Persönlichkeit vor Augen hat, weiß, dass es kein einfaches Filmprojekt war. Während wir den Film dann geschnitten haben, hatten Severin und ich irgendwann beim Kochen die Grundidee zu Ich seh Ich seh, und das Drehbuch dazu dann eigentlich mehr zum Spaß geschrieben. Wir hatten einen schwierigen Dokumentarfilm gemeinsam überlebt – und trauten uns daher über diesen Spielfilm. Vielleicht kann man meinen Weg zur Filmregisseurin als einen Weg des Sich-immer-mehr-Zutrauens beschreiben. Das ist ja wohl in vielen Bereichen immer noch ein Frauen-Thema. Ich bewundere junge Frauen, die heute gleich nach der Schule auf die Filmakademie gehen und ihr Ding machen; auch schon die Generation um Barbara Albert und Jessica Hausner. Ich hätte es mir das gleich nach der Schule nicht zugetraut. Mein Weg war halt ein anderer.


Interessant ist, dass der Schritt in die eigene Regie-Tätigkeit vom völlig in die Realität eingebetteten Erzählen in Richtung Genrekino und phantastisches Erzählen erfolgt. Wie konträr und auch wieder nicht, ist Ihr erzählerischer Ansatz zum Kino Ulrich Seidls?

VERONIKA FRANZ:
  Auch Ulrich Seidls Filme sind keine reine Abbildung von Realität. Mit seinen Tableaus und seiner filmischen Sprache erschafft er trotz oder vielleicht mit allem Wirklichkeitsbezug eine eigene Kunstwelt. Severin und mich wiederum vereint die Idee, dass auch in einen Genre-Film echtes Leben einfließen soll und dass es in den guten Genre-Filmen auch immer um gesellschaftlich relevante Themen geht. Die Welt, die wir mit den Zuschauer*innen teilen wollen, ist vielleicht eine surreale, wir wollen ihn mitnehmen auf eine Achterbahnfahrt, die spannend ist und der man sich nicht entziehen kann. Und dann am Ende, wenn er sie überlebt hat (lacht), wäre es schön, wenn er darüber nachdenkt, was er erlebt hat und was das mit ihm selber zu tun hat. Unsere Filme sind keine reinen Genre-Filme, sondern eine Mischung aus Arthouse- und Genrekino. Uns gefällt die Freiheit, einen Stoff in der Wirklichkeit zu grundieren und dieser dann entheben zu können. Dabei helfen Dinge wie z.B. chronologisch zu drehen oder zu improvisieren. Dass man solche Arthouse-Methoden in einen phantastischen Kontext bettet, davor hat man uns gewarnt. Man hat gesagt, das sei mit dem Genrefilm nicht kompatibel. Glücklicherweise hat sich das nicht bewahrheitet. Wenn man gut vorbereitet und genau weiß, worum es in einer Szene geht, dann kann man auch improvisieren. Wir haben in Ich seh Ich seh den Schauspieler*innen etwa keine Texte zum Lesen oder Lernen gegeben, obwohl das Drehbuch mit Dialogen geschrieben war. So wollen wir auch bei Des Teufels Bad vorgehen, den wir als nächstes in Österreich und Deutschland drehen und so haben wir es auch bei The Lodge in Amerika so gemacht.


Die Weltpremiere von Ich seh Ich seh war ein Sprungbrett wie es im Bilderbuch steht. Was ist damit in Gang geraten? Was wurde seither realisiert bzw. steht an Projekten im Raum?

VERONIKA FRANZ:
  Nach dem Erfolg in Amerika wurden Severin und ich von Agenten geradezu gejagt. Wir haben uns dann für eine US-Agentur entschieden, damit die Flut an Mails endlich ein Ende hatte. Mit diesem Schritt kam dann auch The Lodge als Projekt auf uns zu. Die traditionsreiche britische Hammer Film Productions hat sich direkt an uns gewendet und uns ein Drehbuch angeboten, das wir dann mit seinem schottischen Autor weiter bearbeitet haben. Als es an die Finanzierung ging, wurde das fertige Drehbuch dann in Hollywood geleakt – und plötzlich hatten wir sechs oder sieben Angebote von Studios, größeren und kleineren Firmen. Wir haben uns dann für Film Nation entschieden, die sowohl das finanzielle Pouvoir als auch das Produktions-Know-how hatten, The Lodge hatte dann beim Sundance Festival Weltpremiere.

