INTERVIEW

«Niemand konnte sich dem entziehen»

Juli 1995, Srebrenica: der Machtrausch des General Mladic, das Versagen der UN-Mission, das Massaker an der bosniakischen Bevölkerung. Machtlos muss Aïda als UN-Übersetzerin zusehen, wie innerhalb eines Tages eine Tragödie unfassbaren Ausmaßes über die Stadt und ihre Familie hereinbricht. Die aus Bosnien stammende Filmemacherin Jasmila Žbanić taucht in QUO VADIS, AÏDA? 25 Jahre nach dem Massenmord von Srebrenica ins Epizentrum des Verbrechens, wo Verrat und Versagen tausende Menschen in den Tod getrieben haben und lässt in jeder einzelnen Figur dieses Films die Wucht des kollektiven Dramas spüren.  Die von coop99 filmproduktion mitgetragene internationale Koproduktion gehört zu den 18 Mitstreitern um den Golden Löwen der 77. Filmfestspiele von Venedig.  Ein Gespräch mit der Kamerafrau von QUO VADIS, AÏDA?, Christine A. Maier.


Ein Blick auf IMDb weist QUO VADIS, AÏDA? als Ihre zehnte Zusammenarbeit mit Jasmila  Žbanić aus – Spielfilme, Dokumentarfilme, Kurz- und Episodenfilme zusammengerechnet. Es ist Ihre konsequenteste und kontinuierlichste künstlerische Partnerschaft. Wie und unter welchen Bedingungen hat diese Zusammenarbeit ihren Ausgang   genommen?

CHRISTINE A. MAIER:
Unsere Begegnung war ein Zufall… oder auch nicht. Ich war 1995 mit Maria Arlamovsky und Barbara Albert eine der Organisatorinnen des Studentenfilmfestivals an der Wiener Filmakademie. Wir waren damals so schockiert darüber, was in 400 Kilometer Luftlinie von uns gerade passierte, dass wir beschlossen haben innerhalb des Festivals einen Bosnien- Schwerpunkt zu machen und alle Einnahmen unseres Festivals der Filmschule in Sarajevo zukommen zu lassen. Wir haben versucht, Filme und Studierende aus Sarajewo nach Wien zu holen, was uns aber nur für eine Handvoll Filme über große Umwege gelungen ist.  Durch das Abkommen von Dayton wurde es für uns möglich, nach Bosnien zu fahren. Nikolaus Geyrhalter hat damals gerade begonnen für seinen Film Das Jahr nach Dayton zu recherchieren und Barbara Albert wollte für Nordrand recherchieren und so sind wir nach Bosnien gefahren. Wir haben Material, Filme, Bücher, Kameras, Filmmaterial für die dortige Filmschule gesammelt und sind dann voll bepackt mit Nikolaus im Auto nach Bosnien gefahren. Die seltsamste Reise meines Lebens. Als wir nach einer 40-stündigen Reise in Sarajewo ankamen, war Jasmila der erste Mensch, dem wir begegnet sind. Sie hat Barbara und mich bei sich zu Hause aufgenommen und hat uns zehn Nächte bei ihrer Mutter auf der Couch im Wohnzimmer untergebracht. Barbara und ich haben dann Somewhere else mit einer kleinen High 8-Kamera gedreht, die wir für den Fall, dass sich etwas ergibt, mitgenommen hatten. Jasmila ist darin eine der Protagonistinnen. Das war der Anfang einer Freundschaft und somit hat ein ständiger Austausch begonnen. Wir haben erste Kurzfilme gedreht und es ist seitdem eigentlich fast kein Jahr vergangen, in dem ich nicht nach Sarajewo gefahren bin. Es verbindet mich mittlerweile ungemein viel mit dieser Stadt.


Die späten neunziger Jahre war auch die Entstehungszeit von Barbara Alberts Nordrand, der ebenfalls einen Bezug zu Sarajewo hat. Wie sehr hat das Schicksal des ehemaligen Jugoslawiens den Beginn eurer kreativen Laufbahn bestimmt und tut es bis heute?

CHRISTINE A. MAIER:
Als der Jugoslawienkrieg ausgebrochen ist, habe ich noch Jus studiert. Für mich war das ein Einschnitt im Leben, der meine Sicht auf die Welt und meine Denkmuster entscheidend verschoben hat. Das, von dem man dachte, dass es nie mehr passieren würde, war in einem unserer Nachbarländer Wirklichkeit geworden. Der Ort, wo ich aufgewachsen bin, ist vielleicht 50 km von der slowenischen Grenze entfernt. Das hat mich geprägt und die Ereignisse haben mich nicht mehr losgelassen. Das politische Interesse ist das eine, eine persönliche Begegnung ist nochmal etwas anderes. Hätten damals Barbara und ich Jasmila nicht getroffen, wäre die Auseinandersetzung vielleicht nicht so intensiv und vor allem nicht so langanhaltend geworden.


