INTERVIEW

«Utopie oder Dystopie liegen recht nah beieinander.»

Hubert Saupers Filme sind Entdeckungsfahrten der globalen Gegenwart. Hat er Darwin’s Nightmare und We Come as Friends von Afrika aus im Kolonialismus wurzelnde Vernetzungen sichtbar gemacht, so hat er für Epicentro die Perspektive gewechselt. Sein  neuer Film ist eine facettenreiche essayistische Begegnung mit der Karibikinsel Kuba. Der Filmemacher greift darin die historischen Spuren eines vielschichtig konnotierten Macht- und Sehnsuchtsorts auf, dessen Geschichte sich in einer Spirale der Befreiungen und Vereinnahmungen vorwärtsschreibt und dabei auch Anlass gibt, die Macht des Mediums zu reflektieren.



In Ihren letzten beiden Filmen Darwin’s Nightmare und We Come As Friends haben Sie versucht, komplexe geopolitische, aus dem Kolonialismus resultierende Zusammenhänge zwischen dem afrikanischen Kontinent und dem Westen darzulegen. Welche Überlegungen haben Sie für Ihren neuen Film Epicentro in die Karibik geführt?

HUBER SAUPER:
Die Idee zu Epicentro war ursprünglich nicht auf Kuba bezogen. Es ging mir darum, ein Thema weiterzuverfolgen, das ich schon sehr lange beschreibe: das imperialistische Narrativ.  Wie breiten sich Empires aus und vor allem, wie erklären sie sich selber? Besonders interessiert hat mich die Frage, wie es zum American Empire überhaupt gekommen ist. Ich habe herausgefunden, dass dies nicht dank der Military Power, sondern dank der Soft Power funktioniert hat. Der erste erfolgreiche Schritt war der Spanisch-Amerikanische Krieg, ein im physischen Sinn relativ kleiner Krieg, im Zuge dessen die USA die letzten europäischen Kolonialherren in der Karibik und im Pazifik vertrieben haben. Dies war nur deshalb möglich, weil das amerikanische Volk für diese Idee quasi brannte. Wenige Jahre zuvor hatte es in der öffentlichen Meinung total anders ausgesehen. Die USA waren nach dem Bürgerkrieg mit sich selbst beschäftigt, niemand wollte Krieg führen und schon gar nicht am anderen Ende der Welt. Dann war da aber plötzlich eine neue Technologie, die massenhypnotisch funktionierte – das Kino. Es war hochinteressant, herauszufinden, dass das Medium, das ich selber betreibe, einer der Hauptfaktoren war, die das Western Empire entstehen ließen, und dass diese Soft Power seit mehr als einem Jahrhundert zu seiner Machterhaltung beiträgt. So kam ich auf Kuba als einen Ort, wo geografisch wie historisch so viele Fäden zusammenlaufen: Havana als das Epizentrum des Sklavenhandels, der ersten Kolonialherren in Amerika und als erste kosmopolitische Stadt dieses Planeten, wo Native Americans, Europeans und Africans nebeneinander gelebt haben. Havana war eine Weltstadt lange vor anderen Metropolen. Alle Ideen, die mich für mein neues Filmprojekt beschäftigt hatten, sah ich auf dieser Insel konzentriert.


Hat die Recherche zunächst außerhalb Kubas begonnen?

HUBERT SAUPER:
Mein ursprünglicher Plan war, den Film im Pazifik zu drehen, eventuell auf den Philippinen. Bei der Recherche habe ich herausgefunden, dass Havanna für ein halbes Jahrhundert – von 1898 bis zur kubanischen Revolution – eine nordamerikanische Stadt auf einer tropischen Insel war. Ein weiterer Aspekt, der mich beschäftigte, war eine europäischen Erfindung – Utopia. Dieses Konzept hat viele Variationen hervorgebracht, eine davon ist der American Dream, eine andere die Kubanische Revolution; das sind keine gegensätzlichen Begriffe, sondern entspringen beide derselben Grundidee. Wenn man diese Ansätze weiterverfolgt, dann kann man verstehen, dass eine junge Frau in Havana, in einem Atemzug sagen kann, Imperialismus sei etwas Verdammenswertes und ihr größter Traum sei, Mickey Mouse zu treffen. Epicentro ist für mich kein Film über Kuba, sondern einer über das unglaubliche Konstrukt, das wir uns seit über hundert Jahren in Europa und den USA zurechtstricken, und zwar mit unseren Methoden der Auto-Propaganda – damit meine ich in erster Linie das Kino, aber auch die klassischen Informationsmedien. Die DNA unseres Denkens ist das Produkt von einem Jahrhundert Self-Persuasion, die auf einer Wertestruktur basiert, die u.a. bewusst und unbewusst von Hollywood transportiert wird. Wir sind alle ein Produkt davon.