Das zweite konkrete Projekt ist ein US-Remake von Ich seh Ich seh. Playtime, unser französischer Weltvertrieb, hat von Anfang an dafür plädiert, dass es auch eine englischsprachige Version von dem Film geben sollte. Uns wurde auch angeboten, bei diesem Remake Regie zu führen, was wir dankend abgelehnt haben. Zweimal denselben Film zu machen, erschien uns wenig reizvoll. Wir wurden stattdessen Executive Producers. Das Remake, das nun Amazon finanziert, steht jetzt auch schon vor dem Drehstart. Und was unsere eigenen Filme betrifft, so arbeiten wir zur Zeit mit einer britischen Firma an zwei neuen Stoffen.


DES TEUFELS BAD ist das nächste geplante Projekt in Österreich mit einem historischen Stoff, dem bisher kaum beachtete Fakten zugrunde liegen. Wie sind Sie darauf gestoßen?

VERONIKA FRANZ:
  Wir sind zufällig über einen Podcast darauf gestoßen. Eine amerikanische Historikerin hat Gerichtsprotokolle und Archivmaterialien von rund 300 Fällen aus ganz Europa zusammengetragen, die ein europäisches Phänomen im 18. Jh. beleuchten, das wir nicht kannten. Frauen, die sterben wollten, sei es aus Depression oder anderer Krankheit, wurden damals zu Mörderinnen, um ihre eigene Hinrichtung herbeizuführen. Selbstmord war damals die größte aller Sünden, weil man das ja nicht mehr beichten konnte. Diese Forscherin hat uns jedenfalls ihr Archiv geöffnet und ein Fall, der im Mühlviertel spielt, ist uns dann besonders zu Herzen gegangen: Ein Inquisitor hat eine einfache Bäuerin drei Mal lange befragt, weil er wirklich herausfinden wollte, warum sie ein Kind umgebracht hat. Ihre Aussagen haben mich zu Tränen gerührt. Abgesehen davon, dass Geschichtsschreibung in erster Linie männliche Geschichtsschreibung ist, handelt sie auch hauptsächlich von Adeligen, den Reichen, den Priestern und vielleicht noch von Künstlern. Vom Leben der einfachen Leute und Frauen wissen wir sehr wenig. Aber in dem Protokoll hört man eine Frau aus dem 18. Jh. quasi wörtlich über ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Ehe sprechen. In den vielen Worten und Protokollen unseren visuellen Zugang und den Film zu finden, hat dann allerdings lange gedauert.  


Geht es auch darum, das Genre historischer Film anders anzugehen und unsere von einem Mainstream geprägten Bilder im Kopf zu hinterfragen?

VERONIKA FRANZ:
  Die haben uns viele historische Filme angeschaut: Ken Russell etwa geht in The Devils sehr frei mit der Historie um. Es kommt sogar ein Plastikkrokodil vor, obwohl es im 16. Jh. spielt (lacht). Wir wollen jedenfalls keine historischen Gemälde nachstellen, wir wollen eine eigene Welt kreieren. Mit Kostümen, Bildern und Sprache. Die Sprache in den Protokollen ist starker oberösterreichischer Dialekt, die wollen wir übernehmen. Natürlich gehen wir von der Wirklichkeit aus: Wir haben ein 400 Seiten starkes Dossier über das Jahr 1750 im Mühlviertel von einer Historikerin, das viele Themen des Alltags behandelt hat. Wie haben sie geschlafen? Wie gebetet? Haben sie Unterhosen getragen? Die Hauptdarstellerin möchte ein Kind kriegen, daher spielt die Menstruation eine Rolle und damit stand die Frage im Raum, wie man damals damit umgegangen ist. Darstellungen vom bäuerlichen Leben in der Malerei gibt es in Österreich kaum und wenn dann nur in naiven Darstellungen. Wenn es um Frauen und das Alltagsleben geht, endet die Forschung oft, und die Materialien sind sehr spärlich. Das Wäschewaschen, das in historischen Filmen gerne idyllisch gezeigt wird, war eigentlich ein Ort des Tratsches, der Kontrolle und der Beobachtung. Da ist niemandem ein Blutfleck im Leintuch entgangen. Wir wissen inzwischen historisch sehr viel, das ist ein Fundament. Darauf werden wir versuchen eine neue Welt zu bauen, ohne die alte zu verraten.