Was verbindet Sie mit Jasmila Žbanić auf einer künstlerischen Ebene?

CHRISTINE A. MAIER:
Uns verbindet eine große Neugierde. Jasmila ist jemand, die versucht, Dinge immer wieder anders zu denken Wir verbringen gerne Zeit miteinander und sind in einem sehr regen Austausch. Es besteht ein gegenseitiges Vertrauen und Verstehen. Für mich ist Jasmila ein ungewöhnlich mutiger und kompromissloser Mensch, das alles fasziniert mich auch in der künstlerischen Auseinandersetzung. Ihre Arbeiten sind in ihrer Herangehensweise auch sehr unterschiedlich. Manchmal entstehen Dinge praktisch von einem Tag auf dem anderen wie bei One Day in Sarajevo, wo zwischen der Idee und dem Dreh im Kollektiv gerade mal zwei Wochen lagen und genau diese Form, die daraus entstand, war richtig für diesen Essayfilm, der „die große Erzählung“ zum 100-jährigen Jahrestag des Attentats von Sarajewo automatisch durch seine Form provoziert. QUO VADIS, AÏDA? hingegen war ein Projekt, das einen sehr langen Weg bis zu den Dreharbeiten gegangen ist. Ich bin in die Projekte meist sehr früh eingebunden und kannte auch bei QUO VADIS, AÏDA? alle Phasen des Drehbuchs, das sich in letzter Minute noch grundlegend verändert hat. Und das war nur eine von vielen Hürden, die es in dieser langen Phase der Vorbereitung zu überwinden galt. Jasmila hat in den letzten Jahren immer wieder in Berlin gelebt, gewiss auch ein Schritt, um für das Schreiben des Buchs die nötige Distanz zu haben.


Mit Grbrvica und dem Goldenen Bären 2006 hat Jasmila Žbanić schon 2006 eine breite internationale Öffentlichkeit mit ihrem Lebensthema, dem Krieg und seinen Folgen erreicht. Was treibt Jasmila in Ihrem Schaffen an? Hat sie sich mit QUO VADIS AÏDA? nicht nur an einen der schmerz- und grauenvollsten Punkte der jungen Geschichte Bosniens gewagt, sondern auch mehr als in anderen Filmen von individuellen Geschichten auch die kollektive Erfahrung miteinbezogen?

CHRISTINE A. MAIER:
Es war Jasmila sehr bewusst, dass ein Film über den Genozid von Srebrenica, das zentrale Thema von QUO VADIS, AÏDA?,  ein großes Wagnis und eine große erzählerische Herausforderung sein wird. Sie hat jahrelang viel darüber recherchiert und es war ihr von Anfang an klar, dass es nicht möglich ist, der ganze Breite und Dimension dieser Geschehnisse in einem Spielfilm hundertprozentig gerecht zu werden. Aber das Thema hat sie nicht losgelassen. Ihre zentrale Frage war immer, wie sie diese Gefühle und Dilemmata dieser Menschen, die das erlebt haben einem Publikum nahebringen kann, das vielleicht auch wenig über Srebrenica weiß und vor allem – was erzählt es uns über unser jetziges Leben? Sie hat beschlossen, das über ihre Hauptfigur Aida zu erzählen, die als Übersetzerin für die UN arbeitet. Ihr Ehemann und ihre zwei Söhne sind unter den Flüchtlingen, die im UN-Compound Zuflucht und Schutz suchen. Durch ihre Arbeit für die UN bewegt sie sich zwischen zwei Welten.  Wir haben immer versucht diese individuelle und die kollektive Ebene der Ereignisse im Film nicht getrennt voneinander zu zeigen, um die Dimension, die es hatte, zumindest fühlbar zu machen. Der Hauptteil des Filmes konzentriert sich auf die Ereignisse dieser drei Tage im UN-Compound, wo 5000 Flüchtlinge innerhalb und 25 000 Flüchtlinge außerhalb der UN-Zone Schutz gesucht haben. Das war uns vor allem im Umgang mit den großen Komparserie-Szenen wichtig. Wir wollten keine gesichtslosen Massen zeigen, sondern Menschen, die genauso wie Aida und ihre Familie, ihr ganz eigenen Schicksale haben. Das Casting für die Szenen mit den vielen Komparsen war ein besonders aufwändiger Prozess, wo auch Luna Mijović, die in Grbavica gespielt hat, sehr intensiv in der Suche mitgearbeitet hat. Jasmila und Luna haben für viele der Komparsen eigene Lebensgeschichten geschrieben, die sie vor den Dreharbeiten bekommen haben.