Wie geht man dann als Filmemacher mit dieser Erkenntnis um die manipulative Kraft der Bilder und damit seines eigenen Mediums um? Wie hat dieses Wissen den gesamten Filmprozess begleitet?

HUBERT SAUPER:
Mir fällt gerade der Vergleich ein, dass man mit einem Stift und einem Blatt Papier ein Gedicht oder ein Todesurteil niederschreiben kann. Meine Filme werden gerne als Dokumentarfilme bezeichnet, ich mag den Begriff nicht, weil er etwas von Wahrheitsbehauptung hat, die ich für belastend erachte. Ich ziehe den Begriff Non-Fiction-Film vor, weil jeder Dokumentarfilm eine Manipulation der Wahrheit ist. Man kann nicht jahrelang einen Film in Kuba drehen und dann behaupten, in zwei Stunden ein Kuba vorzulegen, wie es tatsächlich ist. Ein Film ist immer ein synthetisches Produkt. Ich bin ein Teil der Kultur, die ein solches Produkt hervorbringt. Natürlich ist das interessant, ein manipulatives Medium mit den Mitteln der Manipulation zu beschreiben. Nicht mehr und nicht weniger. So ist es. Nicht nur physische Manipulation. Ein Film transportiert keine reale, sondern eine komprimierte Zeit, die aus einem monatelangen Montageprozess hervorgeht. Es ist ein Machwerk sondergleichen. Das Fly on the wall-Prinzip ist ein legitimer Zugang. Ich kann vom Hotelfenster aus rein beobachtend arbeiten und Bilder wie von einer Drohne schaffen. Es gibt auch Autoren, die filmen, als ob sie nicht da wären. Ich finde das nicht gut. Ich bin in meinem Film nicht nur mit meiner Kamera da. Man hört im Film ständig meine Stimme, jeder Mensch, der in meinem Film vorkommt, ist jemand, den ich ausgesucht habe und es gibt sogar Situationen, wo ich selber im Bild bin – ich bin dann ein Teil der so genannten Realität, die ich beschreibe. Ich stehe dazu. Oona Chaplin war nicht zufällig in Kuba, sondern sie ist gekommen, weil ich sie angerufen habe. Sie hat diese Kinder nicht zufällig getroffen, sondern sie aus meinen Videos bereits gekannt und deshalb Lust gehabt, sie zu treffen. Und so weiter. Meine filmische Arbeit ist im Grunde nichts anderes als ein riesiger Manipulationsprozess. Dennoch ist meine Arbeit noch einmal etwas ganz anders, als wenn man eine Szene als echte Kriegsszene verkauft, die in Wirklichkeit in einer Badewanne inszeniert worden ist und die nicht nur von geopolitscher Relevanz ist, sondern auch Menschen in den Krieg treibt. Das ist eine andere Schuhnummer. Ich versuche mit meinem Film nicht nur aufzudecken, dass die Amerikaner vor hundert Jahren Fake News produziert haben, sondern ich versuche in meinen Filmen in erster Line den Prozess der Erkenntnisgewinnung zu reproduzieren. In der Recherche habe ich in den Archiven Bilder von Exekutionen von kubanischen Rebellen ausgegraben. Ich war schockiert und habe mich gefragt, wie es möglich gewesen sein kann, diese Bilder – nichts weniger als Mord – vor 120 Jahren live mitzufilmen. Und dann habe ich entdeckt, dass es gestellte Bilder waren. Ich wollte aber nicht als Hubert Sauper die Wahrheit vorführen, sondern dass wir gemeinsam im Kino sitzen und mit den Kindern den Prozess erleben und langsam erkennen, wie das Kino damals operationell war. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie es für die Menschen gewesen sein muss, als sie Bilder, die sich wie Geistergebilde über die Leinwand bewegten, erstmals erlebt haben. Wie das echte Leben, aber eben nicht echt. Das hat etwas Dämonisches und Phantastisches. Laufende Bilder stellten etwas noch nie zuvor Gesehenes dar. Und wenn man dann eine Seeschlacht mit Schiffen, die einander beschießen, Flammen und untergehenden Schiffen zu sehen bekommt, dann muss das eine Faszination ausgelöst haben, die man sich heute gar nicht vorstellen kann. Wenn man sich dann aber vor Augen führt, dass das Ganze in einer Badewanne mit kleinen Modellschiffen und dem Rauch von Zigarren fabriziert worden ist, dann ist das nochmals eine Nummer ärger. Ich möchte den Moment, wo ich das entdecke, als Erfahrung festhalten und so übersetzen, dass ich diese Erfahrung im Kino mit dem Publikum teilen kann.