Einen thematischen Faden sehe ich in Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, besonders zu Mutterfiguren.

VERONIKA FRANZ: 
Severin und ich finden, dass der kleinste Kriegsschauplatz, aber auch der kleinste Glücksschauplatz, die Familie ist. Wenn man – so wie wir – sehr visuell erzählen will, dann ergibt sich daraus meist ein langsameres Erzähltempo. Hätten wir sehr viele Figuren, könnte man nicht so in die Tiefe gehen, wie wir das wollen. Im kleinen Schauplatz Familie können wir uns tiefer in die Abgründe und in die Menschen reingraben. In Des Teufels Bad wird es aber auch Szenen geben, wo mehr als drei Menschen vorkommen. Diesmal wird es kein reines familiäres Kammerspiel.


Wie sehr hat Corona die Drehpläne durchkreuzt?

VERONIKA FRANZ: 
Des Teufels Bad hätte im Herbst 2020 gedreht werden sollen. Wir müssen es aber verschieben, weil unsere geplante Hauptdarstellerin in einem Hollywoodfilm verpflichtet ist, der auch verschoben worden ist. Ende August sollte entschieden sein, ob wir im kommenden Winter drehen oder ein ganzes Jahr verschieben müssen.  


Als nächster Fixpunkt steht auf alle Fälle das 77. Filmfestival von Venedig fest. Es wird ein Wettbewerbsprogramm mit einem Männer/Frauen-Verhältnis von 10:8 geben. Wie werden Sie sich auch vorbereiten?

VERONIKA FRANZ: 
Es gibt im Wettbewerb einige Regisseur*innen, deren Arbeit ich bereits kenne, wie die von Jasmila Žbanić, die mit der österreichischen Koproduktion QUO VADIS, AIDA? vertreten ist, oder Filme des Japaners Kiyoshi Kurosawa, andere wiederum kenne ich gar nicht. Für die nächste Woche habe ich mir jedenfalls vorgenommen mich einzuarbeiten und mir frühere Filme der Wettbewerbsteilnehmer*innen anschauen. Ich finde es nämlich höchst uninteressant, wenn etwa alle zwei Jahre Ken Loach in Cannes gewinnt (dessen Filme ich im Übrigen sehr beeindruckend finde), nur weil die Mitglieder der Jury jeweils ihren ersten Ken Loach-Film sehen. Ich finde, man muss die Filme im Kontext des jeweiligen Oeuvres einordnen können. Auch tolle Autorenfilmer machen immer wieder schwächere Filme. Darüber hinaus verlangt der Respekt gegenüber meinen Jurykolleg*innen, auch deren Arbeit zu kennen. Joanna Hogg bin ich gerade dabei zu entdecken, ebenso den Autor Nicola Lagoia. Christian Petzold schätze ich sehr. Und Cristi Puiu* halte ich ohnehin für den großartigsten zeitgenössischen rumänischen Filmregisseur.


* Kurz nach unserem Gespräch mit Veronika Franz wurde bekannt, dass der amerikanische Schauspieler Matt Dillon den rumänischen Regisseur Cristi Puiu als Mitglied der Wettbewerbsjury  von Venedig ersetzt.


Interview: Karin Schiefer
August 2020
«Ich bin jemand, die gerne ins kalte Wasser springt und sich lieber über Learning by Doing vorwärtsarbeitet als durch graue Theorie. Offenbar bin ich nicht feig. Ich bin sehr neugierig, will jeden Tag was erleben und mich dabei, wenn möglich, weiterentwickeln. Ulrich Seidl-Filme eignen sich sehr gut dafür, jeden Tag etwas zu erleben.»