Es klingt so, als wären die Dreharbeiten zu QUO VADIS, AÏDA? mehr als nur gewöhnliche Dreharbeiten geworden?

CHRISTINE A. MAIER:
Es war für alle Beteiligten ein außergewöhnlicher Film. Ich glaube, jedes Teammitglied wird das bestätigen: die Umstände, das Thema, die Drehorte in Mostar und Stolac, die auch ihre eigenen Geschichten haben, die ungewöhnliche Hitze, die Tatsache, dass wir ein Team waren, das aus neun oder zehn Nationen bestanden hat. Wir kannten uns teilweise überhaupt nicht, es waren so viele verschiedene Sprachen am Set und wir waren dennoch wie ein Körper. Ich hab‘ das noch nie erlebt. Die Anspannung, die Atmosphäre rundherum. Wir haben dort eine herzliche Gastfreundschaft erlebt und dennoch schwang immer mit, was vor 25 Jahren passiert ist. Niemand konnte sich dem entziehen. Es war eine emotional intensive Begegnung, die man nur selten hat.


Eine weitere grundlegende Frage scheint darin zu liegen, wieviel Gräuel sichtbar gemacht oder nur angedeutet wird. Wie sehr war diese Fragestellung auch mit dem Faktum des Wegschauens und Hinschauens seitens der im Namen der UN zum Schutz der Menschen Beauftragten verbunden?

CHRISTINE A. MAIER:
Wir haben versucht so wenig wie möglich explizite Gewaltszenen zu zeigen. Wir sehen meist das Davor oder das Danach. Das war eine unserer Prämissen, die wir von Anfang an verfolgt haben, aber das hatte nicht so sehr mit der Fragestellung des Wegschauens und Hinschauens seitens der UN zu tun, sondern uns ging es ja darum, was Gewalt für ein Leben bewirkt, dazu brauche ich den Moment der Gewalt nicht sehen.


Wie kann man sich nun angesichts der Corona-Maßnahmen die letzten Wochen der Postproduktion vor der bevorstehenden Weltpremiere in Venedig vorstellen?

CHRISTINE A. MAIER:
Die Postproduktion hätte in Rumänien stattfinden sollen, wir waren gottseidank schon im Februar dort und haben ein wenig vorab gegradet. Dann kam Corona, Flüge wurden gestrichen und es kam zu Quarantäneauflagen in beide Richtungen. Drei Tage Licht-Bestimmung hätten mehr als zwei Wochen Zeitaufwand bedeutet und mit ein bisschen Pech hätte es dann auch keine Rückflüge gegeben. Als Lösung haben wir begonnen, zwei Studios zu vernetzen und simultan am Colorgrading zu arbeiten. Die Projektoren sind zwar sehr gut geeicht, dennoch ist eine Projektion 2K, die andere 4K, die Leinwände sind verschieden groß.  Ich sehe auf der großen Leinwand in Berlin Dinge, die der Colorgrader in Bukarest auf der kleineren Leinwand eventuell anders sieht. Man kann Farben oder Kontraste nicht so exakt beschreiben und ist sich nie sicher, ob der andere dasselbe sieht wie man selbst. Alles, was normalerweise im Produktionsprozess einfach geht, dauert plötzlich dreimal so lange, weil man immer wieder Wartezeiten einkalkulieren muss. Auch die Mischung musste remote laufen. Die Mischung fand in Bukarest statt, der Sounddesigner war in seinem Studio in Sarajevo und Jasmila war in einem Studio in Berlin. Das war für uns eine sehr neue Erfahrung.


Interview: Karin Schiefer
August 2020


«Wir kannten uns teilweise überhaupt nicht, es waren so viele verschiedene Sprachen am Set und wir waren dennoch wie ein Körper. Ich hab‘ das noch nie erlebt. Die Anspannung, die Atmosphäre rundherum. Wir haben dort eine herzliche Gastfreundschaft erlebt und dennoch schwang immer mit, was vor 25 Jahren passiert ist. Niemand konnte sich dem entziehen.»