Für diese Art von Film braucht es einen großen Faktor Zeit. Wieviel Zeit haben Sie dort verbracht, um Menschen zu begegnen und um sich ein Bild zu machen?

HUBERT SAUPER:
Es ist allen meinen Filmen eigen, dass ich mir jedes Mal selbst eine Herausforderung auferlege und mich Themen stelle, die für mich allein und einen Kinofilm eigentlich eine Nummer zu groß sind. So vieles in zwei Stunden zu erklären, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es gehört zu meinem Ansatz, komplexe Zusammenhänge nicht durch Spezialisten erklären zu lassen. Ich kann es nicht ausstehen, Universitätsprofessoren (die im besten Fall vor einer Bibliothek sitzen), zuzuhören, wie sie uns die Welt erklären. Deshalb muss ich sehr lange recherchieren, um meine Zugänge, Perspektiven und Methoden zu finden, die die komplexen Gefüge sichtbar machen. Interessanterweise komme ich immer wieder auf Kinder, die meist in einem Alter sind, wo es gerade zu einem politischen Erwachen kommt, wo aber auch die Kindheit noch spürbar ist. Sie sind für mich „truth speakers“ oder „young prophets“, wie ich sie in Epicentro ironischerweise genannt habe. Wenn ein 12-jähriges Kind, das 30 Generationen Sklaverei entspringt und noch dazu in der Situation der direkten Repression ist, sagt, dass der Chef des Weißen Hauses (Anm. gemeint ist hier die Ära 2016-2020) ein Rassist sei, dann hat das ein anderes Gewicht.
Ich habe so viel Zeit, wie ich mir nehme und ich es selber aushalte. Ich nehme mir, ganz ehrlich gesagt, immer ein bisschen mehr Zeit als ich mir leisten kann und komme aus jedem Film immer in einen unbeschreiblichen Zustand, ob nun in finanzieller oder auch in psychischer Hinsicht. Aber der Film ist dann auf der Leinwand und macht seinen Weg in die Welt und das ist wieder so inspirierend… Allein die Tatsache, dass es die Möglichkeit gibt, zu einer Institution zu gehen, zu sagen, ich brauche mehrere hunderttausend Euro und in drei Jahren komme ich vielleicht mit einem Film zurück, ist faszinierend.


Ihre Protagonist*innen, sagen Sie, sind sehr genau ausgesucht, dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Kamera unterwegs sind und stets auch offen dafür, was Ihnen entgegen kommt.

HUBERT SAUPER:
Eine der Herausforderungen liegt darin, dass meine Filme sehr konzeptuell sind, aber so ausschauen, als würde ich die Leute zufällig auf der Straße treffen und zufällig mit ihnen über Geopolitik oder den Mond sprechen. So ist es aber nicht. Wenn sich jemand vor meiner Kamera geopolitsch äußert, dann gehen dem Nächte voran, wo ich mit ihm durch Havana gezogen und mich mit ihm über Guantanamo, Interventionismus und das Gedankenkonstrukt, das ja Thema des Films ist, unterhalten habe. Irgendwann sagt er dann, natürlich nicht ganz ernst gemeint, „We have to make the moon great again“. Dieser Satz ist dann im Film, er ist aber nicht zufällig gekommen, sondern ich habe ihn energetisch vorbereitet. Man kann nie wissen, was in einem Dokumentarfilm passiert, man kann aber gewisse Dinge antizipieren oder stimulieren. In gewisser Weise kann man Dokumentarfilme auch schreiben, bevor es passiert.  Mark Twain sagt sehr treffend, „History doesn’t repeat itself, but it rimes“, damit meine ich nicht nur die geopolitische Geschichte, sondern das Leben selbst. Man muss kein Prophet sein. Insofern kann man in meiner Methode, Filme zu machen, viel antizipieren und dann relativ präzis in der Wahl der Szenen werden. Je älter ich werde, umso leichter wird das. Andere Dinge werden schwieriger.


Was hat unter diesem Aspekt betrachtet der Tod von Fidel Castro bedeutet? Ein Geschenk für den Film oder auch ein antizipierbares Ereignis?

HUBERT SAUPER:
Hier ist genau das Gegenteil eingetreten. Fidel Castro war über 90 und sein Tod absehbar. Die ganze Welt hat erwartet, dass es irgendwann passieren würde. Der Großteil der Welt, der sich dafür interessierte, ich inklusive, haben gedacht, dass dieser Moment ein entscheidender Wendepunkt sein würde, nicht nur, was die Beziehungen zu den USA bedeutet. Die Rolling Stones gaben in Kuba ein Konzert, Barack Obama stattete einen Besuch ab.  Alle waren sich einig, dass nun alles anders werden würde. Auf diesen Moment habe ich als Filmemacher natürlich gewartet. Die erwartete Wende ist aber nicht eingetreten. Es war relativ ruhig. Nach Castros Tod wurde sehr wenig über ihn geredet. Barack Obama wurde wenige Wochen später durch einen Mann ersetzt, dessen Namen ich in Interviews lieber nicht ausspreche. Kubas Wandel ist ausgeblieben, ebenso wie die äußerlich sichtbaren Effekte von Castros Tod. Mir blieb nur übrig, die unsichtbaren, verinnerlichten Auswirkungen zu erfassen.


Der amerikanische Imperialismus verbreitet durch dessen Softpower Kino ist der eine Aspekt; ein neuer Imperialismus, der des globalen Tourismus, wird im Verlauf des Films ein immer stärkeres Thema.  Sie zeigen Touristen, die mit ihren Kameras frenetisch in den Köpfen bereits bestehende Bilder von Kuba reproduzieren. Wie geht man als Bildermacher mit einem ikonografisch so stark besetzten Ort um? Gibt es den Wunsch, Bilder gegen den Strich zu produzieren?

HUBERT SAUPER:
Es ist in Havana äußerst schwierig, ein Bild zu filmen, das nicht unverzüglich zum Klischee wird. Das gilt aber auch für andere Städte. Das Interessante an Klischees ist ja nicht die Tatsache, dass es sie gibt, sondern die Frage, woher sie kommen. Wenn man das analysiert, dann wird es wieder interessant und es erlaubt, Klischees in einem neuen Kontext zu fotografieren. Mich hat besonders die unglaubliche Parallele von militärischer und touristischer Intervention fasziniert. GIs, die bestausgerüstet mit Waffen in der Hand in Bagdad einfahren erzeugen für mich eine Parallele zu den amerikanischen Fotografen, die mit drei Teleobjektiven um den Hals durch Havana streifen. Einmal wird mit Kanonen, einmal mit Fotoapparaten geschossen. Taking pictures ist ein Teil der Kolonialkultur, es ist ein intellektueller Raub, von den Kulturen Bilder zu „nehmen“. Ich kann als fotografierender Europäer keine Position außerhalb dieses Kontexts finden. Auch ich nehme Fotos von dort mit und bringe sie ins Wiener Gartenbaukino. Natürlich versuche ich mir das bewusst zu machen, mir mehr Zeit zu nehmen und Momente zu finden, wo das „Nehmen“ ein Austausch ist. Als Dokumentarfilmer nimmt man im besten Fall nicht nur ein Foto weg, sondern man gibt den Personen, im Fall von Epicentro sind das wunderbare, brillante junge Menschen einen Moment der Existenz, ihre Stimme. Das Denken und Träumen der kleinen Lyoneli begeistert Millionen von Leuten im Kino auf der ganzen Welt. Das ist interessant.


Die Kinder, die die Protagonist*innen dieses Film sind, sind ja nicht nur „truth speakers“, sie verkörpern auch alle Widersprüche der vielschichtigen Manipulation, der sie über Schule und Erziehung in ihrem Land sowie die Bilderflut vom amerikanischen Lebensstil durch Film und Medien ausgesetzt sind. Sind Sie auch deshalb so interessant für Sie, weil so viele Projektionen in diesen jungen Menschen aufeinandertreffen?

HUBERT SAUPER:
Die Kinder sind im Kreuzfeuer der Propaganda. Es gibt für mich persönlich in jedem Film so etwas wie Sternstunden. In Epicentro war es gewiss der Moment, in dem Lyoneli zu mir sagt: „Gib mir dein Telefon“. Sie insistiert und irgendwann gebe ich ihr mein iPhone und sie beginnt vor meiner laufenden Kamera mit meinem Telefon einen Film zu machen. Ungeplant und wie aus Geisterhand kommt durch ihre Bewegungen und die Tatsache, dass sie den Film fast forward abspielt, Charlie Chaplin in den Kontext. Dieses Video habe ich Oona Chaplin geschickt und ihr vorgeschlagen, die Kinder kennenzulernen. Das war ein „magic moment“. Diese Magie ist aber nur möglich, wenn man ihr den Raum gibt. Lyoneli hat das nicht gemacht, weil ich sie gerade vorher getroffen habe, sondern weil ich über lange Zeit ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe und sie sich für mich als komischen Onkel aus Europa, der ein iPhone hat, interessiert, aber auch dafür, was ich ihr schon alles über meine Arbeit erzählt habe. In diesem Sinn ist etwas Wunderbares passiert, es ist eine Art Selffulfilling Prophecy eingetreten. Etwas, was Hollywood vorschlägt, passiert in Wirklichkeit oft in diabolischer Weise. Die Terroristen von 9/11 sind ja keine kreativen Typen, sondern haben es wohl bewusst oder unbewusst suggeriert bekommen, dass man mit einem Flugzeug in ein Hochhaus fliegen kann. Die Reise zum Mond ist 1903 von Georges Méliès antizipiert worden. Die NASA hat mit Apollo 11 nur ausgeführt, was Méliès im Kino bereits erfunden hatte. Bleibt die Frage, was die Wirklichkeit ist. Wenn man die Reise zum Mond bereits 1903 sieht, dann ist sie im Geist auch schon Wirklichkeit. Lyoneli erzählt, dass sie Schauspielerin werden und Filme machen will und in dem Moment macht sie das vor meiner Kamera. Lange wollte sie die Verbindung nicht herstellen, wenn ich ihr sagte: „Du bist doch gerade ein Filmstar.“ Vor einigen Wochen habe ich ihr Fotos aus Paris geschickt von Kinos, wo ihre Silhouette ganz groß zu sehen war, das hat sie schon beeindruckt.


Sie haben zuerst bereits betont, dass es Ihnen ein Anliegen ist, bewusst zu machen, dass Sie als Filmemacher Teil des Entstehungsprozesses und deshalb manchmal auch im Bild zu sehen sind. Was hat zur Entscheidung geführt, dass auch Ihre Stimme als Voiceover zu hören ist?

HUBERT SAUPER:
Grundsätzlich mag ich kein Voiceover, weil es im Dokumentarfilm meist etwas kommentiert. Im schlimmsten Sinne erzählt es das, was man ohnehin sieht. Die Passagen, in denen meine Stimme vorkommt, betrachte ich als Prolog bzw. Epilog. Ich halte es deshalb für wichtig, weil Epicentro ein Autorenfilm im pursten Sinn ist und man so den Autor auch schon kennenlernt. Meine Filme sind in den USA im Kino gelaufen und ich kenne eine Reihe von Hollywood-Stars, die mir angeboten haben, ihre Erzählstimme zur Verfügung zu stellen. Das kommt aus meiner Sicht aber nicht in Frage, auch wenn ich einen europäischen Akzent habe und eine berühmte Stimme das kommerzielle Potenzial des Films nochmals erhöhen könnte.


Sie entlassen die Zuschauer*innen mit Ideen vom Paradies. Welche Assoziationen vom Paradies stehen für Sie selbst am Ende des Films?

HUBERT SAUPER:
Utopie, Dystopie, Paradies, Nirwana – das sind alles Denkkonzepte oder religiöse Konzepte, die Teil unserer Zivilisation und unserer Narrative sind. In dem Moment, wo man sie näher betrachtet, werden sie – intellektuell betrachtet – immer phantastischer und genau genommen immer lächerlicher. Das so genannte Paradies im religiösen Sinn als ein Garten voller Früchte, die wirren Darstellungen von einem so genannten idealen Ort sind so stark in uns drinnen, dass wir sie immer wieder zu reproduzieren versuchen. Bei Epicentro ist mir gedämmert, dass es das Paradies in der Örtlichkeit nicht gibt und nie geben kann. Aber vielleicht existiert es als Fragment von Zeit. Vielleicht ist das Paradies ein kurzer Moment, vielleicht erlebt man ihn kurz vor dem Tod, vielleicht ist es der Moment, der von den religiösen Menschen als das „ewige Leben“ bezeichnet wird. Ich glaube, dass das Kino eine magische Zeit im besten Sinn ist, weil man für zwei Stunden gemeinsam mit anderen Menschen in eine andere Zeit und andere Welt transportiert wird. Das ist an sich etwas Magisches. Vielleicht ist das Kino übersetzt etwas wie ein kurzer paradiesischer Moment oder eben nicht oder eben die Hölle. Utopie oder Dystopie liegen recht nah beieinander.


Interview: Karin Schiefer
Oktober 2020






















«Havana war die erste kosmopolitische Stadt dieses Planeten, wo Native Americans, Europeans und Africans nebeneinander gelebt haben. Alle Ideen, die mich für mein neues Filmprojekt beschäftigt hatten, sah ich auf dieser Insel konzentriert